Читать книгу Die stummen Gäste von Zweitlinden - Anny von Panhuys - Страница 8
5. Kapitel
ОглавлениеAls zum Essen gerufen wurde, benachrichtigte man auch Bettina. Sie entriß sich gewaltsam ihrem Gram. Sie wollte stark sein, Wulf zuliebe. Vielleicht erschien er noch gegen Abend, und sie durfte ihn nicht mit dick verweinten Augen begrüßen. Ihr Schmerz war der seine, tat ihm so weh wie ihr, weil er sie liebte.
Sie wollte auch etwas essen; sie mußte doch einmal in die Gewohnheiten des Alltags zurück.
Sie betrat den Bankettsaal ein wenig zögernd. Lieber hätte sie im Speisezimmer gegessen als hier, obwohl ihr weh tat, den Platz des Vaters leer zu sehen. Aber hier unten überfiel sie die Erinnerung an den Spuk der Mitternachtsstunde, als sie aus den Armen des Liebsten gekommen. Wenn sie auch wollte, sie konnte nicht mehr mit ein paar beliebigen Erklärungen über das Erlebnis hinwegkommen, denn am nächsten Mittag war ihr Vater ermordet worden. Sie glaubte jetzt an die stummen Gäste von Zweilinden und daß sie Unheil verkündeten.
Sie nahm Platz. Der Diener servierte lautlos. Man sprach nicht viel während des Essens. Bettina würgte von allem ein paar Bissen hinunter und hörte still zu, wenn Justine von Welten und ihr Mann ein paar Worte über das herrliche Wetter oder über die Speisen wechselten. Da der Diener anwesend war, fiel es Justine von Welten nicht ein, das Thema zu berühren, das ihr jetzt das wichtigste und interessanteste schien: das schöne Thema der Erbfolge.
„Warum sind die Läden halb zu?“ wandte sich Herr von Welten an den Diener.
Dieser erwiderte höflich: „Ich glaubte, die Sonne würde die Herrschaften vielleicht belästigen. Sie scheint gerade auf die Tafel hier.“
„Unsinn!“ erwiderte Dieter von Welten. „Machen Sie die Läden weit auf. Sonne und Luft sollen voll herein.“
Es fiel ihm nicht ein, Bettina zu fragen, ob ihr diese Anordnung recht war.
Gestern, ja, sogar heute vormittag hätte er es noch getan; aber nun er wußte, sie war nicht die Erbin, die er bisher in ihr gesehen, hielt er jede besondere Rücksicht für überflüssig. Das einzige, was ihm noch an Bettina imponierte, war, daß sie die Frau des Grafen Speerau werden würde.
Der Diener erfüllte sofort den gegebenen Befehl; aber er beugte sich ein bißchen ungeschickt aus dem Fenster, um die Läden ganz zu öffnen, und stieß sich dabei ziemlich stark an den Ellbogen.
Tölpel, dachte Frau Justine; aber ihr tat der energische Stoß, den der Diener erhalten, ja nicht weh. Sie ließ sich noch einmal den Kalbsbraten reichen, es schmeckte ihr ausgezeichnet. Infolge der Aussicht, bald eine sehr reiche Frau und die Herrin hier zu werden, schmeckte ihr alles gleich noch einmal so gut.
Der Diener hielt die Schüssel, und Frau Christine legte ein paar Scheiben des Bratens auf den Teller. Bettina dachte unwillkürlich, wie konnte nur eine Frau, deren Bruder man heute zu Grabe getragen, so großen Appetit entwickeln!
In diesem Augenblick erklangen plötzlich Schritte, tappten durcheinander über den Fußboden.
Die drei am Tische vergaßen das Weiteressen und starrten sich an. Die Schüssel, die der Diener hielt, fing an, sich zu bewegen, so sehr zitterten die Hände des Mannes, weil nun Stühle gerückt wurden, ganz nahe, als schöbe man ein paar der leeren Stühle hier an der Tafel zurecht. Und jetzt klangen feine Kelche aneinander, obwohl weder Herr von Welten noch seine Frau oder Bettina Claudius ihre Gläser berührten.
Der Diener Anton trat zurück und stellte die Schüssel auf die Kredenz. Er sah kreidebleich aus, und Frau Justine fragte ärgerlich: „Was ist Ihnen denn nur?“
Er stotterte: „Gnädige Frau müssen es doch eben auch gehört haben – ich meine die Geräusche – und gnädige Frau kennen doch sicher die Sage von den stummen Gästen von Zweilinden.“
Frau Justine wechselte einen Blick des Einverständnisses mit ihrem Manne, sah Bettina warnend an und erwiderte: „Sie müssen geträumt haben, mein Lieber. Ich habe gar nichts gehört. Ich war nur verblüfft über Ihr Benehmen, und ebenso ist es meinem Mann und Fräulein Claudius ergangen.“
Man durfte vor den Dienstboten nicht zugeben, daß doch etwas an dem Spuk war. Sie wollte noch einen Satz hinzufügen, aber schon bei der ersten Silbe stockte sie, denn wieder vernahm man das helle Gläserklingen.
Frau Justine hatte graufahle Wangen, und Bettina sagte mit zitternder Stimme: „Anton hat ganz recht, es ist zum Erschrecken. Warum wollen wir uns denn etwas vormachen, wenn wir doch alle dasselbe gehört haben?“ Sie erhob sich. „Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin seelisch durch den Tod meines Vaters schon so sehr herunter, daß ich mich davor fürchte, den Spuk vielleicht noch einmal hören zu müssen.“
Dieter von Welten lachte so laut, daß es scharf von den Wänden widerhallte.
Oh, wie häßlich war das laute Spottlachen in einem Trauerhause!
Bettina drückte ihr Taschentuch vor die Augen und entfernte sich so hastig, als sei sie auf der Flucht
„Gehen Sie auch gleich“, rief Justine dem Diener zu, „sonst werfen Sie vor Angst noch das ganze Geschirr hin! Wir bedienen uns allein weiter. Aber eins bitte ich mir aus: Machen Sie durch den Mumpitz nicht das ganze Personal konfus. Erfahre ich, daß Sie Ihre Einbildungen als Wahrheit weitererzählen, werden Sie nicht mehr lange in diesem Hause sein. Und jetzt gehen Sie!“
Anton ließ sich das nicht zweimal sagen; er verschwand schleunigst. Wenn er über den gräßlichen Spuk nicht reden sollte, auch gut, er konnte schweigen.
Das Ehepaar aber sah sich an, und der Mann fragte leise: „Was hältst du von der Geschichte? Glaubst du, daß sich jemand hier einen dummen Witz mit uns erlaubt hat?“
Seine Frau zuckte die Achseln.
„Wie kann ich das wissen? Ich weiß nur, daß man diese Geräusche, die wir eben gehört haben, wenn ich nicht irre, laut Kirchenchronik schon im Jahre 1740 gehört haben will.“
„Quatsch!“ brummte Dieter von Welten etwas ungalant. Doch gleich darauf blickte er betroffen seine Frau an, denn schon wieder stießen feingeschliffene Gläser mit hellem Klang aneinander; dann wurden Stühle gerückt.
Frau Justine erhob sich überstürzt.
„Ich muß bekennen, ich habe jetzt auch genug. Es ist verdammt ungemütlich in der Gegenwart dieser Gäste, die man nicht sieht, die kein Wort sprechen und doch so deutlich ihr Vorhandensein kundtun.“
Ihr Mann schob ebenfalls seinen Stuhl zurück. Obwohl er noch kurz vor dem Essen zu seiner Frau geäußert, er möchte die stummen Gäste von Zweilinden gern kennenlernen und sie wären ihm hoch willkommen, war ihm jetzt nicht ganz wohl zumute. Er brummte: „Ich werde die Geschichte gründlich untersuchen und dem Unfug schon auf die Spur kommen.“
Seine Frau wollte antworten, doch sie schwieg entsetzt. Schritte wurden laut. Es war, als gingen mehrere Personen an ihr vorbei, obwohl kein Mensch zu sehen war. Dann verstummten die Schritte. Die seltsamen, spukhaften Gäste hatten den Bankettsaal verlassen.
Schleunigst folgte ihnen das Ehepaar; beide fürchteten, der Spuk könne wiederkehren.
In ihrem Zimmer aber lag Bettina auf dem Bett und weinte bittere Tränen. Ihre Nerven waren völlig überreizt.
Sie sann, das vorige Mal hatten die stummen Gäste von Zweilinden wirklich Unglück angekündigt; wer weiß, was für ein neues Unglück sie meldeten. Ihr Herz schlug ganz matt, von einer dumpfen Angst gequält, und sie empfand zum erstenmal, was sie bisher noch nie gekannt, Furcht vor dem Leben.
Sie war froh, daß Wulf Speerau nicht kam, und sie verließ ihre Zimmer nicht mehr.