Читать книгу Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma - Страница 11
IN DEN BERGEN
ОглавлениеEin rutschiger Fahrdamm, der sich bergauf wand. Zu beiden Seiten geschützt von dunklen Fichtensäumen. Zwei Menschen gingen ihn langsam hinauf. Am Vortag hatte es geschneit, man konnte ausgleiten. Deshalb stützte der Mann mit seiner Hand öfter den Ellenbogen der Frau. Die Frau lief gleichgültig weiter, als würde sie seinen stillen Beistand nicht bemerken. Der Fahrdamm wand und wand sich. Dort oben, hoch über den Fichtenkronen, erwarteten sie die gestreiften Gebirgskämme. Felsen, Schnee und in Wellen ziehende Wolken warteten auf sie.
Rasch wurde es dunkel, deshalb konnte der Mann den Blick der kleinen Frau nicht sehen. Ihre winzigen Schritte und ihre kleinen Schühchen mit den schiefen Hinterkappen ließen den Mann schweigen. Wie verzaubert beobachtete er ihre schlanken Füße und zählte die Schritte. Sechshundertvierundzwanzig, oder vielleicht … achthundert. Die Zahlen gerieten ihm durcheinander …
Sie hatte ihn am Bahnhof empfangen und, nach eineinhalb Jahren Trennung, nur vier Worte zu ihm gesagt: »Bist du nicht müde?« Aus irgendeinem Grund hatte sie sich nicht an seine wartende Brust geschmiegt und war nicht eingetaucht in die Seen seiner blauen Augen. Vier Worte, sonst nichts. Und der rutschige Fahrdamm, die dunklen Fichtensäume, die schiefen kleinen Schuhe, das Durcheinander der Zahlen. Warum? Diese Frage würgte ihm die Kehle ab, sie stieg unwillkürlich in ihm hoch. Nach eineinhalb Jahren …
Wo war sie gewesen? Die Bedeutung dieser drei Wörter verstand der Mann ganz genau, sie hatten sich in sein Gehirn eingebrannt. Damals, dort, in Litauen – plötzlich war die Front da – war er im Gebell der Maschinengewehre als Erster durch diesen engen Graben gekrochen. Als Erster, um sie zu beschützen. Um als Erster der Gefahr ausgesetzt zu sein. Dann endete der Graben, und ganz in der Nähe ragten die Mauern eines Gehöfts auf, aber dorthin musste man etwa einhundert Meter rennen, und die Maschinengewehre bellten zudringlich. Sie hatte Angst und beschloss zurückzubleiben. Bis die MGs verstummen würden und er sich in diesem Gehöft umgeschaut hätte. Und der Mann war mit angehaltenem Atem diese einhundert Meter gerannt. Er erreichte den verfallenen Hof. Dort warteten Menschen, Fuhrwerke und Pferde auf Ruhe. Um zu fliehen, fort. Und wirklich, eine Stunde später schwiegen die Maschinengewehre, und er traf einen guten Bekannten und erbat zwei Plätze auf einem Fuhrwerk.
Dann kehrte er zu dem Graben zurück. Der Graben war leer. Sie war weg. Was nützte es, dass der Mann auf dem Feld herumirrte und schrie, bis er heiser wurde, und dass er später weinte. Und als er das Weinen vergessen hatte, kitzelte das Salz der Tränen seine Wangen, und dieses seltsame Gefühl weckte in ihm den Wunsch, leise zu heulen. Dennoch holte ihn der Wahnsinn wieder ein; gegen Abend bellten, wie auf Verabredung, die Maschinengewehre wieder los, und der Mann ging allein weiter, fort. Ins Ungewisse.
Und eineinhalb Jahre lang …
Oh, er kannte die in sein Gehirn eingebrannten Wörter: Wo ist sie?
Deshalb suchte, deshalb fand er sie. Und jetzt, da sie zu zweit höher und höher hinaufgingen, betrachtete er furchtsam die gestreiften Gebirgskämme und zählte die Schritte ihrer schlanken Füße. Sechshundertvierundzwanzig, oder vielleicht achthundert …
Plötzlich endeten die dunklen Fichtensäume, der Fahrdamm vollzog eine jähe Wendung, und das Gebirge stand direkt vor ihnen, auf der rechten Seite. Sie fürchteten sich nicht vor der Nacht, denn auf den Gipfeln leuchtete der Schnee, vielleicht auch der Widerschein der am Himmel aufgegangenen Sterne. Hier, auf der rechten Seite des Fahrdamms, lauschte der Abgrund ihren Schritten. Unten drängten sich die Lichter des Dorfs aneinander, und die unerträgliche Stille entrang dem Gaumen des Mannes fünf Wörter:
»Wie hast du dich gerettet?«
Die Frau wandte ihm ihr Gesicht nicht zu. Er hörte zum zweiten Mal ihre geliebte Stimme. Sie war ein bisschen heiser und sehr eintönig:
»Ich habe abgewartet, bis es ruhig war, und dann wurde ich von Soldaten entdeckt. Sie waren mit einem Lastwagen unterwegs, du weißt, auf dieser Landstraße. Sie haben mich mitgenommen.«
»Warum bist du nicht in das Gehöft gekommen?«
Die Frau wandte sich noch immer nicht zu ihm um. Den folgenden Satz sprach sie ganz heiser aus:
»Sie hatten keine Zeit. Sie hatten es eilig. Sie haben mich auf die andere Seite mitgenommen.«
Jetzt verschwanden die Sterne. Die Frau und der Mann spürten den lautlosen Schnee fallen. Eine Schneeflocke taute auf den langen Wimpern der Frau. Sie schüttelte ihren Kopf, und das erinnerte den Mann an ein Spiel, das die beiden gespielt hatten, als sie jung waren. Damals war er gern überraschend an sie herangetreten und hatte ihre Nackenbeuge geküsst. Hier, ein kleines Stück unter dem Hinterkopf. Und dann hatte sie genau so ihren Kopf geschüttelt. Und sie hatten beide gelacht, wie kleine Kinder. Und dann hatten sie sich richtig geküsst. Jetzt wurde die Frau von einer Schneeflocke geküsst, und seine Berührung an ihrem Ellenbogen spürte sie nicht einmal. Der Mann schüttelte selbst seinen Kopf, und sein Blick glitt nach rechts, aber das Gebirge war nicht mehr auf der rechten Seite.
Milliarden Schneeflocken hingen zwischen dem Gebirge und den beiden, die seinen grauen Schleier erklommen. Und hinter dem Schleier, schien es, war die Unendlichkeit. Und sie schien bedrohlich, diese Unendlichkeit, es war, als lauerte hinter dem undurchsichtigen Grau ein grausamer Herrscher – das Schweigen der Berge, das sie zerschmelzen konnte wie die Schneeflocke, die sich auf den Wimpern der Frau aufgelöst hatte. Dieser Gedanke machte dem Mann Angst, seine Nerven waren in diesen eineinhalb Jahren zermürbt, das Entscheidende war die ständige Frage – wo ist sie? Deshalb drückte er, nach Rettung suchend, ihren Arm zusammen. Etwas zu hart, ein wenig über dem Ellenbogen.
Da wandte sich die Frau zu ihm um. Ihre Gesichtszüge waren undeutlich und grau, und er verstand nicht, was sie fühlte. Der Mann hielt sie fest, er zog sie mit beiden Armen an sich, wahrscheinlich zu stark, denn die Frau stöhnte auf. Und dann sog er mit dem Blick ihr geliebtes Gesicht ein. Er sehnte sich sehr danach, die blauen Seen ihrer Augen zu sehen. Aber das, was er sah, war schlimmer als diese bedrohliche Unendlichkeit. Sie lächelte, töricht, ja geradezu idiotisch. Dieses Lächeln war ihm neu und unbekannt, ein Erzeugnis der vergangenen eineinhalb Jahre. In diesem Lächeln mischte sich alles: Angst, der Wunsch zu gefallen, und ganz gewöhnliche Unterwürfigkeit. Und außerdem erinnerte ihn dieses Lächeln an andere, betrunkene, schiefe Arten von Frauen zu lächeln. Er versuchte ein letztes Mal, die Seen ihrer blauen Augen zu finden, doch ihre Augenhöhlen waren von derselben Farbe wie die wenigen Fichten, die im Schneegestöber zu sehen waren. Er spürte selbst nicht, wie er laut aufschrie, und der Abgrund gab seine Worte zehnmal zurück.
»Warum bist du nicht auf den Hof gekommen?«, schrie er und drückte heftig mit den Fingern ihre schlanken, einst so reizvollen Hände zusammen.
»Sie waren zu zehnt. Glaube ich. Sie begehrten mich. Sie flößten mir ein starkes Getränk ein. Genau erinnere ich mich nicht, wahrscheinlich waren es zehn. Und dann … war ich mal hier, mal da. Bis ich wieder hinausgeworfen wurde. Und das geht so bis jetzt. Gehst du mit mir in ein Lager? Möchtest du vielleicht die genauen Zahlen dieser eineinhalb Jahre wissen? …«
Den letzten Satz schrie die Frau mit der heiseren Stimme einer Trinkerin. Und die dunklen Fichten warteten auf ein Urteil. Die Schneeflocken fielen lautlos. Und einige schmolzen auf den Wimpern der Frau. Der Mann verstand nicht, warum die Schneeflocken, die auf ihrem Gesicht schmolzen, salzig waren. Er wusste, dass er heulen wollte, wie damals in den Feldern an dem Gehöft.
Jetzt drückte er sie sehr sanft an sich und küsste ihre Augenhöhlen. Dort hatten vor langer Zeit blaue Seen gestrahlt. Die beiden standen in einer Umarmung da und schwiegen. Bis sie von Milliarden lautlosen Schneeflocken weiß wurden. Und die versteckten Gebirgskämme und die im Dunkeln schmelzenden Fichten – warteten. Schon kam die Nacht.
Doch die beiden blieben nicht zusammen stehen. Sie lösten sich ohne Worte voneinander, und der Mann ging bergabwärts, und die Frau bergauf. In der Stille, der bedrohlichen Stille der Berge. Sie trennten sich zum letzten Mal. In einer dunklen Nacht in den Bergen, als der Krieg schon längst zu Ende war.