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Kapitel 4 - Ein Hilferuf

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Mitten in der Nacht wachte Marina auf und griff sich an die Gurgel. Ihre Schleimhäute waren völlig ausgetrocknet, sie kriegte kaum Luft, weshalb sie durch den Mund atmete und husten musste. Sie brauchte dringend ein abschwellendes Nasenspray aus der Apotheke in der Stadt, die Meersalzlösung reichte nicht mehr.

Herr Hadebrecht fuhr offenbar täglich zur Arbeit in die Stadt, aber sie konnte doch nicht so früh bei ihm klingeln. Sollte sie ihn abfangen, wenn er die Wohnung verließ? Und wenn er sich beeilen musste, wie so oft in der Vergangenheit?

Gegen Morgen schreckte sein lautes Räuspern sie auf. Hastig schlüpfte sie in ihre Leggings, zog einen weiten Pullover an und eine lange Wolljacke darüber. Fieberschauer durchfuhren sie. Womöglich weckte sie die übrigen Bewohner auf, wenn sie gleich beim Nachbarn läutete, und das halbe Haus verfolgte mit, was sie im Morgengrauen mit ihm zu besprechen hatte. Es ließ sich dennoch nicht vermeiden! Sie kämmte ihre wirren Haare und lauschte nach drüben.

Erst hörte sie ihn gähnen, dann begann er lauthals zu trällern. Fassungslos starrte sie auf die Uhr. Mein Gott, es ist sechs! Ob er sich bewusst ist, wie viele seiner Eigenheiten diese Pappwand preisgibt? Die war natürlich nicht aus Pappe, sondern aus irgendeinem Material, aus dem hauchdünne Wohnungswände hergestellt wurden.

Endlich ließ die Geräuschkulisse vermuten, der fröhliche Sänger könnte gefrühstückt haben und angezogen sein. Mit fliegendem Puls huschte sie hinüber, klopfte an seine Tür und wartete. Hitzewellen jagten durch ihren Körper.

Nichts geschah, nur sein Singsang war zu hören – und gleich darauf das Rauschen des Duschstrahls.

Ihre Hand fuhr zum Mund, um den Entsetzensschrei zu ersticken, der ihrer Kehle entrann. Sie floh in ihre Räume zurück. In diesem Zustand konnte sie ihn nicht ansprechen, sie würde ihm schreiben – sogar mit Uhrzeit! Das war wohl die Quittung für ihre ironischen Gedanken, nachdem er ihr so förmlich mitgeteilt hatte, an welchem Tag die Bündner Woche verteilt wurde.

06.45 Uhr / Guten Morgen Herr Hadebrecht, bitte entschuldigen Sie, dass ich schon wieder an Sie gelange, mit einer ungewöhnlichen Bitte. Seit ein paar Tagen habe ich eine Grippe, wovon besonders die oberen Atemwege betroffen sind. Deshalb fehlt mir das Nasenspray XY, um die Krankheit in den Griff zu bekommen. Würden Sie es in der Stadt für mich besorgen und am Abend mitbringen? Ich wäre sehr froh darum.

PS: Würden Sie bei mir läuten, falls Sie es nicht kaufen können?

Die nächste Glutwelle erfasste sie. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn. Hastig steckte sie die Karte und einen Geldschein in einen Umschlag und schrieb seinen Namen darauf. Dann öffnete sie ihre Tür, schlich zu seiner hinüber und klebte die Mitteilung daran. Mit bang klopfendem Herzen tappte sie wieder zurück und wartete ... wartete.

Von den Fieberschüben war ihre Kleidung feucht geworden. Fröstelnd zog sie die Jacke über der Brust zusammen, rieb sich die Schultern und Oberarme und schlüpfte aus den Ärmeln, als Hitze sie durchströmte. Fünfzig endlose Minuten verstrichen, bis es bei ihr klingelte.

Das war er!

Ihre Nerven flatterten, als sie ihm mit klopfendem Herzen und fiebrig geröteten Augen öffnete. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, den Umschlag heimlich zu entfernen. Doch ihr wurde übel bei der Vorstellung, er könnte im selben Moment öffnen, weil er sie gehört hätte und nachsehen wollte. Wie würde sie dastehen? Quasi in flagranti ertappt, müsste sie ihm Erklärungen abgeben und seinen berechtigten Argwohn aushalten.

Da stand er im eleganten Reiseanzug, gewaschen und geplättet, den Aktenkoffer in der linken Hand. Sein Blick ruhte forschend auf ihr, einem schwitzenden Häufchen Elend. Alles an ihm strahlte liebenswürdige Anteilnahme aus.

Sie sank in sich zusammen.

Seine warme Stimme hüllte sie ein wie eine Kaschmirhaube, als er murmelte: »Es tut mir wirklich leid. Ich hätte Ihnen das Spray sehr gerne besorgt, gehe aber auf Dienstreise und komme erst am Wochenende zurück. Übrigens verwende ich das Produkt ebenfalls.«

Sie würgte an den aufsteigenden Tränen, brachte kaum ein vernünftiges Wort heraus.

Sein Blick wurde weich. »Ist es so schlimm?«

Sie senkte den Kopf, schluckte den Kloß im Hals hinunter. Kummer und Scham nagten an ihr, als sie mit zitternden Lippen nickte. »Ich habe eine Salzwasserlösung hier, aber die wirkt zu schwach«, sagte sie erstickt. Hastig wischte sie eine verräterische Träne aus dem Augenwinkel.

Er deutete auf die Nebentür: »Zögern Sie nicht, sich dafür an die Damen Caduff und Spillmann zu wenden.«

Wieder nickte sie nur.

Bedauernd hob er die Schultern, verabschiedete sich von ihr und hastete die Treppe hinunter.

Kaum hatte er sich abgewandt, drängten die Tränen mit Macht herauf. Sie schluckte sie alle hinunter. Ich kann jetzt nicht losheulen, sonst höre ich nicht mehr auf.

Ihr Nachbar kehrte kurz in seine Wohnung zurück, worauf er endgültig das Haus verließ. Hatte er etwas vergessen oder nachgeschaut, ob er eine Reservepackung besaß, die er ihr hätte abgeben können? Hoffentlich verpasste er ihretwegen nicht noch den Zug, das könnte sie sich nicht verzeihen.

Kraftlos sank sie in die Kissen und döste vor sich hin.

Gegen neun klopfte Frau Caduff bei ihr. »Meine Schwester und ich besorgen ihnen die Nasentropfen gleich. Benötigen Sie noch was vom Supermarkt?«

Sie bestellte einige Lebensmittel bei der freundlichen Dame, da sie nicht wusste, wann sie selbst wieder einkaufen können würde. Dankend nahm sie anschließend die Tüten entgegen, schlüpfte unter die Daunendecke und schlief bis zum Mittag durch. Danach vereinbarte sie einen Termin beim Hausarzt.

Marina erwachte ausnahmsweise nicht vom eigenen, sondern von Herrn Hadebrechts Husten. Prompt schlug ihr Herz Purzelbäume in der Brust. Hurra, er ist wieder da! Die sehr persönlichen Töne ihres Nachbarn überforderten sie beinah. Sobald sie seinen Bariton hörte, spannten ihre Sinne sich wie eine Feder. Etwas in ihr schwang mit, schwang ihm entgegen. Und dennoch ... Wenn er nur einmal wieder ein echtes Lied sänge, anstelle der ungereimten Melodien!

Ihr Lächeln gefror. Bin ich noch bei Verstand, mich zu freuen, wenn der Typ sich durch seine spezifischen Laute bemerkbar macht? Und das, obwohl er mich jeden Morgen weckt, auch wenn ich frei habe! Auf keinen Fall verliebe ich mich in diesen – zugegeben – ausnehmend sympathischen und angenehmen Hünen!

Es war sicher nur seine freundlich zugewandte, in sich ruhende Art, die sie zu ihm hinzog. Dabei passten sie zusammen wie Elefant und Kalb. Dieser Mann war annähernd zwei Meter lang, sie müsste ihn ja bitten: »Würden Sie mich mal hochheben, damit wir auf Augenhöhe miteinander kommunizieren können?« Zu diesen ausdrucksvollen grünen Augen hoch, die sie oft so forschend ansahen. Sie könnte endlich mal seine kühne Nase, den goldstoppeligen Dreitagebart und sein Mienenspiel beobachten, ohne den Kopf in den Nacken zu legen. Ein zaghaftes Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. Vielleicht mit den Fingerspitzen seine Lippenkonturen nachziehen und durch die Igelfrisur fahren? Und sich in seine starken Arme schmiegen ...

Unwirsch schnalzte sie mit der Zunge. Hatte sie nicht zur Genüge erfahren, dass äußere Größe und Stärke keine Garanten sind für die Geborgenheit, die sie bei einem Mann zu finden hoffte? Vor Jahren hatte ein vergleichbarer Typ ihre Sehnsucht geweckt: Jochen, ihr Ex-Mann, in den sie sich bis in alle Ewigkeit verliebt hatte. So glaubte sie damals. Aber Jochen gab ihr die ersehnte Sicherheit nie, auch während der Ehe nicht.

Was also zog sie zu ihrem, mit seinem Singen viel Zufriedenheit ausstrahlenden, Nachbarn hin? Er konnte ein liebenswerter und gebildeter Partner sein. Ein treuer und anhänglicher Gefährte, der dankbar war für ehrlich empfundene, zärtlich und respektvoll gelebte Liebe.

Doch was wusste sie schon von ihm? Was war, wenn er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlte? Was, wenn er nicht bindungsfähig war oder pädophile Neigungen hatte? Die dunklen Geheimnisse der Männer hingen in den meisten Fällen mit ihrem Sexualleben zusammen. Sie war nicht naiv und wusste, wofür die Menschen – und Männer im Besonderen – Vorlieben und Neigungen entwickeln können.

Wo war die Wurzel des Übels? Lag es an der Wahl des Partners, wenn Frau oder Mann sich in einer Beziehung nicht vertrauensvoll eingeben, ihre oder seine Lust nicht ausleben konnte? An Liebesentzug, fehlender Wertschätzung und Ausbeutung in der Kindheit? Oder an überholten Wertvorstellungen (die Frau sei dem Manne untertan und stets zu willen)? Solche Überlegungen kreisten in ihrem Gehirn, bis sie in ein verwirrendes Traumreich hinüberschlummerte. Am Morgen verscheuchte die frische Bergluft auch die letzten Keime aus ihrem Krankenlager. Sie trat auf den Balkon hinaus und wagte einen Blick zu seinem hinüber.

Am Vorabend hatte sie sich notgedrungen aufgerafft und war im Supermarkt einkaufen. Sie schleppte sich mit ihren vollen Tüten die letzten Stufen hoch, als die Haustür sich öffnete und sie feste Männerschritte hinter sich vernahm. Ihr Herzschlag setzte einmal aus und begann dann hemmungslos zu rasen.

Das musste er sein. Diese Chance würde sie sich um nichts entgehen lassen! Sie schloss ihre Wohnung auf, stellte ihre Last in den Flur und wandte sich dem Treppenabsatz zu, um die letzte Tüte aufzunehmen.

Da kam er schnaufend um die Ecke. »Frau D'Amato, ich hoffe, sie sind wieder wohlauf? Haben sie das Nasenspray noch erhalten?« Er deutete eine Verbeugung an, sein Blick aus jadegrünen Augen tauchte in entlegene Winkel ihrer Seele. Bildete sie es sich nur ein, oder betrachtete er sie eine Spur prüfender und teilnehmender als sonst?

Erkennt er etwa, was ich für ihn empfinde? Sie senkte die Lider. »Danke ja, nur die Muskelschmerzen habe ich nicht restlos verscheucht.«

»Vergangene Woche hatte ich auch rheumatische Beschwerden, das liegt wohl am Wetter. Müssen Sie jetzt noch in diesen Regen hinaus?« Seine warme Stimme wehte wie eine Liebkosung zu ihr hinüber.

»Nein, ich komme von dort.« Widerstrebend nahm sie ihre Tasche auf, denn sie hätte sich gern länger mit ihm unterhalten, doch ihr fiel einfach nichts Kluges ein. »Schönes Wochenende noch«, murmelte sie.

»Das wünsche ich Ihnen auch, erholen Sie sich gut!«

Marina straffte die Schultern, als sie sich an jene kurze Unterhaltung erinnerte. Es war höchste Zeit, dass sie wieder arbeiten ging, um auf andere Gedanken zu kommen. Außerdem wartete im Büro bestimmt längst seine Antwort auf die E-Mail-Nachricht, die sie ihm vor über zwei Wochen übermittelt hatte. Diese Hoffnung gab ihr den nötigen Auftrieb, denn sie war noch arg geschwächt.

Tanzkavalier Gesucht

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