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Kapitel 1 – Lockrufe

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In Marinas Schlummer drangen vielfältige Laute, die sich mit ihren Traumbildern zu einem bunten Reigen vermischten. Leise seufzend tauchte sie aus den Tiefen ihres Unbewussten auf in die Realität eines Samstagmorgens Anfang April des Jahres 2008.

Mit geschlossenen Lidern lauschte sie dem Vogelkonzert aus dem Garten. Gewiss hielten die eifrigen kleinen Sänger Konferenz, wie sie das Wochenende gestalten wollten. Jeder von ihnen schien mit besseren Argumenten – sprich vielfältigeren Gesangsvarianten – die zwitschernden Gesellen überstimmen zu wollen.

Doch was war das? Ganz in der Nähe begann eine hinreißende Männerstimme zu summen. Mit einem Ruck setzte Marina sich auf, als die Summtöne in ein heiteres Trällern übergingen. Sie begann, die Geräuschquellen zu orten.

Von nebenan hustete und räusperte es seit Tagen durch die dünne Wand rüber: Das morgendliche Ritual ihres unbekannten Nachbarn zur Rechten. Vermutlich litt der alte Mann an bösem Raucherhusten oder an Bronchialasthma, denn es klang oft so beängstigend, als ersticke der arme Kerl demnächst.

Sicher verdankte sie es einem fiesen Karma, dass sein Badezimmer direkt an ihr Wohnschlafzimmer grenzte und selbst der Kleiderschrank, die Bücherregale und der Schreibtisch den Lärm nicht ansatzweise dämpften. Mehr konnte sie, neben dem schmalen Bett, einem Nachttisch und dem Zweiersofa, beim besten Willen nicht in dieses Zimmer quetschen.

Den Grund für des Nachbars Leiden würde Marina noch herausfinden, vorerst lenkte ein durchdringender Lärm sie ab. Die Wohnung unter ihr wurde renoviert, seit Tagen drang das Nerv tötende Schlagen, Hämmern und Bohren der Handwerker zu ihr hoch. Selbst heute ratterte alle paar Minuten eine Bohrmaschine.

»Aber doch nicht am Wochenende und dazu noch vor acht Uhr morgens«, stöhnte Marina und zog die Decke bis über beide Ohren, was ihr wenig half.

Sie horchte auf, als erneut jene fröhliche Singstimme einsetzte. Diese war eindeutig neu und schreckte Marinas urweibliche Instinkte auf, die seit ihrem Ehefiasko vor zwei Jahren brav vor sich hin gedämmert hatten und gefälligst weiter im hintersten Winkel der untersten Schublade ihres Triebe-Archivs vermodern sollten. Trotzdem lauschte sie den schmeichelnden Tönen, taumelnd zwischen Angst und Entzücken.

Wer wagte es, ihre innere Ruhe zu gefährden? Ihr Nachbar zur Rechten konnte es unmöglich sein, keiner konnte gleichzeitig bellen wie ein Totgeweihter und trällern wie ein junger Spund! Frau Caduff und Frau Spillmann zur Linken kamen auch nicht infrage. Seit ihrem Einzug hatte Marina so gut wie nichts von den beiden verwitweten Schwestern gehört, die sich als angenehme und ruhige Nachbarinnen erwiesen. Was nicht zuletzt daran lag, dass deren Wohnung an ihre schmale Küche grenzte.

Dafür waren von frühmorgens bis spätabends schwere lateinische Choräle aus der Wohnung unter ihr heraufgedrungen. Dort hatte ein Rentner gewohnt, der klassische Musik bevorzugte, weshalb Marina froh war um ihren CD-Player, den sie ohnehin rege benutzte.

Die Musikrichtung wählte sie je nach Stimmung. Es durfte durchaus Klassik sein, jedoch nie eintönig. Sie zog berauschende Werke vor: dramatisch aufwühlend, festlich schmetternd, zart jubilierend, leicht tändelnd, in Liebestaumel versinkend, spitzzüngig scharfsinnig oder komisch räsonierend.

Ferner enthielt ihre CD-Sammlung Oldies und Chansons, Popmusik, Evergreens und Country Songs. Oder Walzer. Walzer waren ihre Favoriten, dazu konnte man herrlich schunkeln, auch allein zuhause. Dafür hielt sie sich stets die Mitte ihres Wohnraums frei.

»Du hast ja einen Ballsaal hier«, hatte ihre Freundin Barbara vor Jahren ausgerufen, als sie das erste Mal bei ihr zu Besuch war.

»Hm, ich brauche Bewegungsfreiheit zum Tanzen«, hatte Marina lachend erwidert.

Inzwischen hatte Barbara sich längst daran gewöhnt, dass Marinas Möbel und Gegenstände den Wänden entlang aufgereiht waren. Aber hier erwies es sich als sinnvoller denn je. Sobald sie eine hübsche, bezahlbare Wohnung fand würde sie ausziehen. Sie schwang sich aus dem Bett und schlüpfte in ihre Pantoffeln.

Beim Frühstück lauschte sie der betörenden Männerstimme, die seit einer Stunde ohne Unterbrechung trällerte. Der Typ musste frisch verliebt sein, oder hatte ein köstliches Erlebnis hinter sich. Ob er noch solo war? Sie konnte es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Bis zum Mittag verwandelte sich ihre Begeisterung allerdings in eine Mischung aus Wut und Resignation. Mit seinem hinreißenden Bariton und einem unerschöpflichen Repertoire an Tönen, die vorwiegend aus seiner innersten Quelle zu stammen schienen, hatte der Unbekannte das gesamte Miethaus vereinnahmt.

Am Montagmorgen weckte erneut melodischer Gesang ganz in der Nähe sie auf. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. War es etwa doch ihr asthmatischer Nachbar zur Rechten, der soeben Ehre sei Gott in der Höhe anstimmte? Hatte dieser Kerl denn zwei Seelen in der Brust?

Sie bezwang ihren Impuls, herzhaft mitzusingen. Was würde Herr Unbekannt sich denken, wenn auf einmal ihr Echo in sein Badezimmer hallte?

Sie duschte, löffelte im Stehen ihr Müsli, während sie in ein marineblaues Kostüm und ein blauweiß gemustertes Seidentop schlüpfte. Bei sorgfältiger Pflege würden ihre zeitlos klassischen Kombinationen aus edlen Materialien, die sie während ihrer Ehe erworben hatte, noch einige Jahre der Entbehrungen überstehen. Nach dem Zähneputzen zog sie die Lippen in zartem Mauve nach, legte passendes Rouge auf und tönte ihre Wimpern dunkelblau. Sie legte sich die Perlenkette um und steckte Ohrhänger an, dann griff sie nach der weißblauen Handtasche und eilte in eleganten Lederpumps aufs Postauto Richtung Alpenstadt, wo sie seit Beginn dieses Monats arbeitete.

Tanzkavalier Gesucht

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