Читать книгу Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma - Страница 15
III
ОглавлениеDie letzte Bombe fiel neben ein kleines Hotel. Das kleine Hotel stand am Stadtrand, und wenn der lächelnde Jack sich nicht seine blonde Frau in Erinnerung gerufen hätte, wäre die letzte Bombe wahrscheinlich auf das Stadtzentrum gefallen. Wahrscheinlich wäre dann das zweigeschossige kleine Hotel heil geblieben, und die Familie, die in einem Winkel des engen Kellers kauerte, hätte das Siegel des Todes nicht zu spüren bekommen. Sie saß während des Fliegeralarms immer an den rechten Rand des Raums gedrängt. Hier schien ein vergittertes Lämpchen, und der Mann mit dem kahlen Hinterkopf las dann immer ein Buch. Es war das einzige Buch, das er aus Litauen mitgebracht hatte. Der zweite Band der Weltgeschichte von H. G. Wells. Warum ausgerechnet dieser im Koffer gelandet war, daran konnte sich der Mann nicht mehr erinnern. Tatsache war, dass er ihn besaß und immer im Luftschutzkeller las, weil das Lesen die Angst ein bisschen unterdrückte. Und das Anfluten der Angst hing von den nahenden Einschlägen und von dem zitternden Köpfchen des Kindes ab, das sich an die Schulter seiner Mutter schmiegte. Der emsige Leser der Weltgeschichte verbrachte diese ungemütlichen Stunden mit seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn. Ja, das Trio saß immer in dieser Ecke, hier schien das vergitterte Lämpchen und die Gewölbedecke über ihren Köpfen war doppelt gemauert, deshalb war es gleichsam gemütlicher, gleichsam sicherer.
An diesem Abend saßen sie ruhig da. Das Stadtzentrum wurde bombardiert, und von den dumpfen Einschlägen bebten nur die feuchten Wände. Schließlich beruhigten auch sie sich. Es stand zu hoffen, dass bald Entwarnung gegeben würde. Die sechs alten Deutschen, die in der Mitte des kleinen Kellers saßen, unterhielten sich laut. Der Mann mit dem kahlen Hinterkopf löste den Blick vom Buch. Er verspürte den Wunsch, das Köpfchen seines Kindes zu streicheln. Doch das Kind schlief mit geöffnetem Mündchen, an die Brust der Mutter geklammert, und der Blick des Mannes sog das Gesicht seiner Lebensgefährtin ein. Die Lampe von fünfundzwanzig Watt erzeugte wenig Licht, das Gesicht der Frau war mit Schatten bedeckt, aber ihre dunklen Zöpfe krönten wie ein strahlender Kranz das geliebte Gesicht. Der Mann war stolz auf die Zöpfe seiner Frau. Durch sie hatte sie sich von vielen anderen unterschieden, als die beiden sich in Litauen zum ersten Mal begegneten, im bescheidenen Lehrerzimmer eines Gymnasiums in der Provinz, und diese seiner Ansicht nach wunderbare Eigenheit hatte sie bis zum heutigen Tag beibehalten.
»Was siehst du mich so an?«, fragte sie, und der Mann fand nicht gleich eine Antwort. Da lächelte sie mit geschlossenen Lippen:
»Schaust du wieder meine Zöpfe an?«
Jetzt war der Mann endgültig verwirrt. Nach elf Jahren Ehe war es für ihn noch immer wie damals, als er verstohlen ihre glänzenden Zöpfe betrachtet hatte. Deshalb legte er, um Würde zu bewahren, das Gesicht ein bisschen in Falten und steckte seine Nase übertrieben ernsthaft in das Buch. Das Lesen fiel ihm jetzt leichter – es gelang ihm nicht immer in diesem Luftschutzkeller. Und der letzte Satz lautete:
»… Die heidnischen Bulgaren schlugen unter Führung von Khan Krum (802–814) die Armeen von Kaiser Nikephoros …«
Und da fiel die letzte Bombe. Eigentlich fiel sie neben das Hotel, doch das alte Sandsteingebäude stürzte ein und verschüttete den Luftschutzkeller. Die Frau und das Kind blieben am Leben, sie wurden von der Ecke und dem doppelten Gewölbe geschützt. Das herabstürzende Gestein erschlug die drei geschwätzigen Deutschen und den Mann mit dem kahlen Hinterkopf. Er hatte einen unverzeihlichen Fehler gemacht – er war bei dem heftigen Einschlag nach vorn gesprungen, weil er zu sehr in das Buch vertieft war, kam der plötzliche Einschlag sehr unerwartet, er hatte die Gefahr vergessen. Aus seinem gespaltenen Kopf quoll die Hirnmasse und befleckte die Weltgeschichte. Es sah aus wie ein von einem ungezogenen Jungen verschütteter Teller mit Brei.