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Kapitel 6 – Anwaltsbesuch im Tessin

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Die Blätter an den Laubbäumen färbten sich in warmen Gelb- und Brauntönen, bevor sie sich von den Zweigen lösten und spielerisch durch die Luft segelten, oder vom rauen Nordwind in alle Himmelsrichtungen gefegt wurden.

Marina stand zeitig auf, duschte und machte sich sorgfältig zurecht. Heute stand ihr das erste Treffen mit ihrem Tessiner Anwalt, Signore Mercanto, bevor. Sie hatte sich für ihn entschieden, weil sein Mitarbeiter Deutsch verstand und bei Bedarf zwischen ihnen übersetzen würde, falls ihre Sprachkenntnisse versagten.

Mit Handtasche und Aktenkoffer bewaffnet, stieg sie zu außergewöhnlich früher Stunde die Stufen hinab. Bei der Haltestelle wartete sie.

Lauerte.

Betete.

Schickte einen flehenden Blick zum Himmel.

Bitte, lass Herrn Hadebrecht dasselbe Postauto nehmen wie ich!

In dem Moment, als das Gefährt um die Ecke bog, stürmte er mit wehendem Mantel auf sie zu, begrüßte sie hechelnd wie ein Jagdhund in der Wüste.

Gespannt wartete sie ab.

Würde er sich wieder ganz nach vorne begeben und sie buchstäblich sitzen lassen, wie beim letzten Mal? Nein, er steuerte die Stehplätze in der Mitte an.

Unaufgefordert folgte sie ihm. Sie hielt sich an der Stange fest und stellte ihre Aktenmappe zwischen ihre bestrumpften Beine in den schwarzen Lederpumps.

»Haben Sie sich gut eingelebt bei uns?«, frage er sie erneut. Dieser Mann war so liebenswürdig ritterlich, wenn nur sein Gedächtnis besser wäre!

Wie ein Schwamm das Wasser sog sie seine Worte auf. »Ja danke, ich fühle mich nur manchmal etwas eingekesselt in der winzigen Wohnung, umgeben von all den Badezimmern und Toiletten.« Das war eine starke Untertreibung. »Besonders die altertümlichen Spülungen beeinträchtigen meinen Schlaf!«

»Möchten Sie nicht lieber in eine größere Wohnung ziehen?«

»Ich warte damit noch zu, da ich Teilzeit arbeite und mein befristeter Vertrag erst zu Monatsbeginn in einen unbefristeten umgewandelt wurde.«

»Ach so. Übrigens bin ich kürzlich verreist.«

»Das habe ich auch festgestellt«, platzte es ihr heraus. Verlegen wich sie seinem Blick aus.

»Kann man das so gut hören, werden Sie dann nicht durch Geräusche aus meiner Wohnung gestört?« Seine hinreißende Stimme nahm einen bestürzten Ton an.

Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte ihm doch nicht gestehen, sie sei beinahe süchtig danach. »Manchmal höre ich Sie summen, aber das stört mich überhaupt nicht. Ich bewundere Ihre gute Laune frühmorgens.«

Er wirkte überrascht. »Wie summen, so: la, la, la?«

Sie nickte. »Und so: hmmhhmmhh ... «

Sichtlich unangenehm berührt, behauptete er: »Aber ich summe doch nicht!«

Sprachlos schaute sie zu ihm hoch.

Wer, wenn nicht er, sollte der Mann sein, den sie so deutlich hörte, als befände er sich im selben Raum mit ihr? War es möglich, dass er es gar nicht merkte, oder genierte er sich, es zuzugeben?

»Ich höre Ihnen wirklich gern zu, empfinde bisweilen sogar eine neidische Regung, weil ich selbst morgens noch nicht so beschwingt bin. Aber sicher dringen auch Laute von mir zu Ihnen herüber?«

»Nein, aus Ihrer Wohnung höre ich nichts. Nur von den Nachbarn unter mir! Sonntagmorgens wird eine volkstümliche Sendung ausgestrahlt, die sie ziemlich laut aufdrehen. Zwar habe ich nichts gegen die Musik, aber es ist mir aufgefallen. Und ich vermute, jemandes Toilettenspülung auf meiner Hausseite sei defekt. Das kann ja kaum vom Duschen kommen, denn nach zehn Minuten würde das warme Wasser ausgehen!«

Sie krauste die Stirn. Sonntagmorgens hörte sie doch selbst ab und zu Volksmusik, in Erinnerung an die Wunschkonzerte aus ihrer Kindheit. Und meinte er etwa ihr eigenes Fitness-Ritual? Der morgendliche Wasserstrahl der Massagebrause auf ihre verspannten Muskeln half ihr, die Arbeitstage zu meistern.

Zum Glück verdächtigte er andere Hausbewohner.

»Heute fahre ich bis zum Bahnhof weiter«, sagte sie.

Wie schön wäre es, wenn er sie begleitete und sie beide am Nachmittag am Ufer des Langensees flanierten. Als ahnte er ihre Gedanken, schenkte er ihr einen tiefen Blick und behielt ihre Hand in seiner, während er ihr einen anregenden Tag wünschte.

»Das wünsche ich Ihnen auch«, erwiderte sie innig. Sie blickte ihm nach, bis das Postauto um die Ecke bog.

Ihr graute entsetzlich davor, die unerfreulichen Momente ihrer Ehe nochmals aufzurollen. Trotzdem blieb ihr keine Wahl, denn zwei Jahre nach ihrer teuren, nervenzehrenden, am Ende jedoch einvernehmlichen Scheidung von Jochen hatte dieser eine gerichtliche Klage gegen sie eingereicht: Auf Herabsetzung ihrer Unterhaltsbeiträge, die er monatlich überwies. Obwohl diese zeitlich begrenzt und so gestaffelt waren, dass sie die Möglichkeit hatte, sich eine Existenz aufzubauen.

Weil der Fall an Jochens Wohnort im Tessin behandelt wurde, sah sie sich genötigt, ebenfalls dort einen teuren Anwalt aufzusuchen. Es war wichtig, dass dieser sie vor Gericht in fließendem Italienisch vertrat, um sprachliche Missverständnisse auszuschließen.

Auf der Bahnfahrt vertiefte sie sich abermals in ihre Unterlagen. Diese überreichte sie Herrn Mercanto in der Kanzlei zusammen mit den aufgehobenen Belegen und Nachweisen mit den einleitenden Worten:

»Mein Ex-Mann hat mir strikt untersagt, während der Ehe zu arbeiten. Mit dem stereotypen Argument, er sei selbst imstande, seine Frau zu ernähren.« Bei der Erinnerung an ihre Auseinandersetzungen kroch eine Gänsehaut über ihre Arme. Sie rieb die Handflächen aneinander und fuhr fort:

»Nach fruchtlosen Debatten habe ich mich dem Frieden zuliebe seinen Wünschen gefügt. Jedoch hat mir die berufliche Herausforderung stets gefehlt.« Sie war nicht der Typ, der mit der Haushaltsführung im selben Masse aufblühte wie ihr Garten auf dem Dach der ehelichen Attikawohnung, die Jochen überdies statt zusammen mit ihr in Begleitung eines Freundes ausgesucht hatte.

Ihre Mundwinkel zuckten. Eigene Kinder waren ihr leider versagt geblieben, obwohl sie sich ein halbes Dutzend davon gewünscht hatte. So widmete sie sich verstärkt ihren Nichten und Neffen – und der Musik, die ihr half, ihre Gefühle zu kanalisieren und verarbeiten.

»Dann sind Sie während Ihrer Ehe niemals einer Erwerbstätigkeit nachgegangen?«

»Nein! Diese lange Abwesenheit vom Arbeitsmarkt hat sich als überaus nachteilig erwiesen. Während mein Mann ungehindert seine Karriere aufgebaut hat, habe ich wichtiges Know-how eingebüßt. Erst nach der Scheidung habe ich mithilfe von Wiedereinsteiger- und Informatikkursen meinen Wissensstand halbwegs aktualisiert.«

»Ich verstehe. Wie sieht Ihre Situation heute aus?«

»Dank meiner guten Sprachkenntnisse habe ich im Frühjahr erstmals wieder eine Teilzeitstelle angetreten, im Sekretariat einer privaten Fachschule für Touristik. Da meine Vorgängerin pensioniert wurde, arbeite ich mich in das Aufgabengebiet ein. Allerdings fehlt mir die Erfahrung und ich muss mir die notwendigen Informationen größtenteils selbst beschaffen, da die erforderlichen Arbeitsschritte schlecht dokumentiert sind.«

Marina seufzte erleichtert. »Mein Probeeinsatz ist jetzt in eine unbefristete Halbtagsstelle umgewandelt worden.« Sie beugte sich vor und blickte dem Anwalt eindringlich in die wässrigen Augen. »Aber ich benötige die Beiträge meines Ex-Mannes dringend, um meinen bescheidenen Lebensunterhalt zu bestreiten.«

»Das sehe ich ein. Haben Sie keine Aussicht auf eine Ganztagesstelle?«

Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Ich habe wiederholt den Wunsch geäußert, das Pensum zu erhöhen. Mein Vorgesetzter hat mich auf später vertröstet. Mir liegt jedoch viel daran, diesen Arbeitsplatz zu behalten und auszubauen. Ich möchte nicht nochmal von vorne beginnen, denn der Markt ist ausgetrocknet.«

Herrn Mercantos aufgedunsener Kopf schaukelte auf und ab. »Mit dem Börsenfiasko zeichnet sich eine längere Depression ab!«

Nach einer aufwühlenden Stunde einigten sie sich auf eine Strategie, wie sie die ihr zustehenden Alimente sichern könnte. Etwas zuversichtlicher als zuvor verließ Marina ihren Anwalt und dessen Mitarbeiter.

Auf der Piazza am Seeufer bestellte sie eine Lasagne. Mit allen Sinnen nahm sie die Umgebung in sich auf. Eine Föhnbrise trieb flockige Wölkchen am Horizont vorbei. Die bewaldeten Berge im Hintergrund bildeten einen reizvollen Kontrast zu der glitzernden Oberfläche des Langensees. Vor ihr flanierten Touristen in kleinen Gruppen oder Arm in Arm plaudernd am Ufer entlang, oder sie vertieften sich auf einer Bank in ein Buch.

Marina senkte die Lider und atmete durch. Hier konnte sie ihre Sorgen und Ängste getrost dem Wasser anvertrauen, das träge an die Mauern der Promenade schwappte. Und bald wieder forttrieb, fernen Ufern zu.

Auf dem Weg zum Bahnhof bummelte sie durch die kleinen, exquisiten Geschäfte. Im Zugabteil war sie wie benommen und trank etwas Wasser, bestürzt darüber, wie geschwächt sie seit ihrer Grippe noch war. Sie sank in die Polster und döste mit geschlossenen Augen.

Zu Hause stützte sie die Beine auf ein Keilkissen.

Im Garten hatte sich ein Vogel eingenistet, der ständig rief: Wüüühh? Wüüühh? Wüüühh?

Sie schnellte hoch, sank auf die Bettkante, bis das Schwindelgefühl sich legte, und schloss das Fenster.

Wüüühh? Wüüühh? Wüüühh, kreischte es weiter.

Sie hielt sich die Ohren zu. Hör auf, du dumme Kreatur! Hoffentlich lernst du bald von deinen Artgenossen, was ein echter Vogel ist.

Sofort befiel sie ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war seine Singstimme einfach nur verkümmert, weil ihm Vorbilder zum Nachahmen fehlten?

Nach einer Weile erhob sie sich, läutete an der Nachbartür und streckte Herrn Hadebrecht ein Glas Blütenhonig hin. »Für Sie, als kleines Dankeschön für Ihre verschiedenen Hilfeleistungen.« Die hatten sich in den vergangenen Monaten summiert.

Seine Augen leuchteten auf. »Danke sehr. Das war aber nicht nötig, ich helfe ihnen gerne, wenn ich kann.«

»Das ist nett von Ihnen. Ach und ... falls Sie sich doch mal beim Singen ertappen sollten: Denken Sie daran, ich höre es ebenfalls sehr gerne!«

Tanzkavalier Gesucht

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