Читать книгу Wie die Sonne in der Nacht - Antje Babendererde - Страница 10

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3. Kapitel


Am nächsten Morgen musste ich über den Handabdruck und Rosarias Kussmund auf dem Spiegel lachen. Ich duschte, und als ich Zähne putzte, wunderte ich mich eine Sekunde lang darüber, dass meine Zahnbürste über Nacht nicht trocken geworden war. Aber dann bekam ich eine Nachricht von Rosaria auf mein Handy und dachte nicht mehr daran.

Die Elliots waren gut in Paris gelandet, die Stadt war fantástico und Französisch eine sexy Sprache. Ich lächelte. Auf die Frage, wie es Nils in Taos gefiel, schrieb ich, dass er es super fände, dass er gerade unter der Dusche stand und wir gleich zur Plaza gehen und auf dem Farmers Market noch ein paar Lebensmittel für unseren Roadtrip kaufen würden.

Hasta Luego, simste ich und drückte auf Senden. Dabei fiel mein Blick auf die halb leere Schale mit den Jelly Beans und ich schüttelte amüsiert den Kopf. Pilgrim musste sehr hungrig gewesen sein, dass er sich an den bunten Bonbons vergriffen hatte.

Der Landmarkt von Taos fand jeden Samstag statt und war das Highlight der Woche. Außerhalb der Hochsaison war die kleine Plaza, auf der früher unter anderem auch der Sklavenmarkt stattgefunden hatte, meistens wie ausgestorben. Doch an diesem Morgen füllte sich der Platz unter den schattigen Bäumen mit Ständen von Leuten, die von den umliegenden Farmen kamen und ihre Produkte feilboten. Tomaten und Tomatenpflanzen, Salate, Zwiebeln, Knoblauch, Rettiche, Maiskolben und natürlich roter und grüner Chili – das wahre Gold New Mexicos.

Überall duftete es nach Gewürzen und Kräutern. Es gab eisgekühlte selbst gemachte Limonaden, köstliche Suppen, Tees, frische Eier, Honig und verschiedene Marmeladen. Ich liebte diesen Markt, weil alles öko war und vom Überfluss der großen Supermärkte keine Spur. Aber ich war noch nie ohne Lucia oder Rosaria hier gewesen und trotz der vielen gut gelaunten Menschen kam ich mir einsam vor.

Ein indianisches Ehepaar hatte einen Stand mit frischen Maistortillas und dem köstlichen Brot, das die Pueblo-Indianer in den Hornos buken, den runden Lehmöfen, die sie von den Spaniern übernommen hatten. Die beiden waren die einzigen Indianer auf dem Markt. Vielleicht kamen die anderen nicht, weil sie nicht vergessen konnten, dass man ihre Vorfahren an dieser Stelle als Sklaven verkauft oder wegen Aufwiegelei gehängt hatte.

Von diesen alten Geschichten spürte man jedoch am Markttag auf der Plaza nichts. Die Atmosphäre war fröhlich, bunt und ausgelassen. Lokale Musikgruppen musizierten, man unterhielt sich gestenreich und machte seine Einkäufe.

Nachdem ich mich mit Pueblo-Brot und Tomaten eingedeckt hatte, holte ich mir eine Limo aus Melone und Zitrone, den legendären Taos Splash am fahrbaren Stand von Jessie, einer hübschen Blondine aus der Highschool. Wir plauderten ein bisschen, während ich meinen Durst löschte. Plötzlich leuchteten Jessies Augen auf und fixierten jemanden hinter mir.

»Buenos dias, hermositas!« Ronnie Salazar. »Schön, dich zu treffen, Marihu… ähm, Mara«, sagte er und grinste breit. »Wollte dich ohnehin anrufen. Heute Abend gibt es Livemusik in der Adobe Bar.« Sein Blick wechselte zwischen Jessie und mir. »Habt ihr zwei Hübschen Lust?«

Gleich zwei, dachte ich, da hast du dir ja was vorgenommen, Ronnie.

»Tut mir leid«, sagte Jessie, »meine Mom hat Geburtstag und ich kann heute Abend nicht weg.« Sie bedachte mich mit einem eifersüchtigen Blick.

»Schade«, bemerkte Ronnie. »Was ist mit dir?« Er musterte mich hoffnungsvoll, trotzdem beschlich mich das Gefühl, die zweite Wahl zu sein. Die Adobe Bar im Historic Taos Inn war bekannt für ihre extrastarken Margaritas, und Jessie dachte bestimmt, ich bekäme kalte Füße und würde kneifen.

Mit einem lässigen Achselzucken sagte ich: »Ja, klar, warum nicht?«

»Dann hole ich dich gegen sechs ab. Wir können vorher noch im Taos Pizza Out Back eine Pizza essen, okay?«

»Okay.« Ich nickte. Das ging ja schnell. Hatte ich tatsächlich ein Date mit Ronnie Salazar, dem Footballgott? Im Out Back waren die Tische immer ausgebucht, und er würde sich ins Zeug legen müssen, um einen zu ergattern.

Er grinste und zwinkerte Jessie zu. »Vale – alles klar. Dann bis heute Abend.« Und weg war er.

Jessie beugte sich über die Theke zu mir herab und raunte:»Nimm dich in Acht, Redhead. Ronnie ist kein Kind von Traurigkeit.«

»Keine Sorge«, versicherte ich ihr, »ich bin es auch nicht.«

Vielleicht ging Ronnie ja nur mit mir aus, um Jessie eifersüchtig zu machen, doch ich war froh, den Abend nicht alleine verbringen zu müssen. Ronnie Salazar war witzig, sah gut aus, und falls er doch versuchen sollte, bei mir zu landen: Was ich nicht wollte, würde auch nicht passieren.

Ungefähr eine Stunde lang hatte ich vor dem Spiegel gestanden und verschiedene Klamotten anprobiert, sogar ein paar Oberteile aus Rosarias Kleiderschrank. Am Ende entschied ich mich für Jeans und eine einfache weiße Baumwollbluse. Ich bastelte ein neues Lederband an den Kokopelli-Anhänger und trug ihn um den Hals.

Punkt sechs fuhr Ronnie mit seinem grünen 1970er Chevy Impala vor, und zum ersten Mal in meinem Leben saß ich in einem echten Lowrider mit hydraulischen Stoßdämpfern, mit deren Hilfe Ronnie die Karosserie seines Wagens so tief absinken lassen konnte, dass zwischen Stoßstange und Boden nur noch fünf Zentimeter Platz waren. Auf dem Weg zur Pizzeria hob er die Karosserie um einen halben Meter an und ließ das Auto per Knopfdruck mitten auf der Straße tanzen.

Frisierte Autos interessierten mich nicht die Bohne und ein tanzendes Auto war der Gipfel des Schwachsinns, doch ich fand es süß, wie Ronnie auf seine Art versuchte, mir zu imponieren.

Das Taos Pizza Out Back war die beste Pizzeria der Stadt, und wie ich vermutet hatte, waren sämtliche Tische besetzt. Doch Ronnie hatte reserviert, und so saßen wir schon bald über der Speisekarte, die keine Wünsche offen ließ.

Wir bestellten und dann redeten wir. Das heißt: Ronnie redete über Lowriding und ging mir bald auf die Nerven damit. Weshalb ich versuchte, das Thema zu wechseln. Was zur Folge hatte, dass er nun über Football redete. Aber Ronnie war wirklich charmant, und ich mochte die Grübchen in seinen Wangen, wenn er lachte. Er lachte ziemlich viel und ich ließ mich anstecken. Schließlich kam meine Viertelpizza »à la Vera Cruz«, mit Hähnchenbrustfilet, Honig-Chipotle-Soße und mariniertem Gemüse. Ronnie hatte eine halbe Ranchero-Pizza mit viel Chili, Salami und Käse.

Während wir aßen, fragte ich Ronnie nach Pilar und erfuhr, dass der Ort einmal ein Apachendorf gewesen war, das die Spanier im Zuge der Rückeroberung New Mexicos dem Erdboden gleichgemacht hatten.

»Rückeroberung?«, hakte ich nach.

»Na, nach der großen Pueblo-Revolte«, antwortete er. »Die Indianer hatten einundzwanzig Franziskanermönche und an die vierhundert spanische Soldaten matado«, er legte die Handkante an seinen Hals, »abgemurkst. Über tausend spanische Siedler waren von ihnen bis zurück hinter die mexikanische Grenze getrieben worden.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sah mich an. »Erzähl mir nicht, dass dir Rosarias Vater nicht Vorträge darüber gehalten hat.«

Hatte er. Stundenlang. Im Jahre 1680 hatten sich die Pueblo-Dörfer am Rio Grande zusammengetan und die Spanier unter Führung des charismatischen Medizinmannes Popé aus dem Land getrieben. Doch zwölf Jahre später kamen sie zurück, mit mehr Soldaten und besseren Waffen. Und sie hatten sich kein zweites Mal vertreiben lassen.

Von David wusste ich, dass es danach noch zwei Aufstände gegeben hatte, die jedoch beide niedergeschlagen worden waren. Vom Katholizismus der Eroberer hatten die Pueblo-Indianer übernommen, was ihnen gefiel, und hatten es einfach in ihre Kultur integriert.

»Mein Ururururgroßvater bekam Ende des achtzehnten Jahrhunderts vom spanischen König Land am Rio Grande zugeteilt und seitdem lebt meine Familie in Pilar«, erzählte Ronnie stolz. »Einst hat uns Spaniern das ganze Rio-Grande-Tal gehört, aber die Anglos nehmen uns mehr und mehr von unserem rechtmäßig zugeteilten Land weg.«

Ich runzelte die Stirn und wollte ihn fragen, ob er im Geschichtsunterricht nur mit einem halben Ohr zugehört hatte, denn dass die Spanier dieses Land zuvor den Indianern weggenommen hatten, schien er vergessen zu haben. Doch dann besann ich mich. Ich wollte nicht streiten und uns den Abend damit verderben.

Nach dem Essen fuhren wir zur Adobe Bar im Hotel. Die Tex-Mex-Band spielte gut gelaunte Musik und Ronnie und ich tanzten sogar. Ich versuchte, die Gedanken an Nils fortzuspülen, und Ronnie unterstützte mich großzügig dabei, indem er dafür sorgte, dass ich einen Margarita nach dem anderen trank.

Ich war schnell ziemlich beschwipst, und als Ronnie mich nach einem Tanz küsste, wusste ich nicht, ob meine weichen Knie von seinem Kuss kamen oder von den extra starken Margaritas.

Kurz vor Mitternacht führte Ronnie mich zu seinem Lowrider, und erst an der frischen Luft merkte ich, wie betrunken ich tatsächlich war. Nicht gut, Mara. Immer wieder sagte ich mir, dass ich Ronnie am Tor verabschieden würde und ihn keinesfalls ins Haus lassen durfte – jedenfalls nicht an diesem ersten Abend.

Später konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wie er dann doch im Haus und wir zusammen auf der breiten Ledercouch im Wohnzimmer gelandet waren. Ronnie mit seinem Footballergewicht auf mir, seine Hände unter meiner Bluse. Er rammte mir seine Zunge in den Mund. Hände und Zunge forschten begierig, drängend.

Ich hatte das Gefühl, Karussell zu fahren, erdrückt zu werden, nicht mehr atmen zu können – alles gleichzeitig. Und überhaupt: Ronnie Salazar mit seinem albernen Lowrider und der Pomade im Haar war überhaupt nicht mein Typ. Er hörte sich zu gerne reden, lachte zu siegessicher und hatte zu dicke Muskeln. War ich wirklich so bedürftig, dass ich das nicht schon früher gemerkt hatte?

Mein Körper sträubte sich gegen ihn. Ich strampelte und versuchte, Ronnies Hände wegzuschieben, aber seine Handgelenke waren kräftig und seine Pranken schienen auf meinen Brüsten zu kleben. Aus meiner Kehle kam ein wütendes Gurgeln, als Ronnie plötzlich mit offenem Mund erstarrte und sein Gesicht einen leicht verzerrten Ausdruck bekam. Er schien nicht mehr zu atmen, während ich es endlich wieder konnte.

Die Atmosphäre im Raum hatte sich mit einem Mal verändert, das spürte ich, trotz meines vom Alkohol vernebelten Hirns. Ronnie hob ganz langsam den Kopf. Sein Bizeps neben meinem Gesicht zuckte und auf einmal sah ich blankes Entsetzen in seinen braunen Augen.

»Maldita mierda!« Mit einem sportlichen Satz war er von mir herunter und auf den Beinen. »Du tickst doch nicht ganz richtig, Mara.« Mit erstickter Stimme murmelte Ronnie noch ein paar spanische Flüche, dann hörte ich eilige Schritte und wie die schwere Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Er war weg und ich gab einen erleichterten Seufzer von mir.

Offensichtlich war Ronnie Salazar es nicht gewohnt, dass ein Mädchen ihn verschmähte, nachdem er es in seinem Lowrider herumgefahren, zum Essen eingeladen und geküsst hatte. Noch dazu eines, das so betrunken war wie ich. Seinen Kuss nach dem Tanz hatte ich erwidert (ich hatte viel zu lange nicht mehr geküsst), aber das hieß doch nicht, dass er über mich herfallen durfte wie ein brünstiger Gorilla.

Ich zog meine Bluse wieder über den Bauch, setzte mich auf und schnappte laut nach Luft. Nur ungefähr drei Meter von mir entfernt stand jemand … stand etwas.

Eine hellbraune Löwenmähne, gebleckte weiße Reißzähne in einer blutroten, langen Schnauze, aufgestellte Ohren. Aus zwei schrägen Augenhöhlen funkelte ein schwarzer Blick.

Vor Schreck war ich wie gelähmt, doch mein Herz raste und meine Gedanken wirbelten haltlos. Hatte Ronnie mir etwas in den letzten Drink geschmuggelt, um mich gefügig zu machen? Sah ich Gespenster?

Nein! Das Wesen, halb Mensch halb Tier, war kein Geist. Es war real, absolut real. Ronnie hatte es auch gesehen, deshalb war er abgehauen, dieser elende Feigling.

Schlagartig war ich nüchtern im Kopf.

Normalerweise hing die alte Katchina-Maske in Davids Zimmer an der Wand. Sie war eins von seinen Lieblingsstücken, das Geschenk eines alten Picuris-Medizinmannes. Katchinas verkörperten Ahnengeister, waren Mittler zwischen Menschen und Göttern, hatte David mir erzählt. »Die Seele des Katchinas schläft in der Maske. Und wenn jemand sie aufsetzt, erwacht sie zum Leben.«

Dieser Kojote-Katchina war sehr lebendig, und ich spürte die geheimnisvolle Ausstrahlung, die von ihm ausging. Jetzt nahm ich auch wieder den leichten Geruch nach Salbei und Zirkusmanege wahr.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Mein Blick wanderte über die dreckverschmierte Brust des Halbwesens, schwenkte nach rechts zur hässlichen Wunde im Oberarm, weiter zu den löchrigen Jeans, durch die braune Haut schimmerte, bis auf die nackten Füße. Offensichtlich war der zweite Schuh nun auch noch abhandengekommen. Jedenfalls gab es nicht den geringsten Zweifel, wer da vor mir stand.

Natürlich fürchtete ich mich vor ihm. Ich wäre verrückt gewesen, wenn ich es nicht getan hätte. Der Typ konnte ein Dieb, ein Stalker, ein mieser Perversling sein. Oder, was am Wahrscheinlichsten war, ein entlaufener Irrer.

Lauf!, rief eine Stimme in meinem Kopf, doch der Alkohol kreiste immer noch in meinem Blut und mein Körper befolgte die Befehle, die das Hirn ihm gab, einfach nicht. Die Gedanken in meinem Kopf verhedderten sich heillos.

Auf einmal ließ er die Maske sinken.

Strähniges schwarzes Haar bis über die Schultern, ein dunkles, aber sauberes Gesicht, mit breiten Wangenknochen und leicht schrägen schwarzen Augen, die zu sagen schienen: Ich will dir nichts tun.

Aber mit dieser Deutung konnte ich natürlich auch gewaltig schiefliegen.

Selbst aus meiner sitzenden Perspektive erschien mir der Indianer nicht sonderlich hochgewachsen, und besonders kräftig war er auch nicht. Seine Jeans hingen ihm tief auf den Hüften, als wären sie zwei Nummern zu groß. Unbeweglich stand er da, wie festgewachsen auf den roten Saltillofliesen. Ich schätzte ihn auf achtzehn oder neunzehn, und er sah einfach viel zu gut aus für … verdammt, Mara!

Mir war durchaus klar, dass man Gut oder Böse besser nicht am Aussehen oder Blicken festmachen sollte. Doch so, wie der Junge da stand, barfuß und ohne Kojotemaske vor dem Gesicht, wirkte er kein bisschen Furcht einflößend, sondern genauso verschreckt, wie ich mich fühlte. Das hielt mich davon ab zu schreien.

Ich holte einmal tief Luft und beschloss, cool zu bleiben. Aber in meinem Kopf ratterten die Fragen: Wie zum Teufel hatte er mich gefunden? Und wie war er ins Haus gekommen? Was wollte er hier? Und vor allem: Seit wann war er da?

Das Puzzle war simpel und fügte sich schnell zusammen: Die merkwürdigen Geräusche im Haus in der vergangenen Nacht, die halb leere Bonbonschüssel, der Handabdruck auf dem Spiegel, die feuchte Zahnbürste, der Geruch nach Salbei und Zirkus – der Fremde war schon seit gestern im Haus, das war die verblüffende Erkenntnis. Also wusste er auch, dass ich allein war, nun da Ronnie feige die Flucht ergriffen hatte.

Wieder kam Panik in mir hoch, und ich hatte Mühe, sie in Schach zu halten. Suchte nach Spuren von Wahnsinn oder Bösartigkeit in den Augen des Jungen. Doch nada – da war nichts Verrücktes oder Bedrohliches zu finden, nur eine Mischung aus Misstrauen und Neugier.

»He du!«, brachte ich schließlich mit leicht hysterischer Stimme hervor.

Der Indianer starrte mich an, als wäre ich das Fabelwesen.

Schließlich fasste ich mir ein Herz und stand auf. Wer er auch war: Wir hatten eine Zahnbürste geteilt und er hatte mich vor Ronnie Salazar gerettet, da würde er mich jetzt wohl kaum umbringen. Wie ein Drogensüchtiger kam er mir auch nicht vor, und mein Instinkt sagte mir, dass er kein Dieb war. Denn wenn er hier war, um zu stehlen, hätte er den ganzen Abend Zeit dazu gehabt, ein paar ungeheuer wertvolle Dinge einzupacken und sich damit unbehelligt aus dem Staub zu machen.

Blieb immer noch der entlaufene Irre, und ich hoffte, dass er einer von der harmlosen Sorte war.

Mit zitternden Knien ging ich um den Couchtisch herum auf ihn zu. Da trat er einen Schritt zurück, dann noch einen. Panik im Blick, als wäre ich ihm nicht geheuer. Als könnte ich ihm etwas tun. Das war nicht, was ich erwartet hatte. Ganz und gar nicht.

Ich vergaß, mich vor ihm zu fürchten. Beschwichtigend hob ich die Hände. »Was … was machst du denn hier? Und wer bist du überhaupt?«

Der Junge sah mich an, als wäre er gerade vom Mond gefallen und hatte keine Ahnung, auf welchem Planeten er gelandet war.

»Ich heiße Mara«, versuchte ich es. »Und wie ist dein Name?«

Er schluckte und seine Lippen bewegten sich, offenbar in einem verzweifelten Versuch, Worte zu formen. Er hatte schiefe, aber weiße Zähne und ihm fehlte ein winziges Stück Schneidezahn. Sein Blick wirkte unstet, als hätte er Mühe, mich direkt anzusehen.

»Schon gut«, sagte ich und machte noch zwei Schritte auf ihn zu. Er war nur einen halben Kopf größer als ich, das machte mir Mut und ich streckte die Hand aus. »Gib mir die Maske, okay? Sie ist sehr wertvoll und gehört David. Er macht mich zur Schnecke, wenn sie beschädigt wird.«

Mit einer unerwarteten Selbstverständlichkeit reichte der Indianer mir die Maske. Ich nahm sie und brachte sie zum Küchentisch, wo ich sie ablegte.

»So«, sagte ich, während ich mich wieder zu ihm umdrehte, »und nun kannst du mir vielleicht sagen, wie du hierher und ins Haus … ähm … gekommen bist.« Ich redete ins Leere. Mein ungebetener Gast hatte sich in Luft aufgelöst. Verblüfft ließ ich meinen Blick über die Couch, die Sessel, den Gang schweifen und lauschte. Nichts. Als hätte ich mir das Ganze nur eingebildet.

»Du kannst wieder rauskommen«, rief ich. »Ich tue dir nichts.«

Nachdem meine Worte unbeantwortet verklungen waren, musste ich lachen.

Ich lachte immer, wenn es schlimm wurde.

Dann sah ich die angelehnte Verandatür und schloss sie. Eine Reihe neuer Fragen jagte durch meinen Kopf: Was hatte der Junge die ganze Zeit im Haus gemacht? Was hatte er gesehen – von mir gesehen? Vermutlich mehr als genug und der Gedanke daran ließ meine Kopfhaut prickeln. Zwar hatte ich ein entspanntes Verhältnis zu meinem eigenen Körper und prüde war ich auch nicht, aber in den eigenen vier Wänden heimlich von einem Wild-fremden beobachtet zu werden, der vielleicht einen Dachschaden hatte, war eine ganz andere Nummer.

Ich ließ mich auf die Couch sinken, nahm mein Smartphone zur Hand und starrte auf die eingespeicherte Nummer der Polizei. Ich konnte sie wählen und in ein paar Minuten würden die Cops hier sein und das Haus auf den Kopf stellen. Aber dann würden sie die Elliots informieren und meine Eltern. Das hätte zur Folge, dass ich spätestens übermorgen in einem Flieger nach Deutschland sitzen würde oder die Elliots in einem Flieger nach Albuquerque.

Beides war keine Option. Außerdem war der seltsame junge Mann vermutlich längst über alle Berge.

Ganz sicher konnte ich mir da natürlich nicht sein. Ich drehte eine Runde durchs Haus und prüfte alle Türen. Dabei entdeckte ich, dass die Glastür, die vom Gästezimmer in den Garten führte, nicht verschlossen war. Vermutlich war er hier ein- und ausgegangen.

War er auch jetzt zur Verandatür hinaus- und hier wieder hereingeschlüpft? Vielleicht versteckte er sich ja irgendwo im Haus. Möglich war es. Er konnte überall und nirgends sein, aber ich hatte meine Entscheidung bereits gefällt. Also ging ich nach oben, putzte Zähne und verschanzte mich in meinem Zimmer.

Lucia hatte mir für meine Joggingrunden eine kleine Dose Pfefferspray gekauft, damit ich mich im Notfall gegen streunende Hunde erwehren könnte. Die deponierte ich greifbar auf meinem Nachtschrank.

Der Kuli in meiner Hand zitterte ein wenig, als ich in mein Tagebuch schrieb.

4. Juni

Mit Ronnie Salazar Pizza essen und in der Adobe Bar gewesen. Wir haben uns geküsst, aber dann wollte er gleich alles. Der Indianerjunge, den ich gestern verletzt an der Straße fand, hat mich vor Ronnies Zudringlichkeit bewahrt. Er muss die ganze Zeit über im Haus gewesen sein – wie ein Geist. Ich habe nicht die Polizei gerufen. Und nun frage ich mich, ob ich das auch dann nicht getan hätte, wenn mein ungebetener Gast alt und hässlich gewesen wäre.

Vielleicht ist er noch da und der Gedanke sollte mir Angst machen, aber das tut er nicht. Es schien, als ob der Junge geradewegs einer meiner Geschichten entsprungen und nur Produkt meiner Fantasie war.

Eine Weile lag ich noch wach und lauschte auf Geräusche, die vielleicht von ihm stammen konnten. Ich nahm mir vor, nur ja nicht einzuschlafen – und schlief auf der Stelle ein.

Wie die Sonne in der Nacht

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