Читать книгу Wie die Sonne in der Nacht - Antje Babendererde - Страница 12
ОглавлениеMit zusammengepressten Lippen und düsterer Miene saß Kayemo auf dem Wannenrand, während ich seine Armverletzung verband. Ich betrachtete sein Gesicht, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass die rechte Hälfte seiner Oberlippe voller war als die linke. Aber das war noch nicht alles: Die rechte Augenbraue war dichter als die linke und machte einen stärkeren Schwung nach oben. Und der Haaransatz auf der rechten Seite seines Mittelscheitels schien höher als auf der linken Seite. Nicht nur seine Zähne, alles in seinem Gesicht war ein wenig schief und dadurch wirkte seine Miene noch finsterer.
Er war blass unter der dunklen Haut, sein Körper war angespannt wie eine Stahlfeder und er schien der Panik nahe. Keine Ahnung, was mit ihm los war und warum er sich so verhielt, aber wir waren wohl beide erleichtert, als ich endlich fertig war.
Als ich die Hand ausstreckte, um ihm das Haar aus der Stirn zu streichen, damit ich mir die Platzwunde ansehen konnte, erwachte er aus seiner Erstarrung und zog den Kopf zur Seite. Okay, dachte ich, dann eben nicht.
Kayemo stand auf und zog das SUPERBIRD-Shirt über, das wie angegossen passte.
»Bist du bereit für eine kleine Rundfahrt durch die Stadt?«
Er warf einen argwöhnischen Blick auf die rotierende Trommel der Waschmaschine. Vermutlich hatte er Angst um seine zerschlissene Hose, die nicht ganz unbegründet war. Ich hoffte, die Jeans würden sich während des Waschganges nicht völlig in ihre Einzelteile auflösen.
»Du bekommst deine Hose sauber zurück, wenn wir wieder da sind, okay?«, versprach ich ihm.
Kayemo schien sich nur schwer von seinem einzigen Kleidungsstück trennen zu können, aber schließlich folgte er mir. In den sauberen Sachen und mit Davids schwarzen Chucks an den Füßen sah er wie ein ganz normaler junger Mann aus. Allerdings beschlich mich inzwischen der Verdacht, dass Kayemo in seiner Entwicklung um ein paar Jährchen verzögert war, etwas, das ich zutiefst bedauerte, denn ich konnte nicht leugnen, dass er mir ausgesprochen gut gefiel.
Wir stiegen in den Pick-up und ich schnallte mich an. »Du auch«, sagte ich und zeigte auf den Gurt. Kayemo schien einen Moment nachzudenken, dann zog er sich den Gurt über die Brust und ließ ihn einrasten.
Von der Penitente Road bog ich auf die Kit Carson Road in Richtung Stadtzentrum, kurvte im Schneckentempo durch sämtliche Straßen der Stadt, doch in Kayemos Miene regte sich nichts. Schließlich parkte ich auf der Nordseite der Plaza, dort, wo jeden Tag die Obdachlosen auf den Bänken saßen, gemeinsam rauchten und tranken und sich ihre Abenteuer erzählten.
Zuerst schien Kayemo das Auto nicht verlassen zu wollen. Er blickte durch die Windschutzscheibe auf die vielen Menschen und rührte sich nicht. Aber nach einigem Zureden stieg er schließlich aus. Ich führte ihn direkt an den Obdachlosen vorbei. Es waren drei, zwei ältere Männer mit grauen Haaren und Bärten, die Gesichter von der Sonne gegerbt. Einer war jünger, vielleicht Ende zwanzig, und hatte indianische Gesichtszüge. Sie hoben die Köpfe, als wir vorbeiliefen, doch in ihren dunklen Gesichtern lag kein Erkennen, und auch Kayemo schenkte ihnen kaum Beachtung.
Wir drehten eine Runde, vorbei am La Fonda Hotel, kleinen Läden, Galerien und Restaurants. An diesem Sonntag waren viele Menschen in der Stadt unterwegs, Touristen, die wie jeden Sommer in Heerscharen in Taos einfielen. Oft blieben sie nur einen Tag, klapperten die Galerien der kleinen Stadt ab, aßen in einem Restaurant, das in ihrem Reiseführer angepriesen war, und machten eine Führung im Taos Pueblo mit, bevor sie nach Santa Fe weiterfuhren.
Kayemo hielt sich stets dicht bei mir, wie ein Kind, das befürchtete, verloren zu gehen. Er schien panische Angst vor Autos zu haben, stolperte über Gehsteige und lief den Leuten dauernd vor die Füße. Einige von ihnen sahen uns kopfschüttelnd nach.
Kurz bevor wir unsere Runde beendet hatten und wieder beim Pick-up angekommen waren, entdeckte ich in einem Schaufenster eine kleine Skulptur aus Goldglimmerkeramik. Es waren zwei daumengroße Bären, die sich umarmten. Ich überlegte, sie meiner Oma als Souvenir mitzubringen, denn Oma Inge mochte solche kleinen Figuren und für sie hatte ich noch kein Geschenk. Aber es war kein Preis zu entdecken, deshalb betrat ich den Laden, in dem ein buntes Sammelsurium aus indianischem Kunsthandwerk, Souvenirs made in Taiwan und T-Shirts mit Motiven des Südwestens angeboten wurde.
Die kaugummikauende junge Frau hinter dem Ladentisch hatte ihre wasserstoffblonden Haare zu einem kunstvollen Nest auf dem Kopf drapiert, ihre Lippen und ihre Fingernägel glänzten blutrot. Ich fragte sie nach dem Preis für die Keramikbären, und erst als sie zum Schaufenster ging, um die kleine Skulptur zu holen, merkte ich, dass Kayemo mir diesmal nicht in den Laden gefolgt war.
Ich eilte nach draußen, befürchtete für einen Moment, ihn verloren zu haben.
Doch da war er, stützte sich mit beiden Händen an einer der hölzernen Säulen vor dem Laden ab und atmete stoßartig. Schweißperlen standen auf seiner Nase und seiner Stirn, auch unter seinen Achseln hatten sich dunkle Flecken gebildet. Kayemo schien kurz davor, eine Panikattacke zu bekommen.
Na, das läuft ja super, dachte ich erschrocken.
Mit einer Hand stützte er sich an der Säule ab, mit der anderen fasste Kayemo an seine Brust. Im Schaufenster des Ladens hatte er die kleine Bärenskulptur entdeckt. Sie war aus Mica-Glimmer-Ton gefertigt und seine Mutter hatte sie gemacht. Die sich umarmenden Bären, das waren er und sie – Merina und Kayemo. Für einen Augenblick trieb er orientierungslos durch die Zeit, schwebte am Rande des Universums. Die Sterne rasten auf ihn zu und wurden zu Lichtblitzen, die Bilder aus seiner Vergangenheit erhellten. Doch immer zu kurz, um sie festzuhalten.
Nur dieses eine Bild blieb: Mit erstaunlicher Klarheit konnte Kayemo sich wieder an diesen Laden erinnern, in dem er als Kind oft mit seiner Mom gewesen war. Damals war er ungefähr so groß gewesen wie der holzgeschnitzte Indianer neben dem Eingang, also höchstens sechs oder sieben Jahre alt.
Ja, er erinnerte sich an die Stadt, doch er war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Das war fremdes Terrain und sein Orientierungssinn ließ ihn völlig im Stich. Hier brannte die Sonne sehr heiß. Viel zu heiß. Die sengende Hitze zwischen den Gebäuden, das Farbengewimmel der Autos, deren Abgase die Luft verpesteten. Das war bedrückend. Überall Menschen und keine Möglichkeit, ihnen aus dem Weg zu gehen. So viele verschiedene Gesichter und Stimmen, fremde Sprachen und fremdartige Gerüche. Kayemo spürte, wie sich etwas in seiner Brust verkrampfte und die Luft zum Atmen knapp wurde.
»Alles in Ordnung mit dir?«, hörte er Maras besorgte Stimme wie aus weiter Ferne. Nein, nichts war in Ordnung, überhaupt nichts. Wo war sie, seine Mutter, der einzige Mensch, der bisher in seiner Erinnerung aufgetaucht war? Vermisste sie ihn? Suchte sie nach ihm? Wie sollte er sie finden, wenn er nicht wusste, woher er kam und was mit ihm passiert war? Wenn er sich nicht einmal verständigen konnte.
Ihm war schwindlig und er musste sich setzen. Eine der schmiedeeisernen Bänke auf der anderen Straßenseite war frei und er taumelte darauf zu. Plötzlich wurde er an seinem verletzten Arm zurückgerissen und der Schmerz schoss ihm wie ein Messer ins Hirn. Bremsen quietschten, ein Pick-up-Truck kam einen halben Meter vor ihm zum Stehen. Glänzendes Chrom funkelte in der Sonne und blendete ihn. Der Fahrer brüllte »Tonto!« und »Burro!« und wedelte mit der Hand vor dem Kopf. Kayemo stand wie erstarrt, doch Mara zerrte ihn auf die andere Straßenseite und drückte ihn auf die Bank.
Er schloss die Augen. Spürte, wie das Brennen im Arm nachließ und der Atem wieder in seine Lungen strömte.
»Ich habe dir wehgetan, das tut mir leid«, sagte Mara erschrocken. »Aber bevor man eine Straße überquert, schaut man nach rechts und links, ob sie auch frei ist. Hat dir das niemand beigebracht?«
Doch, dachte er. Aber ich habe schon seit Jahren keine Straße mehr überqueren müssen. Über Asphalt und Beton zu gehen, war ungewohnt für ihn und strengte ihn an. Alles in dieser Welt strengte ihn an.
»Bleib hier sitzen, okay?«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da. Ich kaufe dir nur schnell etwas zu trinken.«
Kayemo wollte protestieren, er wollte nicht, dass Mara ging und ihn allein ließ, aber sie war schon wieder über die Straße und in einem der Läden verschwunden. Er zog die Knie an die Brust und schlang seine Arme um die Beine.
Allein. Vollkommen allein.
Sein Herz klopfte hart, die Panik überkam ihn von Neuem. Was, wenn Mara einfach verschwand und ihn hier sitzen ließ? Das Fuchsmädchen hatte ihn gefunden und für Kayemo gab es keine Zufälle. Vor vier Tagen war er an einem Steilhang um einen Baum gewickelt aufgewacht, angeschossen und ohne Orientierung, ohne jegliche Erinnerung. Alles, was er – abgesehen von den körperlichen Schmerzen – gespürt hatte, war ein tiefer Verlust und das Gefühl von Leere gewesen.
In der Nacht, sie war schrecklich kalt gewesen, hatte er vor Schmerz kaum schlafen können. Doch schließlich musste er doch eingeschlafen sein, denn er hatte von einem wärmenden Feuer geträumt. Und auf einmal hatten sich die klaren Umrisse eines kleinen Fuchses in den Flammen abgezeichnet. Der Fuchsgeist war aus den Flammen gestiegen, hatte ihn mit seinen grünen Augen gemustert und ihm schließlich den Weg gewiesen. Einen Weg, der ihn nach einer weiteren Nacht im Freien aus den Bergen in eine Salbeiwüste und schließlich an den Rand dieser Asphaltstraße geführt hatte.
Vor Müdigkeit, Hunger, Schmerz und Blutverlust war Kayemo ganz benommen gewesen, als ein riesiges rotes Monstrum heranrauschte, ein Windstoß ihn umriss und in diese Welt wehte. Als er seine Augen aufschlug, hatte sich ein Mädchen mit leuchtend grünen Augen und wilden roten Haaren über ihn gebeugt und mit ihm gesprochen. Kein Fuchsgeist, ein richtiges Mädchen aus Fleisch und Blut: Mara.
Zwei Männer waren gekommen und hatten ihn im Krankenwagen in die Stadt mitgenommen, weg von dem Mädchen. Doch er hatte Mara wiedergefunden. Das war einfach zu viel, als dass es nichts bedeutete. Es musste einen Grund dafür geben, dass er ihr begegnet war.
Abgesehen davon: Er kannte sonst niemanden, kannte ja nicht einmal sich selbst. Und auch wenn die körperlose Stimme in seinem Kopf permanent versuchte, ihm das auszureden: Tief in seinem Herzen spürte er, dass dieses Mädchen es gut mit ihm meinte.
»Kayemo?«
Mara setzte sich neben ihn, schraubte den Verschluss von einer Plastikflasche und reichte sie ihm. Kayemo trank gierig, obwohl das Wasser einen scheußlichen Geschmack hatte. Er vermisste das frische, klare Quellwasser, das nach Steinen und Sonne und nicht nach Plastik schmeckte.
»Du hattest eine Panikattacke«, sagte sie, als er die Flasche absetzte. »Hast du eine Ahnung, was sie ausgelöst haben könnte? Hast du dich an etwas erinnert?«
Er nickte.
»Wirklich?«, rief sie freudig überrascht. »Was war es?«
Kayemo stand auf. Er sah nach rechts und links, bevor er über die Straße zum Schaufenster des Ladens ging. Mara folgte ihm, und er deutete auf die beiden kleinen Bären aus Ton, die sich umarmten.
»Die Bären?«
Er nickte wieder und machte ihr ein Zeichen, dass er etwas aufschreiben wollte. Mara griff in ihre Tasche und reichte ihm Stift und Schreibblock.
meine Mutter hat sie gemacht
Maras Augen begannen zu leuchten. »Na, das ist doch etwas. Komm, wir gehen rein und fragen. Vielleicht wissen die ja, wo deine Mom wohnt.«
Die junge Frau hinter dem Ladentisch warf mir einen ärgerlichen Blick zu und schien zu überlegen, ob sie mich diesmal ignorieren sollte.
»Tut mir leid«, sagte ich, »ich dachte, ich hätte ihn verloren.« Ich deutete auf Kayemo, der die junge Frau mit der Nestfrisur und den roten Lippen mit offenem Mund anstarrte. »Was kostet denn die Bärenskulptur?«
»Zwanzig Dollar«, antwortete die Verkäuferin kaugummikauend. »Ist übrigens die Letzte, ich habe sie gestern beim Aufräumen im Lager gefunden.«
»Okay, ich nehme sie.«
Sie holte die Figur aus dem Schaufenster und gab sie mir. Auf der Unterseite stand Merina R. in den Ton geritzt. Ich zeigte Kayemo den Schriftzug, und er schluckte hart, bevor er nickte.
»Wissen Sie, wofür das R. steht und wo die Künstlerin herkommt?«, fragte ich, als ich ihr meine Kreditkarte reichte.
Achselzucken. »Da musst du den Chef fragen, ich bin erst seit einer Woche hier. Aber ich nehme mal an, aus Taos Pueblo. Die machen doch dort diese Goldglimmerkeramik.« Sie zog die Karte durch den Automaten, gab sie mir zurück und ich unterschrieb den Beleg. »Soll ich sie euch einpacken?«
Kayemo hielt die Bärenskulptur in den Händen wie einen wertvollen Schatz. Seine Lippen bebten, und ich konnte sehen, wie er versuchte, seine Gefühle in Schach zu halten, während er sich das Gehirn zermarterte.
»Nicht nötig«, antwortete ich. »Danke.«
Wir verließen den Laden und stiegen wieder in den Pick-up.
Kayemo sah furchtbar aus, völlig fertig, und ich war mir nicht sicher, ob er noch lange durchhielt.
»Willst du zurück nach Hause oder sollen wir noch zum Taos Pueblo fahren? Ist nicht weit und vielleicht stammst du ja von dort.«
Kayemo nickte. Er umklammerte die Bärenskulptur, war immer noch völlig durcheinander.
Ich seufzte. »Taos Pueblo?«
Nicken.