Читать книгу Die stummen Gäste von Zweitlinden - Anny von Panhuys - Страница 9
6. Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Vormittag erschienen auf dem Gute zwei Herren vom Amtsgericht der Kreisstadt in Begleitung des Bürgermeisters des Dorfes Zweilinden und legten vor alle Räume Siegel, damit sie nicht mehr betreten werden konnten.
Bettina durfte ihre Zimmer zunächst behalten; auch den Weltens ließ man ihr Logierzimmer, und die Dienerschaft durfte ihre Stuben weiterbewohnen, aber außer der Küche und der Speisekammer war alles gesperrt worden. Am 1. Juli, das war in fünf Wochen, würde die Dienerschaft entlassen werden. Auch Bettina und das Ehepaar Welten mußten sich dann andere Unterkunft suchen, bis die Erbschaftsangelegenheit geklärt sein würde.
Der alte Inspektor Ernst Flügge jedoch durfte auf seinem Posten bleiben, damit der Gutsbetrieb keinen Schaden erleide. Er sollte die Verwaltung weiterführen wie zu Lebzeiten seines Herrn.
Am Spätnachmittag dieses Tages kam Wulf Speerau. Er wollte ein bißchen horchen, ob Bettina noch nicht wußte, wann die Testamentseröffnung stattfinden würde. Gewöhnlich fand sie doch bald nach der Beerdigung des Erblassers statt.
Bettina empfing ihn in der Halle. Sie erklärte ihm: „Alle Zimmer sind versiegelt vom Amtsgericht aus. Vater hat nämlich kein Testament gemacht, und nun wird Ottfried gesucht. Findet man ihn nicht, erbt Frau von Welten alles.“
Sie befanden sich beide allein in der Halle und hatten seitlich auf einem Ledersofa Platz genommen. Wulf Speerau glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Zum Teufel, er mußte sich verhört haben! Konrad Zweilinden hatte ihm doch an jenem verhängnisvollen Vormittag vorgeworfen, er spekuliere nur auf die reiche Erbin. Also hatte Zweilinden doch in der Pflegetochter seine Erbin gesehen. Trotzdem, wie oft kommt es vor, daß mancher, in kindischer Furcht, dadurch den Tod herbeizurufen, immer wieder hinausschiebt, seinen letzten Willen festzulegen, und nachher gibt es dann ein arges Durcheinander.
Aber schließlich, aus Mangel an Arbeit würden die Herren vom Amtsgericht nicht die Zimmer im Schloß unter Siegel gelegt haben.
Ganz kalt wurde dem Grafen, und ihm ging nun durch den Kopf, daß er, anstatt klug gehandelt zu haben, wie er gemeint, eine kapitale Dummheit gemacht hatte.
„In Kürze wollte Vater ein Testament zu meinen Gunsten machen, sagte Justizrat Eisen“, erzählte Bettina, „aber weißt du, Wulf, mir liegt ja gar nichts daran, ob ich reich oder arm bin. Du hast mich lieb, und ich werde deine Frau. Wenn wir unser tägliches Brot haben, wollen wir zufrieden sein, nicht wahr? Die Hauptsache ist doch, daß wir uns liebhaben.“
Wulf Speerau schwieg, der Kopf war ihm so schwer, als sei er mit Blei gefüllt, und er wußte nicht, was er antworten sollte.
Bettina blickte ihn zärtlich an.
„Die Liebe ist das Schönste und Beste im Leben, und wenn man sich keine wertvollen Kleider kaufen kann, dann kauft man sich eben einfache, und wenn Wein zu teuer ist, dann trinkt man Wasser. Ich muß am 1. Juli hier ausziehen. Ich werde mir überlegen, wo ich bis zu unserer Hochzeit unterkrieche.“
Jetzt kam Wulf Speerau endlich wieder zu sich.
„Weißt du, das ist aber doch ein tolles Stückchen, das sich dein Pflegevater mit dir geleistet hat. Erzieht dich wie eine große Dame, in einer Weise, als wärest du seine leibliche Tochter, und dann läßt er dich zurück als Bettlerin. Gemein ist das, hundsgemein.“
Bettina starrte ihn groß an, erwiderte mit zuckenden Lippen: „Ich bitte dich, Wulf, nie mehr in solchem Tone von meinem Vater zu sprechen. Er hat das, was du ihm vorwirfst, nicht absichtlich getan. Der Tod hat ihn überrascht! Nicht er trägt die Schuld, sondern sein Mörder. Dieser Mensch, den man leider noch nicht aufgespürt hat, dieser verfluchte Mensch, der keine Ruhe auf Erden finden soll.“
Wulf Speerau fuhr sich mit einer Hand über das Haar und atmete rasch und laut.
„Das ist alles Unsinn. Für dich handelt es sich nur darum, daß dein sogenannter Vater dich gründlich in den Dreck gestoßen hat. Was willst du anfangen ohne Geld? Hast ein paar Sprachen gelernt, kannst Klavier spielen, aber damit hört es auch auf. Na ja, reiten und fahren kannst du auch, doch das alles können viele.“
Sie blickte ihn mit immer starrer werdenden Augen an.
„Ich kann auch kochen und wirtschaften, und viel mehr brauche ich als deine Frau doch nicht zu können, glaube ich. Sollte aber noch etwas fehlen, dann lerne ich es rasch.“
Es klang wie eine Frage.
„Ich bin leider kein reicher Mann, der eine Ehe ohne genügenden finanziellen Rückhalt schließen kann. Ich fürchte, wir kämen dadurch beide ins Unglück.“
Bettina spürte ein krampfiges Zucken um ihren Mund.
„Wulf, das ist doch nicht dein Ernst? Das kann dein Ernst nicht sein! Du hast mir beteuert, du liebst mich.“
Ein Spottlächeln huschte über seine Lippen; er neigte sich ein wenig zu ihr nieder, als er antwortete: „Ich will dir ein Geheimnis anvertrauen, ein Geheimnis, das ich für mich behalten haben würde, wenn sich deine Verhältnisse nicht so vollkommen geändert hätten. Ich habe in dir das reiche Mädchen geliebt, mit dessen Hilfe ich auch mein Leben reich hätte gestalten können. Ein armes Mädchen kann ich nicht heiraten, da käme ich nicht vorwärts, nicht in die Höhe. Man lebt nur ein einziges Mal, Fräulein Claudius, und darf deshalb nicht töricht handeln. Ich bitte Sie, mich Herrn und Frau von Welten zu empfehlen.“ Zynisch setzte er hinzu: „Ich hätte lügen können und einen Bruch herbeiführen. Aber wozu so viel Umstände? So ist’s einfacher für uns beide.“
Er verneigte sich lässig und ging, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
Bettina lehnte wie vernichtet in der Ecke des schwarzen Ledersofas. Ihr war zumute, als säße ihr ein Raubvogel im Nacken, der seinen scharfen Schnabel in ihre Schläfen stieß.
Die Tür schnappte ins Schloß.
Bettina erhob sich mit wankenden Knien. Sie konnte nicht, klar denken. Nur die Erinnerung an die späte Mittagsmahlzeit heute drängte sich in den Vordergrund. Sie glaubte wieder die geheimnisvollen Schritte im Bankettsaal zu hören, das Stühlerücken und Gläserklingen.
Zum zweitenmal hatte der Spuk ihr Unglück gebracht.
Als sie die stummen Gäste von Zweilinden zum ersten Mal gehört, war ihr Pflegevater ermordet worden. Nun sie zum zweiten Mal die seltsamen Geräusche vernommen, verlor sie den Mann, den sie liebte.
Und auf welche häßliche Weise hatte sie ihn verloren! Es wäre weniger schmerzhaft für sie gewesen, er wäre gestorben, ohne daß sie erfahren, wie berechnend er war und daß er ihr nur Liebe gelogen, weil er sie für reich hielt.
Sie fühlte eigentlich gar keinen Schmerz; eher konnte man Erstarrung nennen, was sie empfand – Erstarrung, die sich in ungeheure Verachtung auflöste.
Sie ging mit müden Füßen durch die Halle und hinaus in den Park. Langsam schritt sie durch die Wege, ihr Ziel war der Pavillon. Sie trat ein, öffnete einen der Läden, damit es nicht ganz dunkel um sie wäre.
Draußen fing es an zu dämmern. Das verschwimmende Grau des beginnenden Abends drängte sich herein und füllte den ziemlich kahlen Raum mit mystischem Schein.
Bettina blickte sich um und schüttelte den Kopf.
War es wirklich erst so kurze Zeit her, seit sie sich hier in die Arme Wulf Speeraus geschmiegt und er sie „Du Schönste“ genannt hatte? Zum ersten Mal im Leben fing sie an zu begreifen, welche Macht doch das Geld hat. Um seinetwillen heuchelten die Männer sogar Liebe und entehrten dadurch das heilige Gefühl.
Sie ließ sich auf einem der Korbstühle nieder, und die Ellbogen auf die Knie stützend, legte sie den müden Kopf in die Hände. Sie sann, wie schnell hatte sich doch ihr Leben völlig geändert! Vor kurzem noch die umworbene Tochter eines der reichsten Grundbesitzer im ganzen Kreise, war sie jetzt plötzlich wieder die arme Waise, die sich überlegen mußte, auf welche Art sie sich ihr Brot verdienen konnte.
Es gab wohl nur einen Beruf, der für sie in Frage kam. Sie mußte als Gesellschafterin unterzukriechen versuchen. Aber es gab eine Menge arme Mädels wie sie. Es würde nicht leicht sein, da etwas zu finden.
Ein Schatten verdunkelte die offen gebliebene Tür. Inspektor Flügge stand auf der Schwelle und grüßte höflich.
„Verzeihen Sie, Fräulein Claudius. Ich sah Sie vorhin hier eintreten. Erst wagte ich nicht, Sie zu stören, aber dann sagte ich mir, es ist besser, man redet bald über die Dinge, über die schließlich gesprochen werden muß. Entschuldigen Sie vielmals, wenn Ihnen weh tut, was ich berühre. Wir auf dem Gut wissen natürlich schon alle, daß Sie nicht die Erbin von Zweilinden sind, wie wir erwartet haben, und ich meine, die ganze Situation muß für Sie jetzt peinlich sein. Ich weiß genau, der selige Herr hat nicht beabsichtigt, was nun geschehen ist. Die Testamentssache ist von ihm verzögert worden, und Sie haben jetzt den Schaden. Ich weiß nicht, ob ich mich geirrt habe; aber ich glaube, der Graf Speerau interessiert sich sehr für Sie und –“
Bettina unterbrach ihn gequält: „Wo wollen Sie denn eigentlich hinaus, Herr Flügge? Im übrigen irren Sie sich. Der Graf hat, seit er weiß, ich bin keine reiche Erbin, gar kein Interesse mehr für mich.“
Es klang unsäglich bitter.
Ernst Flügge sagte laut: „Ach so, ich verstehe! Aber ein Wunder ist das nicht. Der selige Herr meinte gerade an dem Tage, an dem er in die Kleinstadt wollte und in den Tod fuhr, zu mir, ehe er den Wagen bestieg: Flügge, heute hat Graf Speerau um Bettinas Hand bei mir angehalten. Ich habe ihm ein sehr kühles Nein erwidert und ihm klargemacht, daß er kein zuverlässiger Mensch ist. Denken Sie nur, in Wiesenthal spielt er den Anständigen, und in Frankfurt führt er ein Luderleben. Nee, für so einen Kerl ist mir mein Mädel zu schade!“
Bettina fuhr mit der Hand nach dem Herzen.
„Das hat Vater gesagt? Oh, davon ahnte ich nichts.“
Ihre Verachtung für Wulf Speerau wuchs. Er hatte doch zu ihr gesagt, ihr Vater habe ihm sofort ihre Hand bewilligt, und am Abend hätte eine kleine intime Verlobung gefeiert werden sollen. Nun durchschaute sie den Erbärmlichen vollständig.
Wäre der Vater nicht an jenem Tage erschossen worden, hätte sie wahrscheinlich abends von ihm ausführlich erfahren, was er schon zu dem Inspektor äußerte. Welch ein Lügner war der Mann, den sie so sehr geliebt und den sie jetzt verachten mußte!
Flügge drehte seinen alten Filz hin und her, ehe er sagte: „Ich habe mir gedacht, wenn nun im Herrenhause alles nur noch wie ein Notasyl für Sie ist, wäre es besser, Sie kämen zu mir herüber ins Inspektorhaus. Da brauchen Sie am 1. Juli nicht ’raus und können bleiben, solange Sie wollen. Meine alte Grete ist ein gutes Tier. Die wird gern für Sie mit sorgen, und der Zwang mit den Weltens fällt für Sie weg. Frau Justine ist nur so lange liebenswürdig und angenehm, wie sie sich irgendwelche Vorteile davon erhofft, und ihr Mann ist ein Heuchler. Der selige Herr war auf das Paar nicht gut zu sprechen. Aber das wissen Sie ja. Kommen Sie zu mir, Fräulein Claudius. Ich darf doch die Verwaltung hier vorläufig weiterführen. Sie haben dann ein Dach überm Kopf und brauchen nicht das Gefühl zu haben, nur noch kurze Zeit geduldet zu sein. Bei mir überlegen Sie dann in aller Ruhe, was Sie tun wollen für Ihre Zukunft. Ich helfe Ihnen dabei von Herzen gern.“
Bettina nahm die arbeitsfeste Rechte des Inspektors in beide Hände.
„Vielen Dank für Ihr Angebot, Sie guter Mensch! Sie erweisen mir einen sehr großen Dienst, denn ich leide unter dem Gedanken, daß alle die Zimmer, in denen ich seit Kindertagen frei ein und aus gegangen, jetzt für mich verschlossen sind, weil man fürchtet, ich könnte irgend etwas wegnehmen und beiseiteschaffen.“ Sie stöhnte laut auf. „Lieber Herr Flügge, ich habe gar nicht gewußt, wie gut ich es bisher hatte. Jetzt weiß ich es.“
Sie drängte die Tränen gewaltsam zurück, und dann wanderten sie beide zusammen durch den Park dem Hause zu.
Als sich Flügge verabschiedete, sagte er noch, dabei an seinem langen weißen Schnurrbart zupfend: „Ich lasse jetzt von meiner alten Grete ein Zimmer für Sie herrichten, Sie sind mir jederzeit willkommen.“
Bettina sah eigen reizvoll in dem schwarzen Kleide aus, und der alte Mann blickte ihr nach, als sie auf das Herrenhaus zuschritt, dachte: Wie schade, daß er kein junger Kerl mehr war! Dann hätte er es sich wahrhaftig nicht zweimal überlegt und ihr sofort seine Hand geboten, damit sie davor bewahrt bleibe, sich unter Fremden ihr Brot zu verdienen. Konrad Zweilinden hatte nicht recht gehandelt an ihr. Gewiß, der Tod hatte ihn überrascht; aber wenn er die Verantwortung für ein so junges Geschöpf übernahm, war es seine Pflicht und Schuldigkeit, daß er es nicht hilflos zurückließ.