Читать книгу Wie die Sonne in der Nacht - Antje Babendererde - Страница 8
ОглавлениеRosaria platzte in mein Zimmer. »Hast du meinen hellblauen Bra irgendwo gesehen?«
Ich hob den Blick von meinem Tagebuch, in dem ich gerade versuchte, Frust und Kummer loszuwerden. »Nein, sorry.«
»Mierda«, murmelte sie panisch und war gleich wieder verschwunden. Der hellblaue Hauch mit Spitze von Victoria’s Secret war Rosarias Lieblings-BH, und den musste sie natürlich tragen, wenn sie Frankreichs Männerwelt eroberte. Wie sie das mit ihren Eltern im Schlepptau anstellen wollte, war mir allerdings schleierhaft.
Ich würde meine Herzensschwester furchtbar vermissen – und nicht nur sie. Noch eine halbe Stunde, dann stieg meine Gastfamilie in ihren weißen SUV, um nach Albuquerque zum Flughafen zu fahren. Noch dreißig Minuten, und ich würde allein in dem großen Adobe-Haus am Stadtrand von Taos sein, das mir während der vergangenen zehneinhalb Monate zu einem Zuhause geworden war.
Meine Gasteltern David und Lucia Elliot und ihre Tochter Rosaria brachen zu einer vierwöchigen Reise nach Frankreich auf. Vier Wochen, in denen sie Sehenswürdigkeiten abklappern und auf die Suche nach einer passenden Uni für Rosaria gehen wollten. Unterdessen würde ich das Haus hüten. Auf diese Zeit hatte ich mich wie verrückt gefreut, denn ursprünglich hätte Nils kommen sollen, mein Liebster mit den kornblumenblauen Augen, den verrückten Ideen und den unumstößlichen Grundsätzen. Nils, dem ich zehn Monate lang treu geblieben war, obwohl es da einen Jungen auf der Highschool von Taos gegeben hatte, der mir das Treubleiben nicht leicht gemacht hatte.
Dass Nils, der eigentlich in drei Tagen aus Deutschland eintreffen sollte, nicht kommen würde, wusste ich erst seit gestern Abend. Ein Bänderriss am Knöchel (vermutlich war er mal wieder vor der Polizei davongerannt), eine anstehende Operation, sein Flug war bereits storniert. Am Telefon hatte Nils eine Menge traurige Worte gefunden, doch ich kannte seine Stimme. In ihr hatte nicht das geringste Bedauern gelegen, und ich ahnte, dass er mir nur die halbe Wahrheit erzählt hatte.
Dass mein Freund nicht kommen würde, hatte ich den Elliots verschwiegen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten um mich – und dem Housesitter vielleicht noch einen Babysitter verpassten. Aber es war gar nicht so einfach, ein fröhliches Gesicht zur Schau zu tragen, wenn einem innerlich zum Heulen war.
Die aufgeregten Stimmen von David, Lucia und Rosaria flogen durchs Haus. Ich hörte das Klacken der Rollkoffer, als sie über den Fliesenboden im Erdgeschoss zur Tür gezogen wurden. Ich wünschte, meine Gastfamilie würde nicht verreisen und alles so bleiben, wie es immer war. Gleichzeitig wünschte ich, sie wären endlich fort, damit ich mich nicht mehr verstellen musste.
»Mara!«, rief es schließlich dreistimmig.
»Ich komme.« Ich eilte die Treppe hinunter. In der großen Wohnküche duftete es nach Lucias Zimtbrötchen, von denen sie extra für mich noch einen Vorrat gebacken hatte. Draußen stach die Sonne unbarmherzig vom strahlend blauen Himmel. David verstaute den letzten Koffer im Wagen. Lucia, klein und mollig, umarmte mich fest. »Der Zettel mit allen wichtigen Telefonnummern liegt auf dem Küchentisch. Hab viel Spaß mit deinem Nils, chamaca. Und gib Josefita Bescheid, bevor ihr beiden auf Reisen geht.«
Ich nickte. Die Tränen kamen, ich konnte nichts dagegen tun. Es kam nicht oft vor, dass ich heulte, aber dieser Abschied machte mich echt fertig. Die Elliots waren die besten Gasteltern, die ich mir denken konnte, und ich vermisste sie jetzt schon.
»Hasta luego, Süße«, flüsterte mir Rosaria ins Ohr, die mich als Nächste in die Arme schloss. »Treib es nicht zu wild, hörst du!«
Ich nickte wieder. Heulend. Lächelnd.
Gestern Abend war unser Abschiedsessen im Doc Martin’s gewesen, dem angesagtesten Restaurant in Taos, mit den rauen Lehmwänden, den türkisfarbenen Stühlen und den köstlichsten Chiligerichten. Alles war tausendmal besprochen, alle Einzelheiten geklärt. Die Elliots vertrauten mir für vier Wochen ihr Heim an, während meine Mutter mir nicht mal zugetraut hatte, ein Wochenende alleine zu Hause zu verbringen, ohne dass ihrer kostbaren Eigentumswohnung Schaden zugefügt wurde.
David, blond und bärtig, schlug die Heckklappe zu und umarmte mich als Letzter. »Wir sehen uns in vier Wochen, Mara. Pass gut auf meine Schätze auf!«
David lehrte als Professor der Archäologie am Fort Burgwin Center und das Adobe-Haus der Elliots war ein halbes Museum für indianische Artefakte der Indianerkulturen des Südwestens.
Ich nickte zum dritten Mal. »Adios«, war alles, was ich noch hervorbrachte. Dann klappten die Türen. Ich winkte und zwei Minuten später verschwand der SUV aus der Einfahrt. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, schloss das zweiflügelige hölzerne Tor und schleppte mich nach drinnen.
Die plötzliche Stille im Haus empfing mich wie ein Tritt in die Magengrube. Allein. Für vier lange Wochen. In meinem ganzen Leben war ich noch nie länger als einen Tag alleine gewesen, und bereits nach einer halben Stunde wurde mir klar, dass ich nicht fürs Alleinsein geschaffen war. Und zwar überhaupt nicht. Ich brauchte Menschen um mich, wenigstens einen Menschen, sonst wurde ich trübsinnig, gaga, loco.
Die Hälfte meiner Klassenkameraden aus der Taos Highschool war jetzt in einem Ökocamp in Montana und forstete den Wald auf, der Rest war mit seinen Eltern verreist. Ich hätte auch in diesem Camp sein können – zusammen mit Valerio, dem Jungen, der Gedichte über meine roten Haare geschrieben hatte und den ich sehr mochte. Doch ich hatte mich fürs Haushüten entschieden – und fürs Treubleiben.
Vor einem halben Jahr hatte ich Nils vorgeschlagen, nach New Mexico zu kommen. Feuer und Flamme war er gewesen, als er hörte, dass ich einen Führerschein hatte und die Elliots mir erlaubten, ihren Pick-up zu fahren. Nils wollte die Earthship Community von Taos sehen, Häuser, die aus Autoreifen gebaut waren und ausschließlich mit Wind- und Solarenergie betrieben wurden. Außerdem wollte er nach Los Alamos, wo die Atombombe entwickelt worden war, und nach White Sands, wo man 1945 den ersten oberirdischen Kernwaffentest durchgeführt hatte. Zwei Orte, die Nils mit eigenen Augen sehen wollte, um seine feurige Verachtung über sie auszuschütten.
Wir hatten geplant, gleich zwei oder drei Tage nach seiner Ankunft aufzubrechen. Mein Rucksack stand schon seit zwei Wochen fertig gepackt in meinem Zimmer.
Nils war ein Naturfreak, ein Ökokämpfer, und mein erster richtiger Freund. Von seiner Mutter, einer Schwedin, hatte er die blauen Augen und die blonden Haare geerbt. Alles an ihm war hell, bis auf die bunten Tattoos, die seinen blassen Körper zierten.
Wochenlang hatte ich mich gefragt, wie er ausgerechnet auf mich gekommen war – woher er gewusst haben konnte, wie satt ich es hatte: dieses ständige Gefühl, etwas zu versäumen und nur in meinen erdachten Geschichten zu leben.
Mein Vater war Redakteur bei einer Thüringer Tageszeitung und meine Mutter arbeitete seit einer gefühlten Ewigkeit an ihrer politischen Karriere im Thüringer Landtag. Beide waren beruflich sehr eingespannt, sodass ich mehr Zeit im Garten meiner Oma Inge verbrachte als zu Hause mit meinen Eltern. Ich war ein Schlüsselkind und kannte es nicht anders.
Praktischerweise war ich eins von den braven kleinen Mädchen, die niemals Ärger machten. Auch als ich älter wurde, änderte sich daran wenig: Ich trug einen langweiligen Namen (Marie-Johanna), langweilige Klamotten, war eine Musterschülerin und abends immer vor zehn zu Hause. Wilde Geschichten schreiben (in denen ich die Hauptrolle spielte) und gärtnern waren meine liebsten Hobbys. Fazit: Strebernoten und mit fünfzehn noch ungeküsst.
Doch so brav ich auch nach außen wirkte, in meinem Inneren sah es anders aus. Da brodelte etwas, war kurz davor, überzukochen. Ich wollte etwas Verrücktes tun, nach meinen eigenen Vorstellungen leben.
Oma Inge, die seit der Wende die Grünen wählte, hatte mir von klein auf ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein mitgegeben. Ich war fest davon überzeugt, die Welt ein wenig besser zu machen, wenn ich keinen Müll auf der Straße fallen ließ, beim Einkaufen den Plastikbeutel ablehnte, kein Fleisch aß, auf Schminke verzichtete und nicht jeden Tag duschte.
Schon Anfang August jeden Jahres waren die natürlichen Ressourcen unseres Planeten durch uns Menschen aufgebraucht. Wir nahmen der Erde mehr weg, als sie uns geben und nachproduzieren konnte. Grenzenlose Raffgier zerstörte unsere Umwelt und brachte Armut, Elend und Tod. Wir betrachteten die Natur als alles schluckende Müllkippe, manipulierten Saatgut, schlachteten Tiere im Akkord, fischten die Weltmeere leer, holzten überall auf der Welt die Wälder ab – und kaum jemand kümmerte sich um die, die dabei auf der Strecke blieben.
Ich wollte nicht in den Tag hineinleben, wollte etwas ändern, das nur ich ändern konnte – und nicht nur Eier von freilaufenden Hühnern essen oder Geld für die Hungerhilfe spenden, wie meine Mutter das tat.
Wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen war, langweilte ich mich schnell zu Tode, wenn pausenlos von den angesagtesten Klamotten, den ultimativsten Smartphones und den süßesten Jungs die Rede war. Und ich langweilte die anderen mit meinen Weltverbesserungstheorien.
Sogar meine beste Freundin Caro verdrehte die Augen, wenn ich versuchte, ihr etwas über Tierversuche und Konsumidiotie zu erzählen, um sie davon abzubringen, Lippenstift und Makeup zu benutzen. Sie war der Meinung, ihre Augen wären zu klein und nur Eyeliner könne diesen Makel beheben.
Als Nils an unser Gymnasium kam, ging ich in die Zehn und er in die Elf. Caro hatte ihn zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen, und nach einer Weile merkte ich, dass dieser charismatische Junge immer dort war, wo auch ich war. Irgendwann tanzten wir zusammen, und wenn Nils mich ansah mit seinen durchdringenden blauen Augen, lächelte er amüsiert. Die einzige Erklärung, die mir dazu einfiel, war, dass er wahrscheinlich mit seinen Freunden irgendeine blöde Wette abgeschlossen hatte: Kriege ich die kleine Rothaarige heute Abend ins Bett, schuldet ihr mir einen Kasten Bier – oder so etwas in der Art.
Also war ich auf der Hut. Als Nils mich küsste, bedauerte ich, auf der Hut sein zu müssen, denn sein Kuss war schön und machte Lust auf mehr. Er fuhr mit den Fingern in mein widerspenstiges Haar und flüsterte an meinem Ohr: »Ein roter Pelz reicht nicht allein, ein bisschen Fuchs musst du schon sein.«
Nils hatte keine Wette abgeschlossen. Und sein Spruch, der ging mir nicht mehr aus dem Kopf – genauso wenig wie sein Kuss. Nils war eine Art Initialzündung für mich – in jeglicher Hinsicht. Zwei Monate später hatte ich ein kleines rotbraunes Fuchstattoo über der linken Brust, nannte mich Mara und war keine Jungfrau mehr. Ich kleidete mich nachlässig, trug ein Nasenpiercing und sagte laut, was ich dachte.
»Sich zu entstellen, ist das Vorrecht der Jugend«, kommentierte Pa amüsiert meine äußerliche Verwandlung.
Meine Mutter fand das Ganze gar nicht lustig. Es würde ihrer politischen Karriere schaden, wenn ihre Tochter so in der Stadt herumlief. Ma bekam einen hysterischen Anfall, als sie das Tattoo entdeckte, nannte es einen bleibenden Schaden, denn jede andere Dummheit, die ich mal getan hatte, war für sie nichts weiter als eine Phase gewesen.
Nur mit einer ganzen Reihe von Versprechungen konnte ich sie davon abhalten, den Freund von Nils’ Mutter anzuzeigen, dem das Tattoostudio gehörte, wo es entstanden war. Dabei war der kleine stilisierte Fuchs wirklich schön, den Nils für mich nach langer Suche im Internet gefunden hatte.
Auch den Namen Mara hatte er für mich gefunden. Alle dachten, er wäre bloß eine Abkürzung für Marie-Johanna, aber Nils hatte mir aufgezählt, was der Name bei den verschiedenen Völkern bedeutete. Meer auf Gälisch und auf Hebräisch bittersüß. In Weißrussland bedeutete Mara Traum und in Nigeria schön. Auf Syrisch und Maltesisch bedeutete es Frau.
Nils nannte mich seine schöne Meerestraumfrau.
Ich war rettungslos verknallt, aber Ma konnte Nils nicht leiden. Sie machte ihn für alles verantwortlich, was ihr an mir nicht passte. Und das war eine Menge. Dabei hatte sie nicht die geringste Ahnung, was ich so trieb, wenn ich vorgab, bei Caro oder Oma Inge zu sein.
Meine Oma war vergesslich geworden, das machte mir das Herz schwer, aber manchmal war es auch von Vorteil. Oma Inge mochte Nils nämlich, und wir besuchten sie oft in ihrem kleinen Haus am Stadtrand, in dem sie seit dem Tod meines Opas alleine lebte. Wir kauften für sie ein, machten sauber und halfen ihr im Garten. Unkraut jäten, den Kompost wenden, Laub zusammenrechen. Na ja, ich half gerne, und Nils tat es mir zuliebe, denn Gartenarbeit war eigentlich nicht sein Ding, auch wenn er das vor mir nicht zugab.
Wenn Ma dann nachfragte, wusste Oma Inge später oft nicht mehr, ob wir nun an einem bestimmten Tag da gewesen waren oder nicht. Manchmal schlichen wir in der Nacht durch die Straßen der Stadt und sprühten Sprüche an die Hauswände wie etwa: GEN-DRECK WEG! Oder: ES GIBT KEINE UNSCHULDIGEN.
Wir rannten oft um die Wette, um das Weglaufen zu üben, und Nils schleifte mich in eine Kletterhalle, um das Wegklettern zu lernen. Sport war nicht unbedingt mein Lieblingsfach, aber nun kam ich in Form und bekam Muskeln in den Waden und Armen.
Ich schrieb keine wilden Geschichten mehr, denn ich spielte die Hauptrolle in Nils’ Leben und für etwas anderes blieb kaum noch Zeit. Wir klebten Plakate gegen TTIP und CETA, die geplanten Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada. Ein Thema, über das ich hitzige Diskussionen mit meiner Mutter führte, wenn sie denn mal da war und nicht zu gestresst, um mit mir zu reden.
»Marie-Johanna«, sagte sie, »diese Abkommen sind notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen und das Wirtschaftswachstum zu fördern.«
»Alles gequirlte Scheiße«, ereiferte sich Nils, wenn ich ihm die Argumente meiner Mutter darlegte. »Ist doch klar, dass wieder nur die großen Konzerne von diesen Abkommen profitieren werden. Die Folgen sind ungehemmtes Wirtschaftswachstum und eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Die Scheißkapitalisten kapieren einfach nicht, dass man einem toten Planeten keinen Profit mehr abringen kann. Ich habe echt keine Lust, mich von der Politik weiter verarschen zu lassen.«
Sagte er zur Tochter einer Politikerin.
Nils stellte alles infrage, sogar sich selbst. Nach und nach griff er zu immer radikaleren Mitteln, um auf die Zerstörung der Erde aufmerksam zu machen. Und mit seiner Leidenschaft, mit der er alles anging, was ihm in den Kopf kam, schaffte er es, mich von der Notwendigkeit seiner Aktionen zu überzeugen.
»Die Leute werden anfangen nachzudenken, ob sie wollen oder nicht«, argumentierte er.
Wir zogen also mit Schraubenziehern los und zerstachen Autoreifen – was nicht so leicht war, wie es sich anhört. Am Morgen fanden die verärgerten Autofahrer dann einen Handzettel unter dem Scheibenwischer, auf dem stand: GEGEN DIE ÜBERMACHT DER AUTOS.
Meine Noten sackten in den Keller, denn ich hatte anderes zu tun, als Punkte zu zählen. Gute Noten, gutes Abi, erfolgreiches Studium, super Job, gutes Geld und Sicherheit waren längst keine Option mehr für mich. Ma und ich stritten oft, weil ich keine Lust mehr hatte, ihre Erwartungen zu erfüllen. Aber meistens hörte Ma mir gar nicht richtig zu. Sie hatte andere Probleme. Probleme, die bald auch mich betrafen und unsere heile Familienwelt wie ein Kartenhaus zusammenfallen ließen.
Durch einen blöden Zufall flog nämlich auf, dass mein Vater seit Monaten eine Freundin hatte. Sie war erst sechsundzwanzig und von ihm schwanger. Ich hatte mich schon ein wenig darüber gewundert, als er sich auf einmal ein Hipster-Outfit zulegte, dachte aber, die Midlife-Crisis hätte ihn gepackt und es wäre nur eine Phase.
Okay, Ma hatte wenig Zeit für uns, oft war ihr die Politik wichtiger. Meistens hastete sie von einem Termin zum anderen und trug dabei irgendwelche strengen Kostüme, die sie seriös aussehen ließen. Pa und ich mochten sie in Jeans und T-Shirt, doch darin sahen wir sie nur noch selten.
Aber musste er deshalb gleich unser ganzes Leben über den Haufen werfen?
Im Grunde wollte ich doch nur, dass alles gut wurde – für jeden auf der Welt. Natürlich auch für Oma Inge, meine Eltern und mich. Aber so funktionierte das Leben nun mal nicht: Irgendwer blieb immer auf der Strecke. In diesem Fall war ich das. Jegliche Versöhnungsversuche blieben erfolglos, meine Eltern reichten die Scheidung ein. Und da ich zu dem Ganzen einen klaren Standpunkt hatte, blieb ich bei meiner Mutter und wir machten uns weiterhin gegenseitig Stress.
Schließlich wurden Nils und ich in einer Nacht in flagranti beim Sprayen erwischt. Ma rastete aus. Aber da die Polizei uns nur die Sprayerei nachweisen konnte und nicht die Sachbeschädigung an den Autos, kamen wir mit Arbeitsstunden davon, die wir in einem Tierheim ableisteten.
Mein Vater versuchte, die Wogen zu glätten, und hielt Ma einen Vortrag über die Notwendigkeit von Protestverhalten, das jungen Menschen dabei half, ihre Identität zu finden. »Marie-Johanna ist gerade in ihrer Katastrophenphase und die geht vorbei«, sagte er. Aber davon wollte meine Mutter nichts hören und strafte mich zusätzlich mit Hausarrest.
Wir waren wohl alle schwer erleichtert, als ich im August vergangenen Jahres in den Flieger nach Albuquerque, New Mexico stieg. Obwohl mir der Abschied von Nils und meiner vergesslichen Oma furchtbar schwerfiel, war ich froh über das bevorstehende Auslandsschuljahr an der Highschool von Taos, denn es rettete mich aus der Schusslinie eines hässlichen Scheidungskrieges, der zwischen meinen Eltern entbrannt war.
In der ersten Zeit skypten Nils und ich jeden zweiten Tag, später dann nur noch einmal die Woche. Nach ein paar Monaten in Taos merkte ich, dass zwischen meinem Liebsten und mir nicht nur ein Ozean voller Salzwasser lag, sondern auch ein Meer neuer Eindrücke, Erlebnisse und neuer Sichtweisen.
La Tierra del Encanto – Land of Enchantment, stand auf den Nummernschildern von New Mexico, und das war keine Übertreibung.
»In New Mexico sind Mythen, Legenden und Wirklichkeit alles dasselbe«, hatte Lucia mal zu mir gesagt – und wie sehr das der Wahrheit entsprach, sollte ich bald erfahren.
Ich liebte Taos, die kleine Stadt am Fuße der Sangre de Christo Mountains mit den lehmfarbenen Häusern, den blutroten Chilizöpfen und den dreihundert Sonnentagen im Jahr.
Bei den Elliots fühlte ich mich vom ersten Tag an zu Hause, was vor allem Rosaria und ihrer Mutter zu verdanken war. An meiner neuen Schule in Taos war ich herzlich aufgenommen worden und ich hatte mich von Anfang an nicht ein einziges Mal fehl am Platz gefühlt. Hier lief alles viel entspannter. Ich musste immer noch lachen, wenn ich an meinen ersten Schultag dachte, an dem mich die Lehrerin meiner neuen Klasse mit meinem vollen Namen vorstellte und nach ein paar Sekunden tödlicher Stille plötzlich alle loskicherten.
»Marie-Johanna«, meinte Ronnie Salazar aus der hintersten Reihe, »das klingt ja wie Marihuana.«
Ich mochte meine Klassenkameraden, ihr Sprachengemisch aus Spanisch und Englisch. Ich mochte Taos mit seinen Pueblo-Indianern und den Familien mit hispanischen Wurzeln. Der Rest der Bewohner war ein Sammelsurium aus Künstlern, Hippies, Ökotypen und alternden Filmstars. Im Sommer kamen dann noch die Touristen aus aller Welt dazu.
Ich war sozusagen im Paradies gelandet, und abgesehen davon, dass ich Nils vermisste, war ich rundum glücklich – bis gestern Abend.
Mit Füßen schwer wie Blei stieg ich die Holzstufen hinauf in mein Zimmer und meldete mich auf Skype an. In Deutschland war es jetzt 10 Uhr abends, eine gute Zeit, um Caro vor ihrem Laptop zu erwischen. Der Skype-Klingelton erklang und nach einem leisen Pling! hatte ich meine beste Freundin auf dem Bildschirm. Sie machte ein betont fröhliches Gesicht. »Hey, wie geht es dir?«
»Ich glaub, ich habe mich noch nie so allein gefühlt wie in diesem Augenblick. Vor einer halben Stunde sind sie gefahren.«
»Das wird schon«, versuchte Caro, mich zu trösten. »Das ist nur der erste Schock. Wer weiß, wozu …«
»Caro?«, unterbrach ich sie.
»Ja?«
»Ich muss dich etwas fragen und bitte lüg mich nicht an, okay?«
»Oooookaaaay.«
»Was ist los mit Nils?«
Caro schwieg eine Weile, schließlich sagte sie: »Er hatte wirklich einen Bänderriss und ist heute operiert worden. Die Polizei hat ihn verhört und wahrscheinlich kriegen sie ihn dran wegen der Reifenschlitzerei. Deshalb darf er auch das Land nicht verlassen.«
Mein armer Nils, schoss es mir durch den Kopf.
»Mara, da ist noch etwas.«
»Ja?« Mein Magen zog sich zusammen.
Caro wand sich ein wenig. »Nils … er hat eine andere. Er wollte es dir sagen, aber wie es aussieht, war er zu feige.«
Ich starrte Caro an, oder besser: durch sie hindurch. Tief in meinem Inneren hatte ich eine Vorahnung gehabt, trotzdem fühlte sich auf einmal nicht nur mein Magen, sondern auch mein Herz an wie eingeschnürt. Tränen drängten in meine Augen.
»Verdammter Mistkerl«, stieß ich hervor, »ich hasse ihn!«
Sie nickte. »Er hat es verdient. Nur finde ich, er sollte deinen Hass auch elementar spüren. Aber dafür müsstest du nach Hause kommen.«
»Einen Teufel werd ich tun.«
Caro lachte. »Das ist die Mara, die ich kenne.«
»Wer ist es?« Ich schluckte zweimal. »Kenne ich sie?«
»Glaub nicht. Sie heißt Jenna und ist so eine Ökoemanze vom Roten Berg.«
Ich brachte kein Wort hervor, versuchte, das Gesagte zu verarbeiten.
»Nils hat sich wie ein Arsch benommen und du bist meine beste Freundin. Ich … ich musste dir die Wahrheit sagen.«
»Schon gut. Ich muss das nur erst einmal alles verdauen.«
»Hey, Kopf hoch, Mara, du schaffst das.« Caro machte ein betont aufmunterndes Gesicht. »Versuch es doch mal positiv zu sehen: Niemand, der dir über die Schulter schaut, niemand, der dir reinredet. Du kannst tun und lassen, was du willst.«
Na toll!
»Ich melde mich wieder, okay?« Ich winkte ihr und verließ Skype. Hockte mich mit dem Rücken zur Wand auf mein Bett und starrte auf meinen gepackten Rucksack. Kein Roadtrip mit Nils, keine Nächte im Zelt unter dem irren Sternenhimmel von New Mexico. Ich vermisste diesen Idioten. Vermisste sein Lachen und seine blöden Witze, vermisste seine Küsse.
Es tat weh, aber vor allem war ich wütend auf ihn. Caro hatte recht. Der adrenalinsüchtige Nils war ein Feigling, wenn es um Gefühle ging. Hätte er den Mumm gehabt, ehrlich zu sein, dann würde ich jetzt mit Valerio in der Wildnis von Montana Bäume pflanzen und hätte vielleicht einen prickelnden Sommerflirt. Nils hatte mich nicht nur feige abserviert, er hatte auch all meine Pläne für diesen Sommer und meine Zukunft zunichtegemacht.
Selbst schuld, dachte ich, dabei flossen ein paar verzweifelte Tränen. Aber dann gab ich mir einen Ruck und beschloss, mich nicht dem Selbstmitleid zu ergeben.
Ich zog meinen Bikini an und cremte mich mit Sonnenschutz ein. Das Taos-Plateau lag zweitausend Meter über dem Meeresspiegel und als Bleichgesicht bekam man hier schnell einen Sonnenbrand. In den ersten Tagen in Taos hatte ich ständig eine trockene Nase und häufig Nasenbluten gehabt, was von der Höhenlage kam. Inzwischen hatte sich mein Körper daran gewöhnt, doch vor der Sonne musste ich mich in Acht nehmen.
Ich legte mich auf eine Liege im Garten. An meiner goldenen Bräune hatte ich lange gearbeitet, sie sollte kaschieren, dass ich in den letzten zehn Monaten drei Kilo zugelegt hatte, woran Lucias unübertreffliche Kochkünste schuld waren. Um die überflüssigen Pfunde vor Nils’ Ankunft wieder loszuwerden und für die Bergwanderung fit zu sein, hatte ich sogar begonnen zu joggen. Rosaria, mit dunklem Teint und mollig wie ihre Mutter, hatte mich ständig deswegen aufgezogen.
Schon bald wurde mir zu heiß in der Sonne. Ich holte mir einen Eistee, meine Lieblingsschokoladenkekse (jetzt war auch schon alles egal) und mein Buch und zog damit in den Schatten der großen Ulme um. Der Garten der Elliots war eine von einer hohen Adobe-Mauer umgebene Oase und Lucias ganzer Stolz. Es blühte in allen Farben. Weißer Flieder, Strauchrosen, Kornblumen von Weiß über Rosafarben bis zu tiefem Blau und knallig rote Mohnblumen mit Blüten so groß wie Hände. Weiter hinten lag Lucias Gemüsegarten, wo sie auf kleinen Beeten Bohnen, Tomaten, Chili und verschiedene Kräuter anbaute.
Auf der Terrasse, die halb vom Balkon vor meinem Zimmer überdacht war, standen Terrakottatöpfe mit roten Pelargonien und großen, stachligen Kakteen. Das Adobe-Haus der Elliots war uralt und seit Generationen im Besitz von Lucias Familie, die Nachfahren der ersten spanischen Siedler in dieser Gegend waren. Die beiden dicken, mit Schnitzereien verzierten Säulen, die den Balkon stützten, waren an die dreihundert Jahre alt, genauso wie die Adobe-Ziegel, aus denen das Haus gebaut war.
Diese Ziegel bestanden aus Lehm und Stroh und waren nicht gebrannt, sondern schlicht an der Luft getrocknet worden. Die Mauerwände waren dick mit Lehm verputzt und hielten ewig, wenn man den Verputz regelmäßig erneuerte.
Ich liebte das Haus und den Garten, und der Gedanke, in ein paar Wochen für immer nach Deutschland zurückzukehren, trübte meine Stimmung noch mehr.
Schließlich tauchte Zambo in den Zweigen der Ulme auf, ein Rabe mit einem Klumpfuß, den Rosaria mit kleinen Leckerbissen fütterte und dem sie ein paar spanische Worte beigebracht hatte. Er flog auf den schmiedeeisernen Gartentisch und begrüßte mich mit »Hola, guapa!« – Hallo Hübsche!
Ich musste lachen, und Zambo bekam ein paar Brocken von meinen Schokoladenkeksen, die er genüsslich verspeiste. Als die Sonne sank, wässerte ich Lucias kleinen Gemüsegarten und ihre Blumen, was mich für eine Weile von meinen trübsinnigen Gedanken ablenkte.
Gegen Abend wurde es kühl draußen, und ich ging ins Haus, wo mich die Stille in ihre Arme nahm. In den vergangenen zehn Monaten waren die Räume des Adobe-Hauses von geschäftigem Leben und den Stimmen meiner Gastfamilie erfüllt gewesen. Jetzt hatte ich das Gefühl, als würden Davids gesammelte Masken an den Wänden und die bunten Katchina-Figuren auf den Regalen mich anstarren und fragen, was ich hier eigentlich wollte.
»Auf euch aufpassen«, antwortete ich ihnen.
Ich stellte das Radio an und machte ich mir Lucias unübertroffene Hühner-Posole warm – eine Art dicke Suppe mit Hühnerfleisch, gequollenen Maiskörnern, Limetten, Zwiebeln und Chilisoße – und hockte mich damit, eingewickelt in eine Decke, auf die Ledercouch vor den gigantischen Fernseher. Vegetarierin war ich schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Ich hatte Lucias Kochkünsten einfach nicht widerstehen können.
Posole löffelnd, sah ich mir eine Folge Hell on Wheels auf Netflix an, dann ging ich ins Bett.