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Kapitel 5 – Botschaften

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Eines Morgens Ende Juli hastete Marina zur Postautostation. Sie durfte diesen Bus nicht verpassen, sonst würde sie zu spät zur Schulkommissionssitzung eintreffen. Nicht auszudenken!

Bei der Haltestelle erwartete sie ein stattlicher Mann. Herr Hadebrecht zog den Hut und reichte ihr die Hand: »Haben Sie sich inzwischen hier eingelebt?«

»Ja danke. Ich mag die ländliche Umgebung und die tolle Sicht auf die Berge sehr.«

»Ich ebenfalls. Arbeiten Sie in der Administration?«

Sie nickte und runzelte die Stirn. Seltsame Frage, das habe ich ihm doch ausführlich geschrieben, was hat er mit meiner Nachricht angestellt? Nach der Sommergrippe hatte sie stapelweise Arbeit im Büro vorgefunden, aber auch enttäuscht festgestellt, dass sich keine noch so banale Reaktion ihres Hausgenossen in ihr E-Mail-Konto verirrt hatte. Also fügte sie erläuternd hinzu:

»Im Sekretariat der privaten Touristik Fachschule. Heute führe ich erstmals Protokoll an einer Sitzung der Schulkommission und bin etwas kribbelig, obwohl ich gut vorbereitet bin.« Sie verschränkte die Hände, löste sie sofort wieder und zupfte an ihren Fingerspitzen.

Er legte kurz seine Hand auf ihre. »Dann klappt es bestimmt, Sie werden sehen!« Seine tröstliche Wärme durchströmte und betäubte sie, als hätte er ihr ein Narkotikum verabreicht.

»Danke, ich hoffe es.« Als er seine Finger wegnahm, zog sie fröstelnd die Schultern hoch.

Wo bleibt dieses Postauto? Ausgerechnet heute verspätet es sich.

»Wo liegt denn die Fachschule?«, hakte er nach.

»Nahe der Station X.« Er konnte ihre Mitteilung doch nicht völlig übersehen haben? Wenn er sie gelesen hätte, wüsste er es längst. Der Inhalt war ihm vermutlich zu wenig wichtig, um ihn sich zu merken. »Auf Ihrer Visitenkarte stand, dass Sie Referent in Tourismusfragen sind. In welchen Projekten arbeiten Sie wissenschaftlich mit? Geht es darum, die Schweiz im Ausland zu vertreten? Oder noch unbekannte Schweizer Regionen touristisch zu erschließen?«

Er erläuterte ihr, welches Konzept er entwickelte. Das Grün seiner Augen schillerte zwischen einem klaren Smaragd und einer Frühlingswiese.

Widerwillig löste ihr Blick sich aus seinem, blieb an seiner breiten Brust haften. Der dunkelblaue Anzug stand ihm ausgezeichnet. Sie zwang sich, wegzusehen. »Ihre Aufgaben klingen vielseitig und anspruchsvoll.«

Er fuhr sich durch die rötlich blonden Haare und brachte die sorgfältig gestylte Igelfrisur durcheinander. »Es steckt schon Knochenarbeit dahinter.«

Da näherte sich das Postauto.

Marina setzte sich auf die nächste Bank und rückte ans Fenster, um ihm Platz zu machen. Noch während er ihr »Einen schönen Tag noch und gutes Gelingen bei der Protokollführung!« wünschte, strebte er mit einem Kopfnicken an ihr vorbei auf den vordersten Platz.

Mit offenem Mund sah sie ihm nach.

Na sowas. Hatte er gerne die übrigen Fahrgäste im Rücken, oder wurde ihm gar übel, wenn er im Mittelteil des Wagens saß? Sie rief sich ins Gedächtnis, an welchen Projekten er gerade arbeitete. Es gelang ihr nicht. Seine Ausführungen hatten sehr wissenschaftlich geklungen. Falls sie je wieder ein längeres Gespräch mit ihm führen sollte, müsste sie ihn erneut danach fragen. Wie peinlich! Sie hätte sich besser darauf konzentriert, als auf seine stattliche Erscheinung.

Im Aufzug der Fachschule musterte sie nochmal kritisch ihr Aussehen im Spiegel, als drei unbekannte Männer zustiegen. Da zwinkerte ihr der attraktivste unter ihnen bewundernd zu und führte zwei gebogene Finger an den gespitzten Mund.

Marina lächelte im Spiegel zurück. Somit brauchte sie sich über ihr Aussehen nicht zu sorgen. Gerade noch rechtzeitig erreichte sie die sehr lebhafte Tagung und konzentrierte sich eisern auf ihre Aufgaben. Neben ihren täglichen Arbeiten verfasste sie mithilfe der Tonaufzeichnungen und ihrer Notizen ein rund dreißig Seiten umfassendes, erweitertes Beschlussprotokoll.

Drei Tage später übermittelte sie Andrin die Datei zur Prüfung. Hoffentlich stand alles drin, was ihr Vorgesetzter als wichtig erachtete. Als er sie rief, atmete sie tief durch, bevor sie an seine Bürotür klopfte.

Andrin lächelte ihr anerkennend entgegen. »Gute Arbeit, Marina! Du hast die wichtigen Aspekte und Beschlüsse herausgehoben und folgerichtig aufgeführt, das schafft nicht jeder auf Anhieb.« Er tätschelte ihren Handrücken und entließ sie mit dem Hinweis, dass sie das von ihm unterschriebene Protokoll mitsamt den Anlagen vervielfältigen und an die Sitzungsteilnehmer sowie die aufgeführten Empfänger übermitteln sollte.

Im Flur pustete sie die angehaltene Luft aus. Hatte der Fremde im Aufzug ihr Glück gebracht, oder war es doch eher ihr smarter Nachbar gewesen?

Als Barbara sie endlich besuchte, erwähnte sie nach dem üblichen Geplänkel zwischen alten Freundinnen:

»Ist es nicht beinahe schicksalhaft, dass er und ich Tür an Tür wohnen und in derselben Branche arbeiten, wenn auch mehrere hierarchische Stufen auseinander?«

Die Freundin hob eine Augenbraue und feixte. »Na, Mädchen, rede dir da nur nix ein! In der Gegend ist doch jeder Fünfte in der Tourismusbranche tätig.«

Was annähernd stimmte. Und doch ...

Barbara bemerkte ihr Erröten und die verräterisch glänzenden Augen. Sie stand auf und murmelte: »Wir sollten wirklich wieder mal tanzen gehen, damit du ein paar nette Männer kennenlernst. Ich melde mich!«

Die fidele Freundin war viel lockerer als sie selbst und genoss Sex, so oft sich die Gelegenheit dazu bot. Egal wie lange sie ihren Partner schon kannte.

Mit einer Umarmung verabschiedeten sie sich.

Marina eilte ins Bad und sah besorgt in den Spiegel. Wenn man ihr die Gefühle so gut ansah, merkte er es womöglich auch? Sie sollte sich besser im Griff haben, wenn sie ihn das nächste Mal treffen würde.

Ihre Sorge erwies sich als unbegründet, denn er und sie begegneten sich eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr. Nur sein Singsang drang durch die dünnen Wände – und traf sie mitten ins Herz. Ihn so nah zu hören, ohne ihn zu sehen, grenzte an Folter. Dieser Mann zog sie unwiderstehlich an. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie sich an seine gefährlich grünen Augen erinnerte.

Sie stieß einen grimmigen Laut aus.

So ging das nicht weiter! Sie würde Norbert anrufen, ihr lieber alter Freund fehlte ihr täglich mehr. Früher hatten sie viel gemeinsam unternommen und sie hatte sogar eine Weile bei ihm gewohnt. Aber seit sie ins Bündnerland gezogen war, sahen sie sich nur selten.

Norbert hatte zum Glück nichts Besseres vor, als sie ihn für Samstag zum Essen einlud und erwähnte, sie wäre außerdem froh, wenn er ein paar Gegenstände für sie montieren würde.

Norbert kommt, jauchzte sie am Samstagmorgen. Sie sprang aus dem Bett und tanzte eine Runde durch die kleine Wohnung. Bestimmt würde er sie wieder zum Lachen bringen, das fehlte ihr am meisten.

Gegen Mittag traf er ein, umarmte sie und brachte Spaß und gute Laune mit. Als er scheinbar bewundernd die paar Quadratmeter ihrer Behausung durchschritten hatte, kratzte er sich am Hinterkopf. »Niedlich, welcher Wichtel wohnt denn hier?«

Sie knuffte ihn in den Arm. »He, du Frechdachs, das Zimmer bei dir war auch nicht größer!«

»Aber du hattest Zugang zu den restlichen Räumen, außer zu meinem Schlafzimmer, natürlich.«

»Natürlich! Ich weiß dein hochherziges Wesen auch außerordentlich zu schätzen«, grinste sie und wurde wieder ernst. »Aber selbst du verstehst, dass ich nicht jeden Tag zwei Stunden Arbeitsweg hin und zurück auf mich nehmen konnte, oder?«

»Eben, somit verstehst du gewiss, dass wir uns nur noch alle paar Monate sehen können«, konterte er. »Also, meine Rosine, was ist das Dringendste?«

Sie klaubte ein zerdrücktes Etwas hinter dem Schrank hervor und deutete auf die Zimmerdecke. »Würdest du die da oben befestigen?«

Mit argwöhnischen Blicken drehte er die Packung in den Händen. »Was, das soll mal eine Lampe werden?«

»Klar, das ist eine Ballonlampe aus japanischem Papier zum Auseinanderfalten. Da staunst du, wie?«

»Tatsächlich! Na dann nichts wie los. Darf es noch was sein?«

Sie funkelte ihn an. »Nun, ich habe eine ganze Liste von Wunschleistungen erstellt. Erst wenn du die alle erledigt hast, bin ich restlos zufrieden mit dir«, betonte sie streng. »Danach darfst du noch meine Kochkünste bewundern, ehe du mich endgültig verlässt.«

»Ah, die Dame stellt hohe Ansprüche.« Er grinste sie mit ergebener Miene an und verbeugte sich tief, wobei er über seine eigenen Beine stolperte. »Stets zu Ihren Diensten, Madame!«

Sie kicherte und eilte in die Küche, um eine leckere Mahlzeit für sie beide herzurichten.

Norbert schnappte sich den Hocker vor dem Bett. »Bring doch mal deinen Kinderwerkzeugkasten her. Hier fehlt nämlich eine Kabelklemme«, rief er ihr nach.

»Komme gleich!« Sie reichte ihm ihr Sammelsurium an Nägeln, Schrauben, Zangen, einem Hammer und überflüssigem Montagematerial. Nur eine Kabelklemme befand sich natürlich nicht darunter.

»Moment, ich frage meine Nachbarn, ob sie sowas haben.« Sie klingelte erst bei den älteren Schwestern, danach an der Tür zur Rechten. Keine Reaktion. Enttäuscht wandte sie sich ab. Noch während sie sich im Eingang mit Norbert beriet, streckte Herr Hadebrecht den Kopf aus der Tür.

»Frau D’Amato, womit kann ich Ihnen dienen?«

Sie fuhr herum. »Oh, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie eine Klemme übrig hätten.«

Er runzelte die Stirn und sah sie fragend an.

»Dieses kleine Hilfsmittel, das es braucht, um eine Lampe am Deckenstrom anzuschließen«, erläuterte sie und wandte sich hilfeheischend an Norbert.

Sie stellte die Herren einander vor.

Norberts blitzende blaue Augen begegneten den grün schillernden ihres Nachbarn, der ihren Freund um eine Kopflänge überragte und murmelte: »Eventuell habe ich so einen Gegenstand bei meinen Militärsachen auf dem Dachboden.« Rasch erklomm er, trotz ihrer verlegenen Einwände, die Leiter zum Estrich.

Sie hörte ihn oben rumoren und schalt sich, dass sie ihn überhaupt gefragt hatte.

Nach einer Weile erschien er im Türrahmen. »Es ist leider auch keine dabei«, rief er bedauernd.

Hitze stieg in ihr auf. »Macht nichts, wir können die Lampe ein anderes Mal befestigen.« Sie beobachtete, wie er vom Dachboden stieg.

So ein attraktiver und eindrucksvoller Mann!

»Bitte geben Sie mir Bescheid, falls ich einmal etwas für Sie tun kann.« Ihr offener Blick begegnete seinem undurchdringlich verbindlichen.

»Das werde ich, einen schönen Tag noch!« Und er entschwand hinter seiner Tür.

Seufzend sah sie ihm nach. Er war schwerer fassbar als ein Fisch im Wasser. Ob er ein Fische-Mann war?

»Madame, wo bleiben Sie denn?«, riss Norbert sie aus ihren Träumen.

An diesem Nachmittag lachte sie mehr als in den vergangenen Monaten zusammen. Beinah wie früher, als sie beide sich mehrmals wöchentlich trafen, tanzen gingen und Konzerte besuchten. Zum Abschied umarmte sie ihn und drückte einen dicken Kuss auf seine Wange. »Das war echt lieb von dir, Norbert. Bitte warte nicht mehr so lange, bis du mich das nächste Mal besuchen kommst, okay?«

»Ich bin gerade ziemlich engagiert«, wich er aus. In der Firma stehen mehrere Fortbildungskurse an – dann hab ich jemanden kennengelernt«, raunte er ihr mit geheimnisvoller Miene zu. »In einer Internetplattform für Partnersuchende.«

»Was, das beichtest du mir jetzt so nebenbei?«, tat sie entrüstet und versetzte ihm einen leichten Hieb.

Er entwand sich ihr und jagte die Stufen hinunter. Auf dem Zwischenboden drehte er sich nochmal um. »Absichtlich, damit du mir keine Fragen stellen kannst.«

»Das ist gemein von dir«, rief sie ihm nach und schürzte die Lippen. Dieser Geheimniskrämer! Aber Herr Hadebrecht und ich könnten ja mal was zusammen unternehmen.

Am Montag übergab der Postbote höchstpersönlich Marina einen Einschreibebrief. Argwöhnisch musterte sie die amtlichen Stempel, bevor sie unterzeichnete. Eine böse Vorahnung ergriff sie. Als sie die in dürrem Behördenstil verfasste Mitteilung überflog, entfuhr ihr ein Schreckenslaut, sie tastete nach dem nächsten Stuhl.

Was nun? Sie schaltete den PC ein, suchte Adressen von Tessiner Anwälten heraus. Danach führte sie mehrere Telefongespräche und vereinbarte einen Termin.

Ausgerechnet in diesem Gefühlsaufruhr verreiste ihr Nachbar (oh nein!), kam am Freitagabend wieder (dem Himmel sei Dank!), nutzte offenbar seinen Waschtag und verschwand für eine weitere Woche aus ihrem Leben (das ist jetzt nicht sein Ernst?!).

Am übernächsten Freitagabend hörte Marina die schmerzlich vermisste Tonvielfalt aus seiner Wohnung.

Sie tollte zu Rossinis »Figaro, figaro, fiiigaro ...« durch die Räume, bis sie sich keuchend aufs Sofa fallen ließ.

Zu Wochenbeginn schoben sich im Büro Herrn Hadebrechts markante Züge vor ihre Unterlagen. Seine Augen schillerten in allen Skalen von Grün, je nach Gefühlsregung, wie es schien. Wie interessant!

Seufzend wandte sie sich ihren Aufgaben zu. Doch stattdessen hörte sie das höhnische Lachen ihres Ex-Mannes. Jochens Gebrüll und seine Beschimpfungen hallten in ihren Ohren wider. Die Erinnerung an die sinnlosen Streitgespräche, die sie gegen Ende ihrer Ehe ausgefochten hatten, übermannte sie.

Was will Jochen von mir? Sie starrte auf einen Fleck an der Wand und stemmte die Fäuste auf die Tischplatte. Höchste Zeit, dass sie etwas unternahm!

Zuhause rief sie Barbara an. »Hast du nicht was von tanzen gesagt? Ich muss dringend raus hier. Ich weiß, meine Grippe ist dazwischengekommen, aber ...«

Die Freundin lachte in den Hörer. »Du scheinst Feuer unter den Füßen zu haben! Na gut, ich nehme eine Bekannte mit, Freitagabend holen wir dich ab.«

»Super, du bist ein Schatz!« Marina legte auf und sauste zu ihrem Kleiderschrank. Mit glänzenden Augen stellte sie ihr neues Tanz-Outfit zusammen. Selbstverständlich war ein schwingender Rock dabei, der gehörte einfach dazu. Sie drapierte alles um einen Bügel, den sie mit einem tiefen Seufzer in den Schrank zurückhängte.

Wenn doch schon Freitag wäre! Ab und zu brauchte sie diese Stunden körperlicher Verausgabung bei guter Musik – außerhalb ihrer Wichtelbehausung.

Ihr Lächeln erlosch, während sie einen Hosenanzug und Accessoires aus dem Schrank nahm, die sich für amtliche Angelegenheiten eignen würden.

Jochen, wie konntest du mir das antun?

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