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Kapitel 3 – Ein Hochzeitsfall

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Leise Schnarchtöne wehten zu Marina hinüber, denn außer ihr saß nur noch ein alter Mann im Postauto, dessen Kopf haltlos über der Brust baumelte.

Durchs Oberfenster wehte das friedliche Geläut von Kuhglocken und begleitete sie auf dem Weg über den San Bernardino Pass ins südliche Tessin. Vor ihr breitete sich das grandiose Panorama der Bündner und Tessiner Alpen aus. Lichtreflexe tanzten über grüne Hügel und wiesen auf diese oder jene Sehenswürdigkeit hin.

Marinas Blicke glitten von den glitzernden Spitzen der Schneeberge über Tannenwälder und Bergwiesen und weiter talabwärts. Bis in den tiefen Schlund der Viamala-Schlucht, der sich seitlich vor ihr auftat und sie mitsamt dem Gefährt zu verschlingen drohte. Sie schauderte, als sie sich dort unten zerschellt liegen sah. Rasch wandte sie sich dem tiefblauen Horizont zu.

War das ein prachtvoller Tag zum Heiraten! Sie lehnte sich zurück und schloss die Lider. Am liebsten würde sie gleich an der nächsten Haltestelle aussteigen, einige Burgen und Schlösser besichtigen und im Schatten der Nadelbäume picknicken. Das blieb freilich Wunschdenken, denn an einem regnerischen Aprilabend hatte ihre Cousine Sophia sie angerufen:

»Am zweiten Freitag im Juli werden Remo und seine Marie-Jo endlich standesamtlich getraut. Wurde auch Zeit, die beiden wohnen lange genug zusammen. Aber was da auf Mike und mich zukommt, als Eltern des Bräutigams. Alle die Vorbereitungen und die Kosten!« In leicht verstimmtem Ton fuhr sie fort: »Obwohl die beiden darauf bestehen, im engsten Familienkreis zu feiern. Nur mit den Eltern, den Paten und Trauzeugen und natürlich Remos Schwester Felicitas.«

Sophias Stimme wurde lebhafter. »Aber Mike und ich spendieren nach der Trauung einen Umtrunk mit Häppchen für alle Gratulanten. Es werden nicht viele sein, weil Marie-Jos Familie von der Normandie stammt und kaum so weit reisen wird. Deine Brüder leben ja auch am Ende der Welt, aber du und deine Schwester Elena kommt zum Aperitif, oder?«

Ihre Brüder hatten vor Jahren ein lukratives Unternehmen in Osteuropa gegründet. Seither sah man sich alle Schaltjahre zu besonderen Anlässen.

»Stimmt, ich kenne Cornelius und Federico kaum noch, seit sie ausgewandert sind. Okay, ich bin dabei, und Elena vermutlich auch«, versprach Marina, als sie auch mal zu Wort kam.

»Gut, wir erwarten deinen Vater als Remos Pate und deine Mutter um halb zwei auf dem Zivilstandsamt. Du und Elena kommt dann gegen halb drei zum Aperitif in den Schlosspark«, schloss Sophia so bestimmt, dass Marina auf jeglichen Einwand verzichtete.

Nach der Berg- und Talfahrt im Postauto erreichte Marina leicht durchgeschüttelt den Zielbahnhof im Tessin, wo Ihre Eltern ihr vom Auto aus zuwinkten.

»Hallo, Mama, Papa, danke fürs Warten. Elena kommt später im eigenen Wagen, aber das wisst ihr sicher schon.« Sie hatte mit ihrer Schwester vereinbart, dass sie sich vor dem Standesamt treffen würden.

Nach einer liebevollen Begrüßung sank sie auf den Rücksitz des Personenwagens. Während sie zum Hotel fuhren, wo später die Hochzeitsfeier stattfinden würde, traf sich Ihr Blick im Rückspiegel mit dem ihres Vaters.

»Ist das eine gute Idee, dem Brautpaar persönlich zu gratulieren, obwohl ihr nicht eingeladen worden seid?«, fragte er im besorgten Tonfall.

»Ach Papa, heutzutage feiert man nicht mehr so konventionell. Ihr beide gehört zum erlauchten Kreis der Geladenen. Aber ich verstehe es, wenn Remo sich lieber eine tolle Hochzeitsreise leistet, als alle Onkels und Tanten und Cousins zu verköstigen. Ich habe die Fahrt genossen und freue mich, euch wiederzusehen.«

Sie parkten vor einem luxuriösen Hotel, vor dessen Eingang sich eine Traube elegant gekleideter Personen versammelt hatte. Die Damen trugen auffallende Hüte auf sorgfältig frisiertem Haar.

Marina beugte sich vor und sah neugierig hinüber. »Très chic! Vielleicht ist Marie-Jos Familie doch aus Frankreichs Norden angereist?«

»Schon möglich, Liebes, wir werden sehen. Lass uns erst das Hotelzimmer beziehen, damit Papa und ich uns frisch machen können«, meinte ihre Mutter lächelnd.

Nachdem sie sich eingetragen hatten, geleitete einer der Rezeptionsangestellten sie in die obere Etage.

Gegenüber richteten sich die Trauzeugen ein, ihre Cousine Brigitta und deren Gatte Daniel. Zwischen Kleiderschrank, Badezimmer und Gepäck kreisend, schaute Brigitta gehetzt auf, als sie Marina erkannte. »Ah, du bist auch hier. Könntest du mal nachfragen, wo Remos Eltern bleiben? Wir sollten bald losfahren, wenn wir rechtzeitig zur Trauung kommen wollen.«

«Ja, klar.« Marina hastete hinunter und wandte sich an den Kellner. Dieser wies sie in einen Raum mit rund zwanzig festlich gedeckten Tischen. Mit offenem Mund blieb sie im Eingang stehen.

Das nannte Sophia engster Familienkreis? Wie ein gefangener Vogel flatterte sie durch den Saal. In ein meergrünes knöchellanges Kleid gehüllt, das von einem silbern schimmernden Überkleid mit passender Stola ergänzt wurde, vermutete man eher die Schwester der Braut als deren Schwiegermutter. Ihr Gemahl Mike strahlte mit den Kristallgläsern um die Wette.

Marina atmete durch, bevor sie rief: »Hallo, man vermisst euch bereits, braucht ihr noch Hilfe?«

Sophias Miene hellte sich augenblicklich auf. Mit ausgebreiteten Armen stöckelte sie auf sie zu und drückte sie herzlich. »Marina! Wie schön, dass du frei nehmen konntest.« Sie spähte umher. »Bist du alleine?«

»Mama und Papa sind oben und ich treffe Elena später vor dem Rathaus. Aber was tut ihr denn noch hier? Die andern sind schon in Sorge.«

Die beiden verteilten mit Vornamen beschriftete Röllchen an jeden Sitzplatz.

»Ich helfe euch hier. Brigitta hat nach euch gefragt, weil sie gleich abfahren wollen. Wo habt ihr meine Lieblingsnichte versteckt?« Marina sah sich nach Remos jüngerer Schwester um.

»Felicitas ist mit Remo und Marie-Jo losgefahren.«

Eine halbe Stunde später stand Marina mit über hundert Gästen hinter dem Rathaus in der sengenden Sonne, weil das Zivilstandsamt neben dem Brautpaar nur Platz für die Eltern, Paten und Trauzeugen bot.

Vom Parkplatz her eilte Elena in einem luftigen Sommerkleid auf Marina zu und hängte sich bei ihr ein. »Hallo, ich habe dort hinten geparkt, weil alles besetzt war!« Sie sah sich um. »Sind sie noch drinnen?«

»Ja, wird wohl nicht lange dauern.« Marinas Blick wies auf die im Hof versammelten Leute. »Siehst du diesen Auflauf? Wir sind offenbar nicht die Einzigen, die das Brautpaar überraschen wollen.«

»Was, die gehören alle zu Remo und Marie-Jo?« Überrascht begrüßte Elena ihre Familienmitglieder. Mit gerunzelter Stirn nickte sie danach zu den vornehmen Gästen hinüber. »Sind das Bekannte der Braut?«

»Vermutlich.«

Brennend heiß flimmerte die Nachmittagssonne auf sie nieder. Mit ihren Einladungskarten fächelten sich die Damen unter den Hüten diskret Luft zu, während die Herren sich mit blütenweißen Taschentüchern den Schweiß von der Stirn tupften.

»Sieht aus wie Statisten in einem Stummfilm, die auf Regieanweisungen warten«, flüsterte Marina.

»Da ist was dran!«, kicherte ihre Schwester.

Gefühlte fünf Stunden später entließ der Trauungsbeamte das junge Paar. Keiner hätte vermutet, dass die in zartblauen Tüll gekleidete Braut mit dem glatten Teint und den hochgesteckten blonden Locken fast zwanzig Jahre älter war als ihr Gatte. Mädchenhaft scheu nahm Marie-Jo die Glückwünsche entgegen.

Irgendwann hauchten auch Marina und Elena Küsse auf die rosigen Wangen der frisch Vermählten: »Ganz herzlichen Glückwunsch. Und alles Gute auf eurem gemeinsamen Lebensweg.«

Marie-Jos verwundertes, aber bezauberndes Lächeln belohnte sie, ihre Stimme bebte leicht: »Merci bien, mes chères. Wie schön, dass ihr extra hergekommen seid.« Gleich darauf fuhren sie und Remo in der Hochzeitslimousine davon, denn die Verzögerung hatte das Programm durcheinander gewirbelt.

Die Gästeschar stob auseinander wie die wilden Hühner, um die Vorausfahrenden nicht aus den Augen zu verlieren. Immerhin warteten im Schlossgarten die Appetithäppchen, der Sekt – und der bestellte Fotograf.

Elena stupste sie. »Komm, wir müssen uns beeilen!«

Sie hasteten Richtung Parkplatz. Bis sie eingestiegen waren, hatte sich die ganze Gesellschaft verflüchtigt wie eine Luftspiegelung im flirrenden Wüstensand.

»Hey, die sind uns einfach davongefahren. Wie kommen wir nun da hoch? Wohl einfach der Nase nach.« Lachend steuerte Elena auf die Burganlage zu, die vor ihnen aufragte, und parkte bald darauf unterhalb der Festungsmauern. Mit den Geschenken auf dem Arm, stelzten sie die steile Gasse zur Pforte hoch.

»Wussten Remo und Marie-Jo überhaupt, dass wir zum Umtrunk eingeladen sind?«, brummte Elena.

Der Himmel schien sie auszulachen, denn er heizte ihnen gehörig ein. Marina zog ihr Bolerojäckchen aus und legte es sich über den Arm.

»Jetzt wünschte ich mir bequemere Schuhe. Dass die nicht mal auf uns gewartet haben! Das ist ja die reinste Stresshochzeit«, keuchte sie.

Unterwegs strebten weitere Spaziergänger zur Burg.

»Sind das auch Hochzeitsgäste?«, japste Elena.

»Keine Ahnung, ich kenne sie nicht!«

Im Eingang zum Hof sahen sie sich suchend um. Weiße Leinentücher bedeckten ellenlange Tischreihen zwischen grob gezimmerten Tannenholzbänken.

Frauen in der Tracht der Bediensteten von anno dazumal bewirteten die anwesende Gesellschaft. Einige schleppten irdene Krüge und antike Töpfe, andere räumten Blechgeschirr und Zinnbecher fort.

»Originelle Idee. Erkennst du jemanden?« Marina drehte den Kopf in alle Richtungen. »Ich glaube, unsere Familie hat sich schon wieder in Luft aufgelöst!«

Sie wandte sich an die nächste Kellnerin: »Bitte, wo befindet sich die Hochzeitsgesellschaft, die hier einen Umtrunk einnimmt?«

Die Frau musterte sie von oben bis unten, bevor sie den Kopf schüttelte. »Also, wir erwarten heute keine Hochzeitsleute. Das ist eine Klassenzusammenkunft!«

»Sind Sie sicher?« Erschrocken starrte Marina ihre Schwester an. »Was nun? Wo könnten die sein?«

Elena stieß einen zischenden Laut aus. »Jetzt reicht's mir aber!« Sie zerrte das Handy aus der Handtasche und tigerte über die Pflastersteine. »Hey Sophia, wo seid ihr eigentlich?«, knurrte sie gereizt in das schuldlose Gerät.

Marina heftete sich lauschend an ihre Fersen.

»Ach nein, ihr vermisst uns? Kein Wunder!«

Stille. Elena schüttelte den Kopf, ihre Stimme nahm einen ratlosen Ton an. »Ja, aber wo habt ihr euch bloß versteckt? Es hieß doch ...«

»Was? Das falsche Schloss?«, kreischte sie plötzlich. Zwei rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, als sie hörbar die Luft einzog und nun losbrüllte, dass die Klassenzusammenkunft die Hälse reckte: »Wie hätten wir das wissen sollen? Ihr seid ja alle davongerast, als sei der Leibhaftige hinter euch her«, tobte sie. »Also, wo sollen wir hinfahren? ... Aha, und wo liegt das?«

»Lass mich mal ran, ja«, schaltete Marina sich ein.

Etwas gedämpfter informierte Elena sie. »Sophia sagt, wir seien auf der falschen Burg. Sie besteht darauf, dass wir nachkommen.«

»Bah, keine Lust mehr! Lass uns dableiben und diese tolle Anlage besichtigen, statt uns weiter zu stressen.« Bis sie endlich am richtigen Ort angelangt wären, würde der viel gepriesene Umtrunk sowieso vorbei sein. »Sieh dir doch mal die grandiose Aussicht an, die wir hier oben haben!« Marina wies mit dem Kinn auf die Brüstung.

Elena legte die Hand aufs Handy und wisperte:

»Es ist ein Missverständnis. Wenn wir nicht fahren, ist Sophia gekränkt!«

»Na gut, aber hier wär's grad so schön und einen gemütlichen Schattenplatz hätten wir auch«, maulte sie.

Als sie im richtigen Schloss ankamen, posierten Remo und Marie-Jo auf einer Aussichtsplattform im Park für den Fotografen. Das Paar wirkte höchst beschäftigt und vergeudete keinen Blick an die beiden Nachzügler.

Ratlos blickten die Schwestern sich um. Wo hatte die restliche Gesellschaft sich wieder versteckt?

Da eilte Sophia aus einem Seitenweg auf sie zu und schleuste sie durch die Rosenranken. »Endlich! Es war doch immer die Rede von Schloss X, wie seid ihr bloß auf das Burgrestaurant gekommen? Marina, du hättest wissen sollen, wohin wir gehen, schließlich haben wir am Telefon darüber gesprochen!« Sophias graublaue Augen blitzten vorwurfsvoll in ihre Richtung.

Marina zog die Schultern hoch und breitete hilflos die Arme aus. »Äh - haben wir das?«

Mit gekrauster Stirn deutete Elena auf die Menge vor ihnen. »Was sind das alles für Leute Sophia? Mir hat Marina gesagt, nach dem Aperitif fände die Feier im engsten Familienkreis statt.«

Auf Sophias Wangen erschienen zwei rote Flecken. »Ich weiß, Remo hat es sich anders überlegt, um Marie-Jos Familie nicht zu verärgern. Sie geben nun doch einen Empfang heute Abend.«

Elenas Antlitz nahm einen grünlichen Ton an. »Was? Aber ich habe keine Einladung erhalten. Es hieß, wir sollen nur zum Umtrunk kommen. Ich habe den Kindern versprochen, dass wir noch einen Märchenfilm gucken, wenn sie brav sind!« Bemüht, die aufsteigenden Tränen zu verbergen, wandte sie sich ab.

»Eben, ihr seid für den Nachmittag eingeladen, und die übrigen Gäste nehmen an der Hochzeitsfeier teil. Ich wollte euch halt dabei haben«, druckste Sophia.

In diesem Moment löste Remos jüngere Schwester Felicitas sich aus der Gästeschar und kam lächelnd auf sie zu. Bei Elenas Anblick stockte sie und rief:

»He, du siehst aber gar nicht glücklich aus!«

Dies war Elenas Stichwort. Einem Dammbruch gleich stürzten die Tränen über ihre Wangen. Heftig schluchzend flüchtete sie zu den blühenden Sträuchern, wo sie binnen kurzem von Familienmitgliedern umringt und wortreich getröstet wurde.

Felicitas forschender Blick blieb an ihr hängen: »Hm, Marina, auch du wirkst nicht besonders happy!«

Jetzt bloß keine Seifenopfer vor diesem Publikum ... »Ach, das täuscht. Mir geht's gut!« Marina fasste sie bei den Schultern. »Lass dich anschauen, Mädchen. Du bist eine flotte junge Dame geworden. Wohnst du noch zuhause oder hast du deine eigene Bude?«

Plaudernd schlenderten sie weiter. Die Gäste bummelten zwischen den blühenden Sträuchern umher. Alle warteten auf das Brautpaar, um das Buffet zu stürmen und sich an den aufgetürmten Köstlichkeiten zu berauschen. Auf einer Seite der Tafel plauderte Remos Familie miteinander. Auf der anderen standen mit versteinerten Mienen die aus Frankreich importierten Gäste.

»Sophia«, flüsterte Marina und deutete diskret hinüber. «Weißt du, warum die nicht miteinander reden? Ich habe die Franzosen als ein kultiviertes und höfliches Volk kennengelernt, das très charmant miteinander kommuniziert.«

Mit verschwörerischem Zwinkern zischelte Sophia: »Ich glaube, die sind sich spinnefeind. Es heißt, der kinderreiche Gatte aus der einen Sippe sei mit einer wohlhabenden Witwe aus der anderen durchgebrannt.« Dann richtete sie sich auf und sagte halblaut: »Vielleicht liegt es an der Sprache? Jedenfalls kenne ich die Leute nicht und spreche selbst kaum Französisch.«

Keiner wagte es, Platz zu nehmen, solange die Hauptakteure sich nicht zu ihnen gesellten. Doch diese posierten in den Tiefen des Parks fürs Fotoalbum.

Längst war das Leeregefühl in Marinas Magen einem animalischen Heißhunger gewichen. Sie schielte nach den Delikatessen auf dem Tisch. Mmhh! Sie schnupperte mit geschlossenen Lidern. Die gefüllten Lachsröllchen lachten sie an. Oder die Kirschtomaten mit Basilikumblättchen und Mozzarella. Ihre Hand kreiste über den Platten, bereit zum Sturzflug.

Merkt doch keiner, wenn ich blitzschnell was davon stibitze! Innerlich aufstöhnend wandte sie sich ab. Der Käse schmilzt schon! Trotzdem darf ich nicht die Tafel eröffnen, wenn die anderen so tun, als kennten sie kein Hungergefühl.

Andererseits waren sie ausdrücklich zum Umtrunk eingeladen worden, oder? Keiner konnte von ihr und Elena verlangen, dass sie völlig ausgehungert das Feld räumten, nachdem sie eine halbe Tagesreise hinter sich hatten. Einer musste hier handeln, wenn Sophia und Mike der Mut fehlte.

Nachdem sie also eine halbe Stunde über Gott und die Welt geplaudert hatten, zwinkerte Marina Elena zu. Gemeinsam traten sie an die Tafel, wo das Personal hier und da etwas kunstvoll Angerichtetes auf den Silberschalen zu retten versuchte, das in der sengenden Hitze endgültig zu zerfließen drohte.

Die Schwestern stellten ihre Gaben auf die Gedecke des verschollenen Brautpaares und winkten Sophia, deren Gemahl Mike und Felicitas herbei.

Marina reichte ihnen je ein Glas mit lauwarmem Sekt, hob ihres hoch und rief fröhlich in die Menge: »Prosit, das Brautpaar lebe hoch, hoch, hoch! Lasst es euch schmecken!«

Als hätte jemand den Startschuss zu einem Genuss-Marathon abgegeben, attackierte die Festgesellschaft nun schreiend das Büfett. Wie eine Horde hungriger Geier schlang sie innerhalb von Minuten die traurig vor sich hinschmelzenden Delikatessen bis auf die letzten Bissen hinunter. Einige tunkten ihre Fingerkuppen oder vertrocknete Brotstücke in die Soßenreste.

Wenigstens war Leben in die Statisten gekommen. Selbst die verschnupften Franzosen vergaßen ihren Disput, ihre Mienen hellten sich mit jedem Glas Sekt mehr auf. Auf einmal konnten sich alle untereinander verständigen, und sei's nur mit Händen und Füßen.

Danach verabschiedeten sich Marina und Elena von ihren Eltern und der in einer Endloswarteschlaufe verharrenden Gesellschaft.

Marina küsste Felicitas Wangen. »Besuch mich doch mal in meiner neuen Wohnung. Wir könnten auch in die Stadt zum Einkaufsbummel fahren, wenn du magst. Ruf mich an, ich würde mich riesig freuen!

Die junge Frau versprach ihr, sich zu melden.

Sophia begleitete ihre Basen mit beschämter Miene bis zum Hofeingang. »Ich bin untröstlich, ich habe Remo gesagt, er solle euch auch einladen, aber er ...«

»Schon gut, es war eben ein Missverständnis. Dafür sind wir rechtzeitig wieder zuhause.« Marina umarmte sie noch einmal und winkte ihr nach.

»Sophia hat Recht gehabt, das ist keine gewöhnliche Hochzeitsfeier«, lachte sie und deutete zum Tor. Beim Eingang wartete ein dutzend weißer Hochzeitskutschen darauf, die geladenen Gäste zu einer Fahrt durch die Landschaft aufzunehmen. Unruhig scharrten die Pferdehufe auf den Pflastersteinen.

Doch das Brautpaar blieb verschollen.

»Du sagst es!« Elena straffte sich. »Wir machen uns jetzt einen schönen Nachmittag. Ich lade dich zu einem Eisbecher ein. Danach machen wir einen ausgedehnten Einkaufsbummel, es ist Sommerschlussverkauf!«

Gegen Abend schob Marina sich mit den Einkaufstüten auf eine freie Bank im Postauto, wo eine willkommene Brise durch das Oberlicht wehte. Seufzend streifte sie die Sandalen von den Füßen und ließ sich einlullen vom Brummen des Motors. Als sie die Augen aufschlug, entdeckte sie in der Anhöhe eine von Weinlaub überwucherte Turmruine. Aus der obersten Luke hatte bestimmt Rapunzel ihre Zöpfe heruntergelassen, um klammheimlich den Prinzen zu empfangen.

Marina stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Wäre ich doch am Morgen hier ausgestiegen! Ich hätte die Anlage besichtigt und mir was Hübsches ausgemalt: Ich als Burgfrau und Herr Hadebrecht als Burgherr beim gemeinsamen Ausritt und einem anschließenden Picknick zu zweit oder so ...

Zumindest hatte sie einen Rock gefunden, der beim Tanzen himmlisch mitschwingen würde. Ihre Finger glitten in die Tüte neben sich, tasteten über den glatten, in feine Plisseefalten gelegten Seidenstoff.

Zuhause befreite sie ihre geschundenen Zehen von deren Umklammerung. Dann goss sie Fruchtsaft in ein Glas, füllte es mit Wasser auf und trank hastig daraus. Was für ein Tag! Mit bleiernen Gliedern lehnte sie sich an die Kühlschranktür. Sie wollte nur noch ins Bett.

Da loderte ein Blitz in die Küche, gefolgt von einem markerschütternden Krachen. Ein Windstoß schleuderte den angelehnten Fensterflügel gegen die Wand.

Prustend stellte Marina das Glas ab, hetzte zum Fenster, kämpfte tapfer gegen die Sturmbö an und ließ die Rollläden herunter. Wie in Trance knabberte sie zwei Reiswaffeln, fuhr mit dem Waschlappen über Gesicht und Hals und schlüpfte ins Nachthemd. Im Bett schlief sie augenblicklich ein, trotz des garstigen Donnerwetters mit sintflutartigem Niederschlag.

Erst in der Morgendämmerung überfielen sie die Ereignisse vom Vortag wie eine Horde Hyänen. Sie weinte sich den angestauten Schmutz von der Seele und schlummerte bald weiter, bis ein melodisches Summen sie aus chaotischen Träumen befreite.

In Gedanken bei der bizarren Hochzeitsgesellschaft, wanderte sie am Samstagmittag kreuz und quer durch Wald und Flur. Die Natur befreite ihren Geist vom Ballast und entschädigte sie für die verpatzte Feier.

In der Nacht auf Sonntag erwachte sie jedoch aus ungereimten Phantasien und fasste sich stöhnend an den Kopf. Aaahh ... Sie massierte ihre Schläfen und hinter den Ohren, wo es hämmerte und bohrte. Vom eigenen Röcheln fuhr sie dutzende Male aus einer Art Dämmerzustand auf, wobei ihre Körpertemperatur auf neununddreißig Grad kletterte.

Schließlich richtete sie sich auf und sank stöhnend auf die Matratze zurück. Jemand hatte sie gerädert und gevierteilt! Vorsichtig rollte sie sich zur Seite. In kleinen, schaukelnden Bewegungen setzte sie ihr geschundenes Rückgrat neu zusammen. Wirbel für Wirbel renkte sich wieder ein. Im Zeitlupentempo quälte sie sich auf die Bettkante. Als sie jedoch auf ihre Wattebeine stand, sackte sie ein. Haltung bewahren, Marina, du hast nicht mal die Hälfte deines Lebens erreicht. Wie willst du die nächsten vierzig Jahre überstehen, wenn du jetzt schlappmachst, murmelte sie besorgt. Sie schlurfte ins Bad und duschte kurz. Dann machte sie ein paar Lockerungsübungen auf der Matratze. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn.

»Das reicht«, keuchte sie. Ihr fiel ein, dass sie sich im Büro abmelden musste.

»Du Arme, soll ich dir etwas einkaufen und am Abend vorbeibringen?«, fragte Ihre Bürokollegin Agnes am Telefon.

»Danke, das ist echt lieb von dir«, bedankte Marina sich heiser. »Habe zum Glück am Samstag noch eingekauft.«

»Dann wünsche ich dir gute Besserung. Pass gut auf dich auf und melde dich, falls du was brauchst!«

Marina dankte ihr und schlurfte in die Küche, wo sie Erkältungstee zubereitete. Sie stellte die Thermoskanne, Honig und Zwieback auf einem Tablett neben das Krankenlager und schlüpfte unter die Daunen. Bald fröstelte sie, bald warf sie schwitzend die Decke neben sich und zerrte sie gleich darauf bis über die Ohren hoch.

Die folgende Woche verbrachte sie zusammengekauert zwischen den Laken, inhalierte alle paar Stunden heißen Wasserdampf, schluckte Unmengen homöopathischer Globuli gegen Grippe und schlürfte literweise Tee. Hoffentlich wirkten die Heilmittel rasch, denn im Büro häuften sich die Aufgaben, die ihr keiner abnahm, wenn sie ausfiel. Doch die Krankheit zog sich hin. Besonders die Nächte waren so verstörend, dass sie sich sorgte. Heftige Glieder- und Rachenschmerzen, eine schmerzhafte Entzündung der Stirn- und Nasennebenhöhlen sowie eine Blasenreizung wechselten sich ab in ihrer Intensität.

Durch ein magisches Leuchten angezogen, fiel ihr Blick eines Abends auf das Fenster. Sie schälte sich aus den Laken und stieß einen Bewunderungsschrei aus. Die Atmosphäre draußen war einzigartig. Die Abendsonne tauchte die Berge vor ihr, Wald, Wiesen und die scharf umrissene Häuserkulisse in ein flammend rotes Meer. Ein Feuerball spielte mit Licht und Schatten, zauberte tanzende Lichtpunkte auf die Dächer, an die Fenster und zwischen die Bäume. Noch während sie die Momentaufnahme in sich aufsog, wich das brennende Rot einem matten lila Ton.

Der magische Augenblick war vorüber und sie schlüpfte wie berauscht unter die warme Decke.

Tanzkavalier Gesucht

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