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Kapitel 2 – Erste Symptome

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Einmal mehr hatte ein verführerisches Summen Marinas Sinne aufgewühlt, einmal mehr viel zu früh für sie. Sie hatte keine sieben Stunden geschlafen, dabei sollte sie morgen fit sein für ihren Teilzeitjob als Sekretärin an der privaten Fachschule für Touristik. Nach ihrer langen Berufspause stellte dieser für sie eine Herausforderung dar, trotz der Informatikkurse.

Marina wollte sich und ihrem Vorgesetzten Andrin beweisen, dass sie ihren anspruchsvollen Aufgaben gerecht wurde, obwohl sie nie angemessen eingearbeitet worden war. Sie fand im Büro weder Anleitungen noch Checklisten vor, die ihr die Tätigkeit erleichtert hätten. Einige Instruktionen und Hinweise hier, eine Anregung dort und die wenig aussagekräftigen Aktendossiers mussten genügen.

Seufzend lauschte sie nun den maskulinen Lauten, beschloss, cool zu bleiben und dafür am Abend früher zu Bett zu gehen. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, denn in der Regel blieb es bei der Absicht. Sie schaffte es einfach nicht, mit den Hühnern schlafen zu gehen und mit dem Gockel aufzustehen.

Inzwischen war sie sich ziemlich sicher, dass der sich räuspernde alte Mann nebenan und der unermüdliche Sänger ein und dieselbe Person sein mussten. Der Typ hat wohl sämtliche Töne für sich gepachtet, dachte sie in einem Anflug von Spott.

Er selbst blieb nach wie vor unsichtbar für sie, was ihr merkwürdig vorkam. Denn kurz nachdem sie ihr Mini-Appartement am Rande der Bündner Alpenstadt bezogen hatte, klebte sie einen Notizzettel an die nächstgelegene Wohnungstür:

Lieber Nachbar, liebe Nachbarin, vor wenigen Tagen bin ich in die Wohnung neben Ihnen eingezogen. Leider habe ich heute Abend bemerkt, dass an meinem Briefkasten ein Kleber mit Stopp keine Werbung angebracht ist. Deshalb vermisse ich jetzt den Wochenanzeiger. Haben Sie diesen erhalten? Wenn ja, darf ich ihn nachlesen, wenn Sie ihn nicht mehr benötigen? Das wäre sehr nett, vielen Dank im Voraus. Marina D’Amato

PS: auf gute Nachbarschaft, auch ohne Anzeiger!

Am folgenden Morgen haftete derselbe Zettel an ihrer Tür. Verblüfft löste sie ihn ab und las auf der Rückseite:

3. April 2008 um 23.45 Uhr

Sehr geehrte Frau D’Amato, auch ich habe an meinem

Briefkasten das Schild, dass ich keine Werbung wünsche.

Die Bündner Woche wird trotzdem verteilt, mittwochs.

Mit freundlichen Grüßen

Archibald Hadebrecht

Archibald Hadebrecht! Sie schnitt eine Grimasse. Der Mann war ja lebenslang gestraft mit dem altbackenen Namen, kein Wunder, drückte er sich so gestelzt aus. Den Ausgabetag des Wochenblatts hatte er so exakt doppelt unterstrichen, als zweifle er ihre Fähigkeit an, sich diesen zu merken. Herrje, was bitte sollten die förmliche Anrede, Datum und Uhrzeit auf einer Notiz?

Daneben klebte die Visitenkarte einer anerkannten Fachhochschule für Tourismus in der Stadt, wo sich auch die Touristikfachschule befand, in welcher Marina ihre neue Stelle angetreten hatte. So ein Zufall! Waren sie sich schon mal begegnet, ohne zu ahnen, dass sie nächste Nachbarn waren? Was stand da noch?

Dr. oec. Archibald Hadebrecht

Dozent und wissenschaftlicher

Mitarbeiter für Tourismusprojekte

Darunter waren sämtliche Koordinaten aufgeführt, mit Ausnahme seiner Privatadresse, die sie sowieso kannte. Fehlte nur noch das Geburtsdatum.

Marina verzog den Mund. Ihr Nachbar musste steinalt sein, sein Benehmen erinnerte an Zeiten, als Herren den Damen ihre Reverenz erwiesen. War es nur eine höfliche Geste von ihm, oder wollte er ihr seinen beruflichen Status unter die Nase reiben: Das bin ich – und was bist du?

Spontan wählte sie eine blütenweiße Karte, die sie mit einem Vermerk in makelloser Handschrift an seine Tür klebte:

Guten Tag Herr Hadebrecht. Vielen Dank für Ihre

freundliche Auskunft. Heute hatte ich den Anzeiger

im Briefkasten, ich war wohl etwas zu ungeduldig.

Freundliche Grüße, Marina D’Amato

Das genügte im Privatbereich, gleich morgen würde sie Andrin klarmachen, dass sie dringend Visitenkarten brauchte.

In der Nacht erwachte sie durch lautes Gepolter von nebenan. Sie fuhr hoch, tastete schlaftrunken nach dem Wecker und rieb sich die Augen. »Was, halb drei?«, ächzte sie.

War der Herr Dozent etwa so spät heimgekommen? Nein, offenkundig war er aufgestanden und rumorte eine gute Stunde lautstark in seinen Räumen. Danach hörte sie eine Woche lang nichts mehr von ihm, wie sie zufrieden registrierte. Die Ruhe im Haus war geradezu himmlisch. Endlich konnte sie durchschlafen, ohne von ständigem Räuspern und Lärmen geweckt zu werden.

Okay, sein beschwingtes Trällern fehlte ihr ab und zu ...

An ihrem nächsten freien Tag, Marina war gerade dabei, nach einer Aufräum- und Staubsaugaktion die Böden zu wischen, läutete es bei ihr. Als sie verwundert öffnete, stand ein imposanter Herr mittleren Alters mit rötlichblonder Igelfrisur im Türrahmen.

»Archibald Hadebrecht. Sie und ich hatten bereits schriftlichen Kontakt. Inzwischen bin ich von einer Woche Urlaub wieder zurück und wollte mich noch persönlich bei Ihnen vorstellen.« Er deutete eine Verbeugung an und streckte ihr mit einem verbindlichen Lächeln seine Hand hin.

Was, das war der alte Mann von nebenan? Marina riss die Augen auf, machte Licht und musterte den attraktiven Hünen im dunklen Anzug genauer.

»Ah, Herr Hadebrecht. Guten Tag! Sie kommen im richtigen Moment, um mich beim wöchentlichen Kehr zu unterstützen.« Der Gedanke, wie sie in ihrer Putzmontur aussehen musste, zauberte Farbe auf ihre Wangen. Sie pustete eine vorwitzige Haarsträhne aus ihrem Mundwinkel. Verstohlen strich sie über ihre Schürze, bevor sie ihre Fingerspitzen in seine Rechte legte.

Ein meergrünes Funkeln leuchtete in seinen Augen auf, als er den Kopf schüttelte. »Ich fürchte, ich kann ihnen da wenig helfen.«

Ein paar launige Worte flogen hin und her, bis er sich freundlich von ihr verabschiedete.

Sie wischte weiter. Der Mann hatte Augen! Dieses intensive, klare Grün. Wieso hatte sie die Gelegenheit nicht genutzt, ihm ein paar lebenswichtige Infos zu entlocken? Wenigstens hätte sie ihn fragen können, wie seine Ferien verlaufen seien – oder so.

Als sie anschließend im Gemeinschaftswaschraum ihre erste Wäsche waschen wollte, mühte sie sich mit der Technik der bejahrten Maschine ab. Wie setzte man dieses Ding in Gang? Entnervt suchte sie nach dem Hauptschalter. Himmel, ich bin doch nicht blind! Sie läutete im Erdgeschoß bei der Verwaltung. Als niemand öffnete, stieg sie die gefühlten zweihundert Stufen hoch und klingelte bei Herrn Hadebrecht. Leise Musik drang an ihr Ohr.

»Frau D’Amato, sorry, ich habe gerade eine Disc eingeworfen. Was kann ich für Sie tun?«

Sie rang nach Atem. »Bitte entschuldigen Sie, aber ich bin etwas in Verlegenheit.«

Ohne zu zögern, begleitete er sie in die Waschküche und zeigte auf die rechte Seite der Maschine.

Mist, wie hatte sie diesen Knopf übersehen können? »Oh, vielen Dank. Dann kann ich ja loslegen.«

Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln und ein Neigen seines Kopfes, bevor er sich entfernte.

Oben angekommen, durchsuchte Marina ihre CD-Sammlung nach einem bestimmten Musiktitel, denn sie brauchte jetzt Carmen.

Als sie und ihre drei jüngeren Geschwister noch kleine Knirpse waren, sangen ihre Eltern öfter mit ihnen und sie hörten sich jede Woche das Wunschkonzert im Rundfunk an. Ihr Papa schnappte sich die kleine Marina hin und wieder, um zu den Walzerklängen mit ihr zu schunkeln oder im flotten Polkatakt durch sämtliche Räume der Wohnung zu schwofen. Danach kam ihre jüngere Schwester Elena an die Reihe. Ungeduldig reckte sie die Ärmchen nach dem Vater. »Ena auch tanzen«, rief sie und krähte vergnügt, wenn er sie hochhob. Selbst ihre beiden älteren Brüder wollten mitmachen und bettelten solange, bis auch die Mama sich lachend mit ihnen im Kreis drehte.

Einen Teil dieses bezaubernden Rituals hatte Marina ins Erwachsenenleben hinübergerettet, indem sie an regnerischen Sonntagen zuweilen Volkslieder aus ihren Kindertagen auflegte und mitsang. Später, mit achtzehn, sah sie zum ersten Mal eine Opernaufführung.

Carmen. Vom ersten Takt an ergriff sie jenes Fieber, das sie nie wieder loslassen sollte, wenn sie diese Musik hörte. Beim Zigeunerlied im zweiten Akt wirbelte sie im Rhythmus der Bohemiens durchs Zimmer, bedauerte nur, keine Kastagnetten zu besitzen, um selbst damit zu klappern. Arme und Hüften wiegten sich wie von selbst dazu, während ihre Füße auf den Boden trommelten.

Die leidenschaftliche Musik, die Verführungskunst und Verführbarkeit der Akteure faszinierten die junge Marina ebenso wie die Geschichte der zum Scheitern verurteilten Liebe zwischen den beiden gegensätzlichen Charakteren: Carmen, der ungestümen, freiheitsliebenden Zigeunerin und dem dienstbeflissenen, zwischen der Leidenschaft und militärischen Pflichten hin und hergerissenen spanischen Leutnant Don José.

Genau danach verlangte es Marina jetzt. Sie zog das Album aus dem Regal und legte die erste Disc ein. Dann schlüpfte sie in einen weit schwingenden Rock und flatterte durch die Räume. Wohl zum ersten Mal in all den Jahren schweiften ihre Gedanken dabei von der berauschenden Musik ab.

Wie lebte Herr Hadebrecht? Nichts wies darauf hin, ob ihr geheimnisvoller Nachbar Junggeselle war oder von seiner Familie getrennt lebte. Sie hatte bisher auch keine weibliche Stimme aus seinen Räumen gehört. Innerhalb derselben schien sein Leben ebenso keimfrei zu sein wie das ihre. Nur einmal vernahm sie, wie er in männlicher Begleitung die Wohnung betrat. Die Herren unterhielten sich bis in die Nacht hinein, bevor die Besucher sich wortreich von ihrem Gastgeber verabschiedeten.

Mitte Juni verfolgte Marina am Bildschirm die Eröffnung der EURO 2008 in der Landeshauptstadt Bern.

Im Gegensatz zu ihr war Barbara ein leidenschaftlicher Fußballfan. Die Freundin reiste mit ihrer Clique oft durch die halbe Schweiz, um die Austragungen live zu erleben. »Ich muss unbedingt meine Favoriten selbst anfeuern, sonst wird das nichts! Komm doch mit, dann siehst du unsere sexy Mannschaft mal aus der Nähe«, rief Barbara in den Hörer.

»Du weißt, dass weder Fußball noch die brüllenden, grölenden und Unmengen von Bier verschlingenden Fanhorden was für mich sind. Am Bildschirm ist es viel bequemer und ich sehe erst noch mehr Details. Vor allem kann ich jederzeit ausschalten. Aber dir wünsche ich natürlich viel Spaß«, lachte Marina und hängte auf. Was sollte sie ausgerechnet mit Fußball, dieser Sportart konnte sie nichts abgewinnen. Sie schüttelte sich beim bloßen Gedanken daran.

Aber vielleicht wäre Barbara nach der EURO wieder mal bereit, mit ihr auszugehen. Früher gingen sie öfter zusammen tanzen, aber seit Marina von der Zentral- in die Ostschweiz gezogen war, sahen sie sich kaum mehr.

Das erste Spiel der EURO 2008 trug Italien gegen die Niederlande aus. Mit offenem Mund starrte Marina am ersten Austragungsabend in der Tagesschau auf das orangefarbene, grelle Meer von zigtausenden niederländischen Fußballfans, die über die Schweiz herfielen: Wow, das war ja ein lustiges Völkchen!

Ihre Kinder auf den Schultern, mit originellen Kopfbedeckungen und witzigem Zubehör ausgestattet, feierten sie den ersten Oranje-Sieg, noch bevor sie ihn in der Tasche hatten. Den in Würde ergrauten Steindenkmälern in der Berner Altstadt stülpten sie orangefarbene Leibchen über, setzten ihnen ihre Mützen auf und umarmten die leblosen Figuren wie liebe alte Bekannte. Selbst das klare Schweizer Quellwasser in den kunstvoll gestalteten Brunnen färbten sie in ihrer Lieblingsfarbe ein. Überall herrschte Oranje Siegesgewissheit und eine johlende Lebensfreude, die sich auf Marina abfärbte, ob sie wollte oder nicht. Ein Funke dieses erfrischenden Übermuts sprang sofort auf sie über.

Ein junger Mann strahlte keck in die Fernsehkamera. »Ja, fröhliche Leute hier, heiß und gut’s Bier. Wenn wir gewinnen, dann ist ganz Bern nicht sicher mehr!«

Und was Marina niemals erwartet hätte: Sie hockte wie angenagelt auf dem Sofa, bis das Spiel beendet war. Erst danach realisierte sie, dass sie die ganze Spielzeit durchgehalten hatte wie ein hypnotisiertes Kaninchen, mit hochgezogenen Schultern und flachem Atem. Kopfschüttelnd schaltete sie den Apparat aus. Sie hatte sich ursprünglich eine romantische Komödie zu Gemüte führen wollen, und nun das!

Von nebenan trällerte es aufreizend zu ihr herüber.

Sicher hatte Herr Hadebrecht das Spiel verfolgt und würde mit ihr übereinstimmen: Großanlässe wie die EURO 2008 waren ein Segen für den Tourismus. So mancher, der nur der Austragungen wegen in die Schweiz gereist war, würde im Urlaub wiederkommen. Darüber sollten ihr Nachbar und sie sich gelegentlich unterhalten, aber wie stellte sie es an, um mit dem charmanten Herrn ins Gespräch zu kommen? Eine knifflige Angelegenheit, wenn man ihn kaum je sah.

Spätnachts tastete Marina im Halbschlaf nach ihrem ausdauernd klingelnden Handy. Wehe dem Verrückten, der es wagte, sie jetzt noch anzurufen.

»Hallo?«, blaffte sie.

Barbaras ziemlich alkoholisiertes Lachen drang an ihr Ohr: »Hey, du Schlafmütze, ich muss dir was total Lustiges sagen! Einer der Oranje-Fans hat unserem Zugbegleiter das niederländische Wappen auf die Wange gemalt. Und der hat alles großmütig mit sich geschehen lassen und es auch später nicht abgewischt.« Sie kicherte. »Weißt du, was das Beste daran ist? Der Mann ist Türke! Hach, wir haben uns köstlich amüsiert über so viel Großmut. Willst du uns nicht begleiten beim nächsten Mal?«

Marina stöhnte auf: »Nein, du aufgekratzte Eule, ich verzichte und möchte jetzt gern weiterschlafen. Feiere du mal schön weiter, wir hören uns!«

Gleich dreimal hintereinander brachte die Schweizer Hauptstadt den Niederländern Glück. Marina gönnte es ihnen von Herzen. Bei so viel ansteckender Verzückung vergaßen sogar Schweizer Fußballfans für kurze Zeit die beschämende Niederlage ihrer eigenen, glücklosen Mannschaft.

Und Marina vergaß in letzter Zeit öfter, dass sie sich überhaupt nicht für Fußball interessierte, bis es in Basel ein böses Erwachen gab. Im Spiel der Niederlande gegen Russland zur Qualifizierung fürs Halbfinale verloren die Oranje mit eins zu drei gegen ihre kompakt und offensiv spielenden Konkurrenten.

Möglicherweise hatten erstere über Gebühr gefeiert? Wo sonst laut jubelnde, stürmisch anfeuernde Fans saßen, sah Marina lauter verzweifelte, liebevoll bemalte Gesichter, sozusagen einen oranjen Haufen Elend. Manche Träne lief die farbigen Wangen hinunter, worauf Marina sich ebenfalls über die Augen wischen musste.

Eine Nacht sangen, becherten und trauerten die grell gekleideten Verlierer noch durch, danach packten sie ihre Siebensachen und fuhren mit ihrem niedlichen Nachwuchs Richtung Autobahn nach Norden zurück.

»Die Russen haben sich den Sieg zwar verdient, aber die Holländer tun mir trotzdem echt Leid«, gestand Barbara am Abend darauf telefonisch.

»Mir doch auch!«, seufzte Marina.

»Und die Medien attestieren den Niederländern selbst beim Verlieren eine sportliche Haltung, sie sind bis zum Schluss total fair und partnerschaftlich geblieben«, staunte Barbara. »Da könnte sich mancher Randalierer eine Scheibe von abschneiden.«

Das Schweizer Fernsehen berichtete unterdessen von einem russischen Reporterteam, das während der Spielpausen seinen Landsleuten schweizerische Bräuche sowie alternative Ferienmöglichkeiten aufzeigte. Ein russischer Journalist durfte sogar eigenhändig eine Schweizer Straßenbahn steuern – wenn auch unter fachkundiger Anleitung in einem Depotgelände.

Ferien auf dem Bauernhof, Eselreiten und schlafen im Heu stellten die russischen Reporter ihren Landsleuten ebenfalls vor als eine erschwingliche Variante zu den Eliteaufenthalten der gutbetuchten Russen in Sankt Moritz, Zürich und Gstaad.

Marinas Touristenherz jauchzte auf. Tolle Kerle, diese Medienleute. Nutzen ihren Aufenthalt hier dazu, unser Angebot zu erkunden. Weiter so!

Sie hätte sich gerne mit dem Tourismusfachmann darüber ausgetauscht, doch wie stellte sie es an? Er trällerte und summte wie gewohnt durch die Wände und blieb unsichtbar. Sie konnte nicht an seiner Tür läuten und ihn mit ihren An- und Einsichten überfallen.

»Meinst du, der Werbeeffekt für unser Land hält an?« Barbaras Stimme holte sie in die Gegenwart.

»Bestimmt! Im Gegenzug habe ich selbst nun Lust bekommen, nach Holland zu reisen. Und weißt du, auf welchen Termin ich diese Ferien abstimmen würde?«

»Keine Ahnung, aber du verrätst es mir sicher gleich«, feixte die Freundin.

»Rate mal. Er spielt Geige, er hat ein professionelles Orchester zusammengestellt, er verbindet die Fans aus aller Welt fast wie der Fußballsport, nur viel schöner, viiiel friedlicher und vor allem viiiiiel melodischer! Und er tritt auf allen Kontinenten auf. Das heißt, Amerika weiß ich nicht genau, aber in Australien wird er Ende dieses Jahres ein Megakonzert geben, habe ich gelesen.«

»Hör auf!«, gluckste Barbara. »Ich weiß es längst. Dieser André – ähm – Reim oder so. Du bist ja richtig angefressen von dem!«

Marina lachte über Barbaras gewagten Vergleich. »André Rieu, wolltest du sagen. Mit Matthias Reim hat mein Walzerkönig nun wirklich nichts gemein, obwohl ich auch Reim gern höre. Doch dessen Rockballaden mit Gänsehauteffekt sind nicht vergleichbar mit Rieus schmissigen Gassenhauern.«

»Und wie willst du ausgerechnet deinen Walzerkönig dort treffen?« Die Freundin klang zweifelnd.

»Kein Problem, der gibt jedes Jahr ein Konzert in seiner Heimatstadt Maastricht. Kürzlich habe ich im TV gesehen, wie locker seine Fans sind. Die schunkeln und tanzen ungeniert auf den Bänken, Stühlen und Tischen, wenn der Platz am Boden nicht ausreicht.« Marina seufzte genießerisch. »Ich glaube, das ist der einzige Großanlass, zu dem du mich mitschleppen könntest.«

»Pech für dich, Süße, ich ziehe Fußball vor. Aber tanzen könnten wir wieder mal gehen, was hältst du davon?« Barbara konnte wohl Gedanken lesen, dass sie das Thema ansprach.

»Oh ja, du bist ein Schatz. Ich melde mich bei dir, sobald ich es einrichten kann, okay?« Voller Vorfreude legte Marina auf.

Von drüben drang fröhliches Pfeifen hinüber. Sie fragte sich, ob ihr Wohngefährte ebenfalls jede freie Minute die EURO 2008 verfolgte. Denn seit Wochen dröhnte es in der Kantine der Fachschule von einem riesigen Bildschirm an der Wand, den Marina zuvor als monströses Küchengerät gedeutet hatte. In jeder freien Sekunde hasteten ihre Kollegen hinunter, um den Stand der Spiele zu sehen. Überwiegend im Stehen, weil sie gleich wieder in die Büros oder Schulräume zurückkehren mussten.

Nie zuvor hatte Marina bei der Arbeit eine solch aufgeladene Stimmung erlebt, wie in dem großen, fensterlosen Raum im Untergeschoss, wo sich die Sportbegeisterten bis zum Eingang im Weg standen.

Frau Weidmann, die Leiterin der Kantine, knurrte genervt: »Ich werde noch verrückt, wenn ich ständig diese Meisterschaften mit anhören muss, und vor lauter Volk komme ich nicht mehr an die Tische ran.«

»Dann können Sie es wohl kaum erwarten, bis Sie Feierabend haben?«, fragte Marina sie mitfühlend.

Die Frau stöhnte auf. »Schön wär’s! Daheim sitzen doch mein Mann und die Kinder vor der Glotze!«

Im Vergleich dazu schätzte Marina ihr Single-Dasein. Nach einem besonders hektischen Arbeitstag stieg sie müde aus dem Postauto und strebte nur noch nach Hause. Jetzt die Füße hochlegen und an nichts denken! Ihr Herz machte einen Salto, als sie beim Eingang Herrn Brüsch, ihren älteren Vermieter erblickte, daneben Herrn Hadebrecht im Anzug, den Trenchcoat lässig über dem Arm. Neben seiner hohen Statur kam sie sich selbst wie ein Zwerg vor.

Die Herren erwiderten ihren freundlichen Gruß. Herr Brüsch wandte sich an Sie: »Na, Frau D'Amato, haben Sie sich gut bei uns eingelebt?«

Worauf ihr Nachbar sich höflich verabschiedete.

Enttäuscht sah sie ihm nach. Es gelang ihr kaum, den Worten ihres Gegenübers zu folgen. Ständig schob sich ein kantiges Männerantlitz mit rätselhaft grünen Augen dazwischen. Da hatte sie ihn endlich mal direkt vor sich und konnte die Gelegenheit nicht mal nutzen.

Wie gebannt lauschte sie im Treppenhaus seinem aufreizenden Trällern. Eine sanfte Welle der Sehnsucht durchflutete sie. Seltsam, dass sie diesem Mann kaum je begegnete, obwohl die vielfältige Geräuschkulisse ihr verriet, dass er oft zuhause war. Sie wohnten Tür an Tür, aber sie sah ihn weder im Treppenhaus, noch draußen oder in der Stadt, wo sie beide arbeiteten.

Gewöhnlich verließ er die Wohnung vor ihr und war schon zurück, wenn sie von der Arbeit kam.

Rastlos stromerte sie durch ihre Räume. Wie konnte sie locker mit Herrn Hadebrecht Kontakt aufnehmen? Seine E-Mail-Adresse auf der Visitenkarte fiel ihr ein. Wäre das eine Möglichkeit, sich zu melden? Sie verwarf den Gedanken wieder, da ihr nichts Plausibles einfiel, das sie ihm schreiben könnte.

Den vermeintlich rettenden Einfall hatte sie, als Andrin ihr Wochen später eine E-Mail-Anfrage zu einem internationalen Hotelprojekt übermittelte, mit dem Vermerk: »Bitte leite diesen Irrläufer gleich an die richtige Stelle in der Fachhochschule weiter.«

Sie tippte sich an die Stirn. Dass sie nicht eher draufgekommen war, ihm eine E-Mail zu schreiben!

Guten Tag Herr Hadebrecht! Soeben habe ich eine Anfrage an Ihren Berufskollegen übermittelt. Dabei ist mir bewusst geworden, dass ich nicht sehr höflich zu Ihnen gewesen bin. Sie haben mir Ihre Visitenkarte überlassen und ich habe Sie nicht informiert, wo und was ich selbst arbeite. Das möchte ich hier nachholen.

Der Zufall will es, dass Sie und ich in der gleichen Branche tätig sind. Ich arbeite im Sekretariat der Privatfachschule für Touristik, erledige administrative Sachbearbeitungsaufgaben und bin zuständig für die Belange der Schulkommission. Es ist eine interessante, anspruchsvolle und vielseitige Tätigkeit, die ich vor drei Monaten übernommen habe. Möchten Sie mir zu Ihrem Aufgabengebiet ebenfalls noch einige Angaben machen? Wer weiß, vielleicht muss ich eines Tages auch mit einem beruflichen Anliegen meiner Abteilung an Sie gelangen?

Stunden später meldete der Server ihr, der Empfänger habe die Nachricht gelesen. Zappelnd harrte sie der Zeilen, die da von ihm kommen sollten.

Komm schon, tipp ein paar Sätze für mich ein! Es war schon Donnerstagabend und sie hatte sich ausgerechnet den Freitag frei genommen. Enttäuscht räumte sie den Schreibtisch auf und schloss die Ordner in den Aktenschrank. Jetzt musste sie vier Tage auf seine Antwort warten, dabei war sie so gespannt darauf! Gut, dass sie morgen wegfuhr, das würde sie ablenken.

Tanzkavalier Gesucht

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