Читать книгу Lost Island - Annika Kastner - Страница 5
Kapitel 2 - Hazel
ОглавлениеMüde schenke ich mir ein Glas Weißwein ein, trete damit hinaus in den Garten, der vom Licht der untergehenden Sonne in sanftes Rot getaucht worden ist. Wind spielt mit meinen Haaren und ich schaue mich um. Mein Garten, meiner. Das Gefühl, dass dieses Fleckchen mir gehört, ist unbeschreiblich. Ich lasse mir das Wort auf der Zunge zergehen. Meins! Etwas, das mir gehört, nach so langer Zeit – das gefällt mir. Es klingt so normal, wobei normal etwas ist, was mir seit einem Jahr fremd erscheint. Also genieße ich den Augenblick, bleibe stehen, mustere alles genau. Ich schaue, ob irgendwas, was zu meiner normalen Routine gehört, ungewöhnlich ist. Ich bin immer auf der Hut. Mir fällt nichts auf. Alles ist genauso, wie es sein muss, doch das Gefühl der Furcht ist allgegenwärtig. Wie eine zweite Haut ist es ein Teil von mir geworden, welche sich nicht abstreifen lässt, was auch gut ist, denn es macht mich vorsichtiger. Misstrauen und Achtsamkeit bestimmen mein Leben, mein Fortdauern, um genau zu sein. Im Überleben bin ich mittlerweile eine Meisterin. Alles ist ruhig, demnach atme ich erleichtert ein, lasse mich auf einem der Holzstühle nieder, die ich im Onlinehandel unter einem falschen Namen bestellt habe, denn mein altes Ich ist an jenem Tag mit Dr. Conner gestorben. Meine Beine lege ich auf dem Stuhl ab, der mir gegenübersteht, woraufhin ein zufriedenes Seufzen meinem Mund entfährt. Meins! Wann habe ich mir zuletzt solchen Luxus gegönnt, etwas wirklich meins zu nennen oder an eine richtige Zukunft zu denken? Ein waghalsiger Gedanke.
Ein Jahr auf der Flucht hat vieles verändert, aus mir eine andere Person gemacht. Kaum sitze ich tiefenentspannt da, legt Storm ihren großen Kopf auf meinen Schoß. Meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. Sachte streiche ich meinem Hund über das weiche Fell, genieße die Nähe, jenes Wissens, dass ich trotz allem nicht alleine bin. Nicht mehr. Seit ich sie vor elf Monaten in mein Leben gelassen habe, gibt Storm mir ein Gefühl der Sicherheit. Sie ist eine Kämpferin und genau wie ich eine Überlebende. Exakt einen Monat, nachdem ich mein altes Leben hinter mir lassen hab müssen, haben wir uns getroffen.
Ich presse die Lippen zusammen. Ungern denke ich darüber nach, was ich verloren habe. Noch viel weniger an diesen speziellen Tag, der Auslöser für all das gewesen ist. Die furchtbarsten Stunden meines Daseins. Der Tag, an dem ich meine Freunde, meine Existenz und mein Leben verloren habe, nur weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen bin. Was ich hingegen seit zwölf Monaten nicht verloren habe, ist die Angst. Sie sitzt wie ein Schatten in meinem Nacken, verhöhnt und ermahnt mich zu gleichen Teilen. Aber ist es nicht besser, in Angst zu leben, als tot zu sein wie Dr. Connor? Manchmal weiß ich die Antwort nicht. Je nachdem, wie der Tag gewesen ist, oder in welchem schäbigen Motel ich gerade aufgewacht bin. Es hat Tage in diesem Jahr gegeben, an denen ist es definitiv verlockender gewesen, tot zu sein. Ich bin nie der ängstliche Typ gewesen – und jetzt? Der kleinste Schatten jagt mir schreckliche Furcht ein, ich hasse es. Hilflos … So kenne ich mich nicht. Im Gegenteil. Ich bin immer stolz darauf gewesen, so eigenständig zu sein. Ich habe alles im Griff gehabt, bin dabei gewesen, erfolgreich durchzustarten. Würden meine Freunde mich überhaupt wiedererkennen? Ich, die einst für jeden Spaß zu haben gewesen ist, versteckt sich nun am liebsten in ihrem Haus. Türen und Fenster fest verschlossen. Es widerstrebt mir ja selbst, aber was soll ich tun, wenn die Furcht größer ist? Ich weiß, dass ich mich in einem Trauma befinde, doch der Schuldige ist auf freiem Fuß und ich bin nicht bereit, zu sterben. Ich kann kaum zu einem Arzt gehen, ohne zu viel preiszugeben. Wie soll ich das also verarbeiten? Nein, er würde mich finden, denn ich weiß nicht, wer noch alles auf der Gehaltsliste dieser Organisation steht. Früher bin ich auf die Menschen zugegangen, mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ich bin gesellig gewesen, kommunikativ, und habe Spaß am Leben gehabt, es genossen. Heute nehme ich die Beine in die Hand, wenn mir jemand zu nahekommt. Allein, aber sicher, denn ich kann niemanden trauen. Woher soll ich letztlich wissen, wer zu ihnen gehört und dass man mich nicht hinterrücks verrät? Ich habe meine Konten über Nacht online aufgelöst, alles, was ins Auto gepasst hat, mitgenommen und dann bin ich innerhalb kürzester Zeit verschwunden. Jeglichen Kram, der mir in die Finger gekommen ist, habe ich zu Geld gemacht, um mich über Wasser zu halten. Das Gute an meinem vorherigen Lebensstil ist gewesen, dass ich durch das Studium sehr sparsam gewesen bin. Da kommt einiges zusammen, auch das Erbe meiner Eltern. Mit diesem Geld bin ich vor dem, was ich gesehen habe und vor dem Mann, der Dr. Connor und ebenso unseren Patienten kaltblütig ermordet hat, geflohen. Niemand wird mir das je glauben. Wem soll ich vertrauen, wenn sogar die Polizei korrupt ist? Ich habe immer gedacht, so etwas passiert nur in Filmen. Filme, die ich früher gerne gesehen habe wohlgemerkt, weil ich es für pure Fiktion und nicht für die Realität gehalten habe. Jetzt, wo ich selbst mitten in einem stecke, brauche ich solche Filme nicht mehr. Mir ist auch bewusst, dass nicht alle Polizisten so sind, aber wie soll ich die Guten von den Bösen unterscheiden? Sie haben wohl kaum ein Zettel auf der Stirn kleben, der mir dabei helfen wird. Ich weiß, dass sie nach mir suchen. Es ist überall in den Nachrichten gewesen, auf jedem Sender und in jeder Zeitung des Landes. Sie suchen mich als wichtige Zeugin, erhoffen sich Details, was an jenem Tag geschehen ist. Details, die nur ich ihnen liefern kann, aber nicht werde. Sie wissen, dass ich etwas gesehen habe. Warum bin ich sonst verschwunden? Es wird spekuliert, ob ich zu der Gang gehöre, ein Opfer oder bereits tot bin, vergraben an einem unbekannten Ort. Sollen sie das ruhig denken. Nur er weiß, dass ich es nicht bin, denn niemand außer ihm hat das Interesse, mich tot zu sehen – ich weiß schließlich, wer er ist. Ich habe ihn im Fernsehen erkannt, heuchelnd und schuldbewusst gestanden, dass er kurz auf der Toilette gewesen ist. Lügner. Seine versteckte Botschaft an mich, wie er laut und deutlich zu der Presse gesagt hat: »Sollte sie noch leben, werde ich sie finden.« Ich weiß, er wartet nur darauf, dass ich einen Fehler mache. Dann wird er vor meiner Tür stehen, um mich zu holen. Aber ich bin nicht dumm und versuche, Fehler zu vermeiden. Bis zum heutigen Tag bin ich darin sehr erfolgreich. Dass ich noch lebe, ist der beste Beweis, oder? Schwachstellen kann ich nicht riskieren, dafür lebe ich, wie gesagt, zu gerne. Selbst in Angst. Außerdem zählt Storm auf mich.
Ich blicke meinem Hund in seine braunen Augen, die mir treu entgegen schauen. Ja, ich werde gebraucht – ein schönes Gefühl. Ebenso, dass wir hier vorerst ein Zuhause haben. Zum ersten Mal seit dieser langen Zeit gönne ich mir dieses Stückchen Zuflucht und ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass mein Leben nicht immer so aussehen wird wie die letzten Monate, erreicht mich. Wer soll mich hier schon finden? Die Insel ist winzig. Zum Glück ist die Miete für das Haus spottbillig. Vermutlich, weil es klein ist, aber für mich ausreichend. Ich brauche nichts Großes oder Auffälliges. Stattdessen habe ich nach einem Ort gesucht, der abgelegen und sich weit weg befindet. Hier habe ich ihn gefunden. Eine kleine Insel mit wenigen Einwohnern, abgeschottet von der restlichen Welt. Die Uhren scheinen hier langsamer zu laufen, als auf der verbleibenden Welt. Hinzu kommt, dass ich die Miete bar zahlen kann, solange ich dem jeden Monat pünktlich nachkomme.
Meine Gedanken schwirren wild hin und her. Jetzt, wo ich den Schlüssel im Schloss zu der Tür mit den Erinnerungen in meinem Kopf geöffnet habe, rauschen die Bilder nur so heraus. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals runter, spüle mit einem Schluck Wein nach. Dr. Conners kalte Augen verfolgen mich jede Nacht in meinen Träumen. Ich habe das Gefühl, ihn durch meine Flucht zu verraten. Mary wird wissen wollen, was passiert ist, sie hat das Recht dazu, die Wahrheit zu kennen. Ich würde es an ihrer Stelle auch erfahren wollen, doch diesen Gefallen kann ich ihr nicht tun, geschweige denn, mein Beileid bekunden. Vor seinen Blicken in meinen Träumen bin ich machtlos, davor kann ich nicht weglaufen. Ein so gutmütiger Mann und dann dieser schreckliche Tod. Er hat es keinesfalls verdient, niemand hat das. So sehr ich versuche, die Bilder zu verdrängen, desto präsenter sind sie.
All das Geld, was für mein Studium bestimmt gewesen ist, ebenso all das Geld, was meine Eltern mir vererbt haben und das, was ich mir selbst zur Seite gelegt habe – es wird einige Zeit reichen, danach sehe ich weiter. Ich werde Gras über die Sache wachsen lassen, ehe ich mir vielleicht einen Job suche. Ein bis zwei Jahre kann ich so durchhalten, wenn ich sparsam bleibe. Ich habe mein altes Auto verkauft, an Menschen, die sich nicht mit Papieren aufhalten, und mir einen neuen Wagen angeschafft, von denselben Leuten, zusammen mit einem neuen Namen. Aus Hazel Summer ist Hazel Smith geworden. Ich weiß, es ist riskant, Hazel zu behalten, aber außer meinem Vornamen ist mir nichts geblieben.
Meine damals dunkelrot gefärbten Haare, sind heute naturblond, zudem viel länger als früher. Aus dem modischen Bob ist jetzt eine lange Mähne geworden, die weit über meinen Rücken hinabfällt. Manchmal erkenne ich mich selbst kaum wieder und doch bin es irgendwie immer noch ich. Wie kann ich mir so fremd sein?
Ich bin bis auf diese kleine Insel geflüchtet, hier kann ich für mich sein. Nur zum Einkaufen muss ich mein Grund und Boden verlassen. Seit drei Wochen bin ich jetzt hier, hoffe, dass ich mich irgendwann heimisch fühlen und mir wieder ein wenig mehr Leben aufbauen kann. Es ist so schwer gewesen, etwas zu finden, wo ich mich auch nur ansatzweise sicher fühle. Sicher? Lachhaft. Aber hier, Meilen um Meilen von dem Ort meiner Albträume entfernt, schaffe ich es möglicherweise, ein wenig zu mir selbst zu finden. Storm und ich. Du bist nicht alleine, erinnere ich mich. Mit einem müden Lächeln proste ich Storm zu: »Wir beide meistern das!« Er hebt den Kopf von meinen Beinen an, legt ihn schief zur Seite. Seine treuen Augen mustern mich aufmerksam. Was meine Grandma wohl macht? Sie fehlt mir am meisten, immerhin ist sie meine alleinige noch lebende Verwandte. Einzig durch mein Verschwinden ist sie ebenfalls in Sicherheit. Das ist alles, was zählt, egal wie sehr sie mir fehlt. Storm brummt, stupst mir mit der Nase auffordernd ans Bein. »Du hast schon wieder Hunger, was?« Er dreht sich aufgeregt im Kreis, woraufhin ich kichern muss. »Okay, verstanden.«
Motiviert stehe ich auf. Ab jetzt wird alles anders, und damit fange ich direkt an – ich werde mal wieder etwas Leckeres für mich kochen. Meine Kleidung ist viel weiter geworden, zu weit. Kummer und Angst haben mir den Appetit genommen. Das Essen an den Raststätten hat den Rest dazu beigetragen. Kummer schlägt mir auf den Magen, seit eh und je. Das liegt jetzt hinter mir, erinnere ich mich abermals. Ich trinke den Rest Wein auf Ex, nehme das leere Glas mit in die Küche, die schon bald nach frischen Kräutern, Knoblauch und Tomatensauce duftet. Meine Vorräte, die ich mitgebracht habe, gehen langsam zu Neige, also werde ich in absehbarer Zeit über meinen Schatten springen müssen und das erste Mal den Supermarkt der kleinen Insel aufsuchen. Das wird wohl mein größter Test werden: Einkaufen gehen wie jeder normale Mensch, auch wenn es mir Unbehagen beschert. Keine große Sache, das kann ich schaffen, denke ich, während ich eine Kerze anzünde und mich an den Tisch setze. »Willkommen in deinem neuen Leben«, murmle ich, ehe ich es mir schmecken lasse.
Vogelgezwitscher weckt mich am nächsten Morgen, während ein paar Sonnenstrahlen vorwitzig durch die Rollläden scheinen, dem Boden so ein neues Muster verpassen. Gähnend schaue ich zum Wecker, halte überrascht inne. Es ist fast neun Uhr. Wow, wenn das mal kein gutes Zeichen ist! Sonst wache ich immer viel früher auf. Wenn die Träume mich quälen, ist an weiterschlafen nicht zu denken, aber so spät? Wahnsinn. Ich fühle mich sogar ziemlich ausgeruht und erfrischt. Was ein Gläschen Wein und gutes Essen so bewirken kann! Ich strecke mich, genieße das Ziehen meiner Muskeln, schaue neben das Bett. Feixend mustere ich meinen Hund, der auf dem Rücken liegt, alle Viere von sich gestreckt und leise schnarchend. Dieser Anblick ist herzerwärmend, entlockt mir jeden Tag aufs Neue ein Lächeln.
»So ein Wachhund«, murmle ich mit erhobenen Mundwinkeln, schleiche kopfschüttelnd aus dem Zimmer, um Storm nicht zu wecken. Dieser Hund ist die reinste Schnarchnase – vermutlich gibt es ein Faultier unter seinen Ahnen. Aber er passt zu mir, sein Leben ist genauso hart gewesen wie meins. Er ist ein Kämpfer. Ich habe ihn in einem Straßengraben gefunden. Ein kleines dreckiges Häufchen Elend, welches zu stark zum Sterben gewesen ist. Seine Geschwister haben es nicht geschafft, nur er hat überlebt – vergessen vom Rest der Welt, weggeworfen in einer Kiste, zurückgelassen und nicht gewollt. Er trägt Spuren und Narben wie ich. Innerlich sowie äußerlich, denn ihm fehlt ein halbes Ohr, für mich ist er jedoch perfekt. Als ich ihn angesehen habe, ist mir sofort klar gewesen, er gehört zu mir und ich gehöre zu ihm. Das Schicksal hat gewollt, dass wir uns finden und uns gegenseitig helfen, zu überleben. Vielleicht ist es albern, ans Schicksal zu glauben, mag sein, aber ich will nicht für immer einsam bleiben. Storm gibt mir das Gefühl, nicht mehr allein sein zu müssen, er ist meine neue Familie. Vor allem liebt er mich, wie ich bin.
Tiefe Trauer überkommt mich, als ich an meine Freunde und meine Großmutter denke. An Silvi, meine beste Freundin, die hochschwanger gewesen ist, als ich verschwunden bin. Ich werde ihr Kind nie kennenlernen, dabei sollte ich die Patentante werden. Das ist nun ein anderes Leben. Ich unterdrücke die Tränen, beginne damit, mir Frühstück zu machen. Nacheinander schlage ich die Eier in eine Schüssel, füge Vollkornmehl hinzu und etwas Milch, einen Hauch Vanille und eine Messerspitze Backpulver, ehe ich langsam Pfannkuchen in der gusseisernen Pfanne ausbacke. Der Duft lässt meinen Magen knurren, mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, und hellt die trüben Gedanken auf. Nicht daran denken, sage ich mir immer wieder. Neues Leben! Nicht daran denken, denn das macht alles viel unerträglicher. Eine Devise, die ich wiederhole, um sie zu festigen.
Ich höre Krallen über das Laminat kratzen, gähnend trottet mein Hund in die Küche, als hat er geahnt, dass mir gerade die Decke auf den Kopf zu fallen droht. »Hallo, Schlafmütze.« Ich stelle Storm das Futter hin, woraufhin er wie ein ausgehungerter Löwe, der seit Wochen nichts gefressen hat, darüber herfällt. Ich lasse mich auf dem Küchenstuhl nieder, bestreue einen der Pfannkuchen mit Zucker, ehe ich genüsslich hineinbeiße. Verdammt, wie lecker! Ich bin ein Pfannkuchen-Junkie. »Was hältst du davon, wenn wir nach dem Frühstück zum Strand gehen?«
Storm hebt kurz seinen Kopf, sein Ohr wackelt. Ein kleines »Wuff« entfährt ihm, was ich als Zustimmung werte. Immerhin wohne in nun auf einer Insel, das sollte ich genießen, solange es geht.