Читать книгу Die stummen Gäste von Zweitlinden - Anny von Panhuys - Страница 7

4. Kapitel

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Die Mordkommission hatte festgestellt, daß der tödliche Schuß vom Waldweg aus, von der Stelle, wo der Revolver gelegen, auf den Gutsherrn abgegeben worden war, gerade als der Wagen die Kurve nahm und er langsamer gefahren wurde. Aber man fand keinen Anlaß, irgend jemand des Mordes zu verdächtigen. Man glaubte allgemein, ein früherer Knecht von Zweilinden habe aus Rachsucht die Tat begangen. Zur Erntezeit gab es alljährlich so viele fremde Hilfskräfte auf dem Gute, daß es schwer war, da eine Spur zu finden.

Die Leiche Konrad von Zweilindens wurde freigegeben und in dem Erbbegräbnis der Familie auf dem nahen Dorffriedhof zur letzten Ruhe gebracht.

Bettina stand, in düstere Trauergewänder gehüllt, am Grabe und weinte haltlos. Eine Schwester des toten Gutsherrn war mit ihrem Mann, der sich mit dem Verstorbenen sehr schlecht gestanden, aus Berlin gekommen, wo er als Privatgelehrter von dem Vermögen lebte, das seine Frau ihm mit in die Ehe gebracht. Das Paar war äußerst besorgt um Bettina, und das harmlose Mädchen war dankbar dafür. Sie ahnte nicht, daß man ihr nur schöntat, weil sie die Erbin von Zweilinden war.

Die beiden waren einen Tag vor dem Begräbnis angelangt, und Frau Justine von Welten fühlte sich sofort äußerst wohl im Herrenhause, in dem sie so lange gelebt, bis sie sich, sehr gegen den Willen ihres Bruders, mit Dieter von Welten verheiratete, den sie bei Bekannten in Frankfurt am Main kennengelernt. Jetzt aber war der Bruder, der von ihrem Manne nur eben Notiz genommen, nicht mehr da; ein junges Mädchen lebte hier als Herrin.

Es war also Gelegenheit gegeben, sich wenigstens bis zum Winter in ein nettes, behagliches Nest zu kuscheln. Ihr Mann konnte seine Studien machen, wo er wollte, er war an keinen Ort gebunden.

Sie tat mütterlich besorgt um Bettina und war sehr liebenswürdig zu Wulf von Speerau, weil sie in ihm nach dem, was sie gehört, den zukünftigen Herrn von Zweilinden sah.

Nach der Beerdigung führte das Ehepaar Bettina zwischen sich zum Auto.

Die ganze Nachbarschaft hatte sich eingefunden, um Konrad von Zweilinden, der auf so plötzliche, tragische Weise ums Leben gekommen, die letzte Ehre zu erweisen. Man raunte sich zu, Wulf Speerau sei heimlich mit Bettina Claudius verlobt und nun bald einer der reichsten Grundbesitzer weit und breit. Auch von Ottfried Zweilinden redete man; aber der war nicht mehr wichtig. Einer, der zehn Jahre lang geschwiegen, würde auch weiter schweigen, und zu holen war ja hier nicht mehr viel für ihn.

Bettina stieg in das Auto. Ihre Augen brannten von den vielen Tränen, und das Herz lag ihr so schwer in der Brust, so schwer von dem Schmerz um den Vater.

Kaum war man zu Hause angelangt, ließ sich Justizrat Eisen melden, der Rechtsbeistand und Berater des Verstorbenen.

Dieter von Welten, ein sehr eleganter Herr Mitte der Fünfziger, mit schlauen Augen, seine etwas derbknochige Frau und Bettina hatten sich in das Arbeitszimmer des Verstorbenen begeben. Man empfing nun dort den Justizrat, der auch an der Beerdigung teilgenommen hatte. Er grüßte die drei erst durch eine Verneigung und reichte Bettina dann teilnehmend die Hand.

„Ich komme gewissermaßen privat, Fräulein Claudius. Eigentlich ist es Sache des Amtsgerichts, Sie über den rechtlichen Stand der Erbfolge zu unterrichten, und das dürfte auch in allernächster Zeit geschehen. Aber als Freund des Toten, der Sie wie eine Tochter geliebt hat, fühle ich mich verpflichtet, Sie über einiges Wichtige aufzuklären.“

Bettina bot ihm Platz an, erwiderte matt: „Alles, was mit der Erbschaft zusammenhängt, interessiert mich gar nicht. Ich bin noch viel zu durcheinander, um schon jetzt an dergleichen zu denken.“

Justine von Welten neigte den sehr glatt gescheitelten Kopf.

„Ich verstehe unsere Bettina nur zu gut. Sie hat eben ihren Pflegevater sehr liebgehabt, und es ist schmerzlich für sie, sich mit dem Nüchternen zu befassen, das so ein Todesfall im Gefolge hat.“ Sie strich sanft über die Hand Bettinas. „Du solltest aber doch hören, mein Kind, was dir der Herr Justizrat glaubt mitteilen zu müssen. Es ist sehr freundlich von ihm, daß er sich privat bemüht.“

Bettina sah den Justizrat mit großen, verweinten Augen an.

„Ich will zuhören, Herr Justizrat“, sagte sie leise. „Sprechen Sie nur.“

Das Ehepaar wechselte einen verständnisvollen Blick. Es schien ihnen beiden auch wichtig, zu hören, was der Justizrat Bettina mitteilen würde.

Karl Eisen war klein und ein wenig dick. Seine hellbraunen Augen funkelten immer sehr lebhaft hinter dem goldumrandeten Kneifer. Er holte tief Atem. Es schien ihm keine leichte Aufgabe, die er hier erfüllen wollte – nein, mußte! Er hielt sich für verpflichtet dazu.

Er begann: „Sie wurden von Herrn von Zweilinden wie eine leibliche Tochter gehalten, Fräulein Claudius, und ich weiß genau, Sie waren seinem Herzen teuer. Um so mehr, da er keine Kinder besaß; denn sein Sohn lief im Jähzorn und Trotz eines Tages fort und blieb weg. Der Grund dazu war nicht besonders wichtig, wie wir alle wissen, und es paßt wohl in diesem Falle das Sprichwort: Kleine Ursachen, große Wirkungen! Doch zur Sache: Es ist mir sehr, sehr unangenehm, was ich Ihnen jetzt erklären muß, Fräulein Claudius; aber, wie gesagt, ich halte es für meine Pflicht. Ungefähr vierzehn Tage vor seinem jähen Tode war Ihr Pflegevater bei mir, und seltsamerweise sprach er, was er eigentlich nie tat, von seinem Sohn. Er meinte, er wäre damals wohl zu hart zu ihm gewesen, und meinte auch, in nächster Zeit möchte er sein Testament machen. Er würde sich einmal gründlich überlegen, wie er sein Hab und Gut zwischen seinem Sohn und Ihnen teilen sollte. Auch möchte er nach Ottfried suchen lassen. Wenn man ihn nicht fände, deutete er an, bekämen Sie alles. Aber, Fräulein Claudius, das ist nicht die Hauptsache, das Wesentliche ist, Ihr Pflegevater wollte ein Testament machen. Doch er tat es nicht, und da Sie in keiner Weise irgendwie in verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm standen, werden jetzt der Erbschaft wegen vor allem Aufrufe nach Ottfried von Zweilinden erlassen werden.“

Frau Justine hatte hektische Flecke auf den gelblichen Wangen, als sie fragte: „Und wenn mein Neffe Ottfried sich nicht meldet oder gar sein Tod nachgewiesen werden könnte, wie wäre die Erbfolge dann?“ Sie fügte betont hinzu: „Ich bin doch Konrad von Zweilindens Schwester.“

„Leider!“ erwiderte der etwas temperamentvolle Jurist, der Justine von Welten nicht ausstehen konnte.

„Leider? Wie meinen Sie das?“ stellte Welten ihn sofort zur Rede.

Justizrat Eisen machte ein harmloses Gesicht.

„Ausreden lassen, meine Herrschaften!“ erwiderte er ruhig. „Ich wollte sagen: Leider gibt es wahrscheinlich für die Erben eine lange Wartezeit, aber wenn sich der Sohn des Verstorbenen nicht meldet, dürften wahrlich Sie, Frau von Welten, als nächste Blutsverwandte Herrn von Zweilindens die Haupterbin sein. Sie, Fräulein Claudius, sind auf die Großmut der Erben angewiesen. Vielleicht wäre Ihnen später ein Prozeß anzuraten. Da Sie wie eine Tochter des Verblichenen erzogen wurden und bestimmt glauben mußten, daß Ihre Zukunft von ihm sichergestellt werden würde, haben Sie immerhin gewisse moralische Ansprüche, Gründe, die zu Ihren Gunsten ausgelegt werden würden.“

Bettina hatte kaum richtig zugehört. In Gedanken war sie noch am Grabe des Pflegevaters, und ihr erschien nebensächlich und belanglos, was der Justizrat mit Wichtigkeit erklärte.

Sie erwiderte mit tränenerstickter Stimme: „Ich möchte ja gar nichts erben und will mich mit niemand deshalb herumstreiten. Ich verstehe, daß mein lieber Vater es gar nicht so eilig damit hatte, sein Testament zu machen. Er war ja so gesund, so sprühend von Leben und Kraft. Und er lebte ja auch noch und wäre noch viele Jahre am Leben geblieben, wenn es keine hinterhältigen, feigen Mörder gäbe.“ Ihr Gesicht färbte sich, und die blauen Augen schienen vor heißer Erregung fast schwarz. „Ich bin nicht rachsüchtig. Noch nie habe ich einem Mitmenschen etwas Böses gewünscht; aber dem elenden Mörder wünsche ich, falls er nicht noch entdeckt wird und die wohlverdiente Strafe erhält, daß sein Dasein in Armut und Elend führt. Daß es ihm schlecht gehen soll bis ans Ende seiner Tage.“

Der Justizrat nickte. „Ich verstehe Ihren Zorn, Fräulein Claudius. Wir wollen indes hoffen, die Polizei findet den Mörder noch, obwohl es aussieht, als habe die Erde ihn verschluckt. Und jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Mir lag nur daran, Sie vorzubereiten.“

„Ich danke Ihnen, Herr Justizrat“, gab Bettina mit mühsam erzwungener Ruhe zurück. „Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich verzichte gern auf die Erbschaft.“

Sie dachte an Wulf Speerau, der sie liebte und sie nun wohl so rasch wie möglich heiraten würde, damit sie immer bei ihm bleiben durfte. Er liebte sie ja so sehr. Daran mußte sie glauben und sich über den Tod des Vaters damit zu trösten suchen, daß Gottes Wege unerforschlich waren.

Der Justizrat schüttelte den Kopf.

„Sie sehen alles anders, als ich es sehe, Fräulein Claudius. Ich bitte Sie jedenfalls, wenn Sie irgendeinen Rat brauchen oder eine Hilfe, sich an mich zu wenden. Ich stehe sofort zu Ihrer Verfügung.“

Als er fort war, entschuldigte sich Bettina bei dem Ehepaar und suchte ihr Schlafzimmer auf.

Sie sehnte sich nach einem Stündchen des Alleinseins, um sich zu sammeln.

Das Bild ließ sie nicht los, wie man den Sarg des Pflegevaters in die kahle Erdgrube gesenkt hatte, unter den steinernen Baldachin, der das Erbbegräbnis überdachte.

Nachdem sie gegangen war, blickte sich das Ehepaar lange an, und Dieter von Welten schmunzelte: „Wenn sich der Bengel, der Ottfried, nicht meldet, dann erbst du den ganzen Krempel, Weib meines Herzens. Das wäre wirklich eine feine Sache. Ich male mir das schon aus, ich hier als Herr von Zweilinden und du als Herrin. Donnerwetter, sollte das ein Leben werden!“

„Was würde aber aus Bettina?“ fragte seine Frau.

„Sie wird den Grafen Speerau heiraten“, antwortete er. „Man gibt ihr dann eine nette Aussteuer. Das sieht nobel aus und kostet nicht viel.“

Beide lachten sich an und stellten sich vor, wie sie hier leben würden, wenn ihnen das Erbe zufiele, wozu sie doch alle Aussicht hatten.

Ein Mädchen kam und suchte das gnädige Fräulein, sie müsse sie etwas fragen. Die Dienstboten sahen jetzt alle in Bettina die Herrin.

Justine von Welten sagte scharf: „Sie meinen mit dem gnädigen Fräulein doch Fräulein Claudius, nicht wahr? Vielleicht kann ich Ihre Frage auch beantworten. Vergessen Sie, bitte, nicht, ich bin die Schwester des Verstorbenen und hier groß geworden.“

Es klang hochmütig.

Das Mädchen antwortete eingeschüchtert: „Die Köchin schickt mich. Ich möchte das gnädige Fräulein nur fragen, ob das Essen heute lieber unten im Bankettsaal angerichtet werden soll? Damit sich das gnädige Fräulein im Eßzimmer nicht zu sehr daran erinnert, daß sie dort immer ihrem Vater gegenübergesessen hat.“

Seit dem Tode Konrad von Zweilindens hatte man Bettina die Speisen in ihrem Wohnzimmer serviert. Sie hatte allerdings herzlich wenig davon genossen.

Frau Justine plusterte sich ein wenig auf. Sie fühlte sich schon ganz als Herrin hier.

„Es ist ziemlich warm, und es wäre, abgesehen von jeder Rücksicht, überhaupt ganz nett, wenn wir im Bankettsaal speisen würden. Also soll dort aufgetragen werden.“

Das Mädchen ging, und Justine von Welten meinte zu ihrem Mann: „Ich werde den Dienstboten bald beibringen, daß ich jetzt hier die Hauptperson bin und nicht mehr das Schullehrermädel.“ Sie lächelte. „Erinnerst du dich an die alte Sage, die ich dir früher einmal erzählte, Dieter, die im Bankettsaal spielt? Wir standen mit Konrad immer schlecht. Ich glaube, außer bei unserer Hochzeit hast du den Bankettsaal gar nicht gesehen. Schau ihn dir heute nur ordentlich an.“

„Ich erinnere mich wirklich an keine alte Sage, die du mir erzählt hättest, Justi“, erklärt er, und seine Augen lächelten sie an. Was tut man nicht dem Mammon zuliebe!

Dieter von Welten lebte von dem Vermögen seiner Frau sorglos, aber nicht wie ein reicher Mann. Doch jetzt bestand die Aussicht, es bald zu können. Und solch einer Frau muß man ein bißchen schöntun.

Frau Justines hellblaue Augen, die von spärlichen Wimpern umrahmt waren, blickten verträumt.

„Du weißt, vor ungefähr zweihundert Jahren ist Zweilinden erbaut worden, und unter dem Sohn des Erbauers, Kraft Erdmann von Zweilinden, der ein großer Sonderling gewesen sein soll, zeigte sich der Spuk zum ersten Male. Ich drücke mich falsch aus“, verbesserte sie sich, „es ist merkwürdigerweise kein Spuk wie üblich. Ich meine, man hört ihn nicht sprechen, und doch müssen es Geister sein, die sich bewegen. Man vernimmt ihre Schritte, hört, wie sie sich Stühle zurechtrücken und wie sie Glaskelche aneinanderklingen lassen. Man nennt den Spuk: Die stummen Gäste von Zweilinden!“

„Nun, gar so stumm scheinen sie doch eigentlich gar nicht zu sein, die seltsamen Herrschaften, Justi“, spöttelte der Mann. „Übrigens erinnere ich mich jetzt, du hast mir früher mehrmals davon gesprochen. Aber man vergißt solche Dinge. Also gehören die stummen und körperlosen Gäste von Zweilinden zur Klasse der Poltergeister, scheint mir.“

Seine Frau lachte. „So ist es! Allzu oft machen sie sich hier ja gerade nicht mausig. Zwischen ihren verschiedenen Debüts vergeht immer geraume Zeit. Aber es heißt, sie treten stets dann auf, wenn Zweilinden ein Unglück droht. Dann hört man vorher im Bankettsaal Schritte mehrerer Menschen, obwohl man niemand sieht. Danach werden Stühle gerückt, ohne daß sich ein Stuhl bewegt, und schließlich klingen feine Gläser aneinander, so, wie wenn man vor dem Trinken eine Gesundheit ausbringt und mit den Gläsern anstößt. Damals, zur Zeit Kraft Erdmann von Zweilindens, soll man die unsichtbaren Gäste oft gehört haben, und kein Besuch hätte sich schließlich mehr hier sehen lassen, steht in der alten Kirchenchronik, in der es auch heißt, er sei ein eigentümlicher, sonderbarer Mann gewesen, der Kraft Erdmann, der bessere Freundschaft mit den Sternen und dem Getier gehalten als mit den Menschen. Verschiedentlich im Laufe der langen Zeit wollen Glaubwürdige den sonderbaren Spuk vernommen haben; ich aber habe ihn, so sehr ich mich als Kind und auch später dafür interessierte, niemals gespürt.“

Dieter von Welten lachte.

„Ein origineller Spuk. Er fällt völlig aus dem Rahmen der weißen Frauen und grauen Nonnen und ollen Ritter. Ich würde mich freuen, wenn die sogenannten stummen Gäste von Zweilinden, die ja eigentlich genug Radau machen, uns einmal das Vergnügen bereiten würden. Mir wären sie hoch willkommen!“

Dann rückte das Paar zusammen und begann eine eifrige Flüsterunterhaltung. Sie drehte sich um die Erbschaft. In den Augen der beiden brannte die Gier nach dem Reichtum, den Konrad von Zweilinden hinterlassen.

Wenn sie dieses Geld erst hätten! Das war ihr einziger Wunsch, diese Gier nach der reichen ErbSchaft.

Dann konnte ihnen doch alles andere ganz gleichgültig sein.

Die stummen Gäste von Zweitlinden

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