Читать книгу Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma - Страница 17
V
ОглавлениеDie von Obstbäumen gesäumte Landstraße lief geradewegs auf die blauen Berge zu. Auf den Gipfeln der Berge dämmerten die ordentliche Überreste von Burgen vor sich hin, über die die frühlingshaften Strahlen der Mittagsonne wanderten. Die dunkelhaarige Frau zog einen Handwagen. In dem Handwagen lagen wackelnd ein zerschlissener Koffer und ein müder kleiner Junge. Lastwagen sausten in beiden Richtungen über die Landstraße, sodass von dem Staub die Zöpfe der Frau die Farbe von Asche angenommen hatten. Während die Frau mit gleichförmigen Schritten vor sich hin schlurfte, kaute sie an ihrer Oberlippe. Diese beständige Grimasse ihrer unteren Gesichtshälfte hatte der Tod im Keller des kleinen Hotels hervorgebracht. Weinen wollte die Frau nicht. Ihre Augen schmerzten vor Trockenheit. Nicht einmal mehr von den Sandkörnern konnten sie gereizt werden, die die Reifen der Lastwagen aufwirbelten. Der Junge hatte Angst vor dem seltsamen Gesicht seiner Mutter.
»Was kaust du so?«, hatte er gefragt, als die beiden das eingestürzte Haus, das Grab seines Vaters, verließen.
»Was?!«, schrie die Mutter auf, und der Junge fragte nicht noch einmal. Die beiden gingen nebeneinander her, und er bemühte sich, nur nach vorn zu schauen. Ihre ständig sich bewegenden Lippen weckten Neugier und Unruhe in ihm.
»Warum tut sie das, und warum ist Vater …«
Nach zwei Wegstunden war er müde, bekam einen Klaps auf den Rücken und wurde in den Handwagen geworfen. Jetzt schlummerte er, so wie jedes schlecht ernährte Kind. Die dunkelhaarige Frau zog den Handwagen auf der von Obstbäumen gesäumten Landstraße, und die ordentlichen Überreste der Burgen auf den Gipfeln kamen langsam näher.
Als die Frühlingssonne deutlich höher stand, kamen die beiden an eine Brücke über einen großen Fluss. Hier, an der massiven steinernen Brüstung, blieb die Frau stehen. Hier ließen sich die beiden in das frische grüne Gras fallen, das nach Jugend duftete, und aßen kümmerliche Brotkanten. Die Lastwagen pfiffen an ihnen vorüber, und unten floss langsam das stählerne Wasser.
Die Frau kaute noch immer an ihren Lippen. Sie wollte sich ein wenig beruhigen, sie biss schmerzhaft mit den Zähnen zu und starrte auf die Welt. Sie konnte deutlich die Sonne sehen, die Lastwagen, die blauen Berge, die Überreste der Burgen, die massive steinerne Brücke. Auf der Brücke schaukelte ein zerstörter kahler Hinterkopf. Der zerschmetterte Kopf kam näher, er verdeckte die Welt. Die blauen Berge, die Überreste der Burgen, die Lastwagen und die Sonne verschwanden. Dieser Kopf war riesig, und neben ihm flatterten die Seiten der Weltgeschichte. Die Buchseiten wirbelten in sich nähernden Kreisen umher, und die dunkelhaarige Frau stand auf und begann über die Brücke zu rennen. Sie rannte schnell, so schnell, dass der Junge »Mama« schrie und sie nicht einholen konnte.
Die Frau und das Kind rannten über die Brücke, und die Lastwagen pfiffen an ihnen vorüber, und hoch oben schien froh die Sonne, und in der Ferne standen verträumt die ordentlichen Überreste der Burgen. »Mama«, hallte es in den Feldern, »Mama, warte!« Seine Beinchen wackelten schnell, sehr schnell …