Читать книгу Die stummen Gäste von Zweitlinden - Anny von Panhuys - Страница 10
7. Kapitel
ОглавлениеBettina suchte gleich nach der Unterredung mit dem Inspektor ihr Zimmer auf und begann, ihre Sachen zu packen. Dabei flossen ihr die Tränen unaufhaltsam über die Wangen. Es tat doch bitter weh, das Haus verlassen zu müssen, das sie von Kindesbeinen an beschützt hatte.
Ohne anzuklopfen, trat Justine von Welten ein. Sie lächelte: „Weine doch nicht zuviel, Bettina! Wenn dein Wulf dich so sieht, findet er dich häßlich.“
„Der Graf wird sich kaum noch hier blicken lassen“, erwiderte Bettina, und es war ein scharfer Klang in ihrer Stimme.
„Wie meinst du das?“ fragte Frau Justine.
Bettina zuckte die Achseln.
„Die Ratten verlassen das sinkende Schiff! Seine Liebe war keinen Deut wert. Er hat mich nur geliebt, solange er mich für die reiche Erbin hielt. Mit dem Verlust der Erbschaft verlor ich auch den Grafen.“
„Der Graf hat sich von dir zurückgezogen?“ fragte die Frau erschreckt. Aber als die Jüngere nickte, meinte sie leichthin: „Ich habe mir beinahe gedacht, daß es so kommen würde!“
„Weil ich kein Geld habe, nicht wahr, Tante Justine? Es stimmt! Aber wir wollen nicht davon reden, bitte.“
Die andere neigte den Kopf.
„Gut, wir wollen nicht davon reden. Doch sage mir, wie denkst du dir nun eigentlich deine Zukunft? Auch ohne Erbschaft hättest du als Gräfin Speerau etwas gegolten, denn schließlich stellt schon der Titel etwas vor, und zu leben wird der Graf wohl auch haben. Aber wie denkst du dir jetzt deine Zukunft? Bis zum 1. Juli ist nicht mehr lange hin. Mein Mann und ich werden nach Hause reisen und den Gang der Dinge von dortaus verfolgen. Du weißt, wenn Ottfried sich nicht meldet, werde ich Zweilinden erben.“
Das letzte klang so sicher, als spräche sie nicht von einer Möglichkeit, sondern von einer Gewißheit. Bettina erklärte, Inspektor Flügge habe ihr vorläufig ein Heim in seinem Hause angeboten, wo er mit seiner Wirtschafterin Grete eine hübsche und ziemlich große Wohnung innehabe.
„Ich muß gestehen, wenn du das Anerbieten annimmst, begehst du eine grenzenlose Taktlosigkeit“, erklärte Frau Justine mit hochgezogenen Augenbrauen. „Die frühere Tochter des Herrn von Zweilinden darf doch nicht bei seinem Inspektor unterschlüpfen.“
Bettina entgegnete bitter: „Wohin soll ich denn so schnell? Die paar hundert Mark, die ich mir erspart habe, reichen nicht weit, und die wenigen, allerdings sehr hübschen und vielleicht auch wertvollen Schmuckstücke, die ich vom Vater habe, gebe ich nicht her. Davon trenne ich mich nicht. Ich sehe keine Schande darin, Inspektor Flügges freundliches Angebot anzunehmen.“ Sie machte eine müde Bewegung. „Wenn du aber meinst, Tante Justine, ich sollte es lieber nicht tun, kann ich es auch lassen. Du hast mich am Tage vor Vaters Beerdigung eingeladen, wenn ich Lust hätte, könnten wir ein Weilchen zusammen in Berlin wohnen, damit ich mich zerstreue. Wenn ihr wieder nach Hause fahrt, kann ich euch ja begleiten.“
Frau Justine lächelte süßlich.
„Das geht nicht gut! Mein Mann und ich sind durch die letzten Vorgänge hier so angegriffen, daß wir, verzeihe die Offenheit, einen, wenn auch sonst lieben, Besuch als Störung empfinden würden.“
Bettinas Bitternis strömte über. Sie erwiderte mit bebender Stimme: „Sprich doch, wie du denkst, Tante Justine. Du hast mich eingeladen, solange du in mir die zukünftige Herrin von Zweilinden gesehen hast, weil du dir Vorteile davon versprachst, mit mir auf gutem Fuße zu stehen. Seit du aber weißt, ich gehöre ungefähr in die Klasse der sogenannten armen Kirchenmäuse, ist’s mit der verwandtschaftlichen Liebe aus.“
Frau Justine richtete sich gerade auf. „Ich bitte dich, nicht zu vergessen, daß für verwandtschaftliche Liebe gar kein Grund da wäre. Du bist die Tochter des Dorfschullehrers Claudius, die mein Bruder und seine Frau aus Mitleid nach dem Tode ihrer Eltern ins Haus nahmen. Da wir nun gerade bei dem Thema sind, möchte ich dich bitten, mich nicht mehr Tante Justine zu nennen, sondern Frau von Welten. Das intime Du verschwindet dadurch selbstverständlich auch.“
Bettinas schlanke Gestalt stand regungslos, als sie erwiderte: „Gut, Frau von Welten, ich werde vergessen, daß Sie mich, als Sie nach Vaters Tod hergereist kamen, darum baten, Sie Tante Justine und Du zu nennen. Sie waren früher so selten hier, daß ich ganz gut ohne die Vertraulichkeit ausgekommen wäre.“
„Du bist unverschämt!“ zischte Frau Justine von Welten.
Bettina schüttelte den Kopf. „Nur wahr bin ich. Im übrigen ersuche ich Sie, Frau von Welten, mich Fräulein Claudius zu nennen und ebenfalls nicht mehr zu duzen. Dergleichen ist mir sehr unangenehm von Fremden.“
Zorn entstellte die harten Züge Frau Justines.
„Du dreistes Geschöpf, was nimmst du dir heraus? Jetzt begreife ich meinen Bruder. Er hat schon gewußt, was er tat, als er kein Testament zu deinen Gunsten machte. Wer weiß, wieviel Ärger du ihm bereitet hast.“
„Vater und ich verstanden uns sehr gut“, rief Bettina erregt. „Es ist abscheulich und häßlich von Ihnen, so etwas zu sagen. Gehen Sie aus meinem Zimmer! Ich möchte allein sein. Ich gräme mich um den Vater und habe keine Lust zu Zänkereien.“
„Du weist mich aus dem Zimmer? Du mich?“ Frau Justine japste nach Luft. „Nun, ich werde mir das merken. In kurzer Zeit werde ich hier Herrin sein. Komm mir dann nie mit einer Bitte. Für dich ist niemals etwas da und niemals Platz auf Zweilinden.“
Bettina zwang sich zur Ruhe. Es war zu widerwärtig, wie diese Frau aus der Rolle der liebenden Tante gefallen war. Sie sagte nur leise: „Ich wiederhole, ich heiße für Sie Fräulein Claudius. Vergessen Sie es nicht, Frau von Welten.“
Die andere drehte ihr schroff den Rücken und ging, die Tür hinter sich zuknallend.
Bettinas Hände fuhren empor, deckten einen Augenblick die gemarterten Ohren. Wie rücksichtslos war diese Frau, sich so in einem Trauerhause zu benehmen!
Sie ging dann und riegelte zu, packte mit tränenschweren Augen weiter ihre Sachen zusammen.
Später klingelte sie einem der Mädchen, bat es, einen Koffer vom Boden zu holen.
Das Mädchen zuckte die Achseln.
„Die Kofferkammer ist auch zugeschlossen worden und das Schloß versiegelt.“
„Dann helfen Sie mir, bitte, Martha, meine Sachen ins Inspektorhaus hinübertragen. Ich werde vorläufig bei Herrn Flügge wohnen.“
Martha nickt. „Aber gerne helfe ich Ihnen, gnädiges Fräulein. Unsereins hat ja gar nichts mehr zu tun, alle Räume sind ja verschlossen und unter Siegel. Sie haben recht, fortzugehen vor der Zeit. Ich möchte auch am liebsten vor dem 1. Juli weg, aber ich hoffe immer noch, es geschieht ein Wunder, und Sie werden doch die Erbin von Zweilinden.“
Martha war schon seit zehn Jahren hier in Stellung und begriff nicht, daß nun alles plötzlich so gekommen war. In ihren Augen blitzten Tränen.
Bettina legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Ich danke Ihnen dafür, daß Sie so denken, Martha, aber auf das Wunder brauchen Sie nicht zu warten. Ich werde niemals die Erbin von Zweilinden werden. Entweder kommt Ottfried von Zweilinden, der als verschollen gilt, zurück – es wird gründlich nach ihm geforscht – oder Frau von Welten erhält Gut Zweilinden.“
Martha seufzte und erklärte: „Bei der bleibe ich überhaupt nicht! Der Diener Anton sagt auch, sie sei unausstehlich und quäle alle Menschen, die sie nicht für voll nimmt. Uns Dienstboten aber nimmt sie nicht für voll.“
Bettina lächelte matt. „Beruhigen Sie sich, Martha, mich nimmt sie auch nicht für voll.“
Sie schickte das Mädchen hinüber zum Inspektor und ließ bestellen, sie würde schon heute, schon in einer Stunde kommen, um von seiner Gastfreundschaft Gebrauch zu machen.
Er erschien daraufhin selbst und half mit bei dem kleinen Umzug.
Eine hübsche, helle Stube mit dem Blick auf die Felder und auf eine Waldecke war Bettinas neues Heim. Hier hängte Bettina zuerst das Bild ihrer Eltern auf, dann das ihres Pflegevaters und seiner Frau, danach räumte sie ihre Kleider und ihre Wäsche ein.
Die alte Grete, ein kleines Weiblein mit schneeweißem Scheitel und einem falschen, rostroten Zopf, half ihr dabei. Endlich war sie allein. Es war inzwisehen schon spät geworden. Grete brachte ihr Tee und belegte Brote, und zum ersten Male seit dem Tode des Pflegevaters aß sie mit Appetit. Das Herumkramen, die neue Umgebung hatten sie abgelenkt. Sie schlief tief und fest in dieser ersten Nacht im Inspektorhause, erwachte erfrischt und ausgeschlafen.
Sie erhob sich, wusch sich und kleidete sich an, stand dann ein Weilchen am geöffneten Fenster und freute sich des Sonnenmorgens. Von den Feldern kam der Geruch der Erdscholle, und vielleicht mischte sich auch ein wenig von dem herben Duft der Buchen mit hinein.
Sie sog tief den Odem der Heimat ein und versank in Sinnen.
Schwer würde es ihr werden, Zweilinden zu verlassen. Sie scheute nicht davor zurück, eine Stellung zu suchen und sich ihr Brot zu verdienen. Ihr bangte nur davor, aus der Heimat fortzumüssen. Sie hatte sie ja so lieb, die Heimat, das Stückchen gesegnete Taunuserde, mit seinem fruchtbaren Boden, seinem Wald, seinen Bergen, von deren Rücken alte Burgen ins Land schauten bis zum Main und Rhein.
Der Himmel mochte wissen, wo sie eine Stellung fand und wie weit von hier sie das Geschick verschlagen würde! – – –
Ein halbes Stündchen später saß sie beim Frühstück mit dem Inspektor. Er grüßte sie mit derselben Achtung, wie er sie begrüßt hätte, wenn sie die Erbin von Zweilinden gewesen wäre; und Bettina dachte, jetzt erst lernte sie richtig die Menschen kennen. Wulf Speerau, auf dessen Goldechtheit sie geschworen hätte, war ein jämmerlicher Selbstsüchtling, ein Lügner und Betrüger, und Frau von Welten eine Heuchlerin. Martha, das Stubenmädchen aber hatte ihretwegen Tränen in den Augen gehabt, und Inspektor Flügge war zu ihr wie ein guter Vater. Diese beiden Menschen standen hoch über den zwei Adelsträgern.
Aber der Charakter hat eben nichts mit dem Titel zu tun.
Ernst Flügge wollte sich ein Brötchen zurechtmachen. Bettina nahm es ihm aus der Hand, strich es mit Butter und legte es auf seinen Teller. Er schmunzelte, daß sich sein langer weißer Schnurrbart leise bewegte.
„Dunnerlittchen, das laß ich mir gefallen! Denken Sie, Fräulein Claudius, es ist mir altem Krauter in meinem Leben noch nicht passiert, daß mir ein paar hübsche Frauenhände das Brötchen so mundgerecht vorgelegt haben. Aber fein ist das.“
Bettina lächelte und versprach: „Solange ich hier sein werde will ich es immer tun.“
„Dann kommen Sie so bald hier nicht weg“, scherzte er. Er ward ernst. „Ich hörte vorhin von Anton, die Weltens reisen morgen vormittag ab. Es wird ihnen allmählich wohl doch zu unbehaglich werden, sich weiter nur in der Logierstube herumzudrücken, denn sie stehen ja im Herrenhause im wahrsten Sinne des Wortes überall vor verschlossenen Türen.“
Bettina erzählte ihm die gestrige Szene mit Justine von Welten.
Der Alte nickte lebhaft. „Das war so recht Justine von Welten. Nach oben sich bücken und nach unten treten. Wenn Sie die Erbin von Zweilinden geworden wären, würde sie Ihnen so schöngetan haben, daß sie sich hier ständiges Asylrecht herausgegaunert hätte, sie alle Ausgaben gespart und hier die Beschützerin und Verwandte der Herrin von Zweilinden gespielt hätte. Das Biest kenn ich gründlich.“
Er putzte sich seinen Bart mit der Serviette.
„Verzeihung, Fräulein Claudius, ich habe mich wohl ein bißchen zu drastisch ausgedrückt.“
Bettina sah ihn an. „Möglich, aber es stört mich nicht, weil es wahr ist.“
Drüben im Herrenhause packten die Weltens. Sie hatten ihre Koffer im Zimmer behalten und füllten sie nun mit allem, was sie mitgebracht hatten. Frau Justine trällerte dabei vor sich hin, unterbrach sich und meinte: „Hoffentlich dauert es nicht zu lange, bis wir endgültig hierher übersiedeln können. Das aber weiß ich schon heute, Inspektor Flügge fliegt dann ’raus, weil er die Bettina bei sich aufgenommen hat. Sie soll diese Nacht bereits drüben geschlafen haben.“
Sie besprachen das Thema noch ein Weilchen und machten sich dann zum Ausgang bereit. Sie wollten an diesem Vormittag einen längeren Spaziergang unternehmen. –
Am Nachmittag bat Herr von Welten den Inspektor Flügge für den nächsten Morgen um einen Wagen, der seine Frau und ihn ins Dorf bringen könne zur Station.
Flügge machte eine Bewegung des Bedauerns.
„Ich stehe jetzt gewissermaßen auch unter Aufsicht des Amtsrichters und darf Pferde und Wagen nur zu Zwecken benutzen, die mit der Aufrechterhaltung des Gutsbetriebes Zusammenhängen“, erklärte er.
Da flammte Zorn in dem eleganten Welten hoch. „Hol Sie der Teufel, Herr, mitsamt Ihrer Kateridee!“ erregte er sich. Er dämpfte die Stimme und fügte hämisch hinzu: „Vielleicht kommt bald eine Zeit, wo Sie bereuen werden, sich gegen meine Frau und mich so ungefällig benommen zu haben. Es gibt jüngere und leistungsfähigere Inspektoren als Sie.“
Ernst Flügge nickte. „Stimmt auffallend, Herr von Welten, und ich mache von Herzen gern und freiwillig einem jüngeren und leistungsfähigeren Inspektor Platz, wenn Ihre Frau Zweilinden bekommt.“
Welten brummte etwas, was der andere nicht verstand; aber da es bestimmt kein Segenswunsch gewesen, legte der alte Inspektor auch keinen Wert darauf, es zu erfahren.
Am Nachmittag bestellte sich Herr von Welten einen Wagen im Dorf, und am Abend ging das Ehepaar früh schlafen, um am anderen Morgen etwas früher als sonst aufzustehen.