Читать книгу Wie die Sonne in der Nacht - Antje Babendererde - Страница 13
ОглавлениеIch fuhr den Paseo del Pueblo Norte bis fast zum Ende der Stadt und lenkte den Pick-up auf den Veterans Highway, der zum Pueblo abzweigte. Es war eins der beiden Indianerdörfer in der Nähe von Taos, die schon seit Jahrhunderten bewohnt waren.
Wenn Kayemo aus dem Pueblo stammte, würde ihn ganz sicher jemand erkennen und sich das Ganze schnell aufklären. Sein Zuhause wäre nur ein paar Kilometer vom Haus der Elliots entfernt, und ich könnte ihn besuchen, wann immer ich wollte. Kayemo würde mir dankbar sein und vielleicht …
Zugegeben, ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Zwischen Kayemo und mir war schon bei unserer ersten Begegnung etwas in Bewegung geraten, etwas, das zerbrechlich war und jeden Moment davongeweht werden konnte, aber von ungeheurer Intensität. Das hatte ich noch bei keinem Jungen gespürt, nicht einmal bei Nils. Warum also ausgerechnet bei Kayemo?
Ich wusste ja nicht einmal, was für ein Mensch er war. Fremdartig, ja. Geheimnisvoll. Doch wie sah er die Welt? Welche Musik mochte er, welche Bücher? Was war sein Lieblingsfilm? An was glaubte er? Worüber lachte er? Liebte er ein Mädchen mit dunkler Haut und schwarzem Haar?
Schwer, Antworten auf diese Fragen zu finden, wenn derjenige nicht sprechen und sich nicht einmal an seinen Nachnamen erinnern konnte. Kayemo gab mir so viele Rätsel auf.
Nachdem wir das stammeseigene Taos Mountain Casino passiert hatten, bog ich am Ende der Straße rechter Hand auf den unbefestigten Parkplatz direkt vor der Friedhofsmauer des Pueblos. In den Sommermonaten war Taos Pueblo ein Touristenmagnet und auch jetzt parkten etliche Autos hier. Wir stiegen aus und Kayemo strebte sofort magnetisch angezogen zum Eingang des Adobe-Dorfes. Ich hielt das für ein gutes Zeichen, trotzdem musste ich ihn zurückhalten.
»Warte, nicht so eilig!«, rief ich. »Wir müssen erst Eintritt bezahlen – na ja, ich zumindest.«
Die Frau an der Klasse erkannte Kayemo leider nicht, also kostete mich der Eintritt für uns beide inklusive Fotoerlaubnis schlappe zweiunddreißig Dollar.
Mit einem Plan vom Pueblo, auf dem auch ein paar Verhaltensregeln standen, liefen wir am Friedhof vorbei, der linker Hand vor den Häuserkomplexen lag und von einer altersschwachen Adobe-Mauer umgeben war. Kayemo blieb einen Moment stehen, um den halb eingefallenen Glockenturm der alten Kirche und die umgefallenen Holzkreuze zu betrachten. Er hielt den Kopf leicht schief gelegt und schien angestrengt nachzudenken. Sein langes schwarzes Haar glänzte in der Sonne bläulich wie Zambos Rabengefieder.
Mein Herz schlug schneller und ich ertappte mich schon wieder beim Träumen. Kayemos Mund sah so aus, als könne er gut küssen.
»Erinnerst du dich an diesen Turm?«
Er zuckte mit den Schultern und wir liefen weiter, vorbei an der hüfthohen Umfassungsmauer der San-Geronimo-Kirche. Neben dem weiß gestrichenen, gezackten Torbogen mit dem kleinen Kreuz blieb Kayemo stehen und ich hörte ihn scharf einatmen.
Sein Blick wanderte über die weitläufige, vom Red Willow River durchflossene Plaza des Pueblos. Zu beiden Seiten des Flusses, dessen Ufer von hohen Pappeln und Weidendickicht gesäumt war, ragten zwei Häuserpyramiden auf, die sich wie Riesenstufen vom ersten bis zum vierten, auf der Nordseite sogar bis zum fünften Stockwerk erhoben.
Die Lehmwände der Gebäudekomplexe und der einzelnen Häuser hatten denselben Farbton wie der festgetretene Boden der Plaza, deshalb schien es, als wäre der Pueblo direkt aus der Erde hervorgegangen. Hinter dem nördlichen Teil erhoben sich die bewaldeten Flanken des Pueblo Peak, hinter dem südlichen der Capulin Peak und über allem strahlte ein mak ellos blauer Himmel.
Am Rand der Plaza tollten drei dunkelhäutige Kinder mit jungen Hunden herum und wälzten sich mit ihnen im Staub – doch sonst sah man nur wenige der Bewohner.
Obwohl ich zusammen mit meinen Gasteltern und Rosaria bereits dreimal hier gewesen war, zog mich der Anblick des alten Indianerdorfes erneut in seinen Bann. Und Kayemo schien es nicht anders zu gehen. Völlig versunken stand er da, und sein Blick schweifte über die uralten Gemäuer mit ihren an die Dachkanten gelehnten Leitern, den vorstehenden Dachbalken – den Vigas – und verschwand in den unbefestigten Gassen zwischen den schachtelartigen, noch bewohnten Häusern, deren Zugang für Besucher gesperrt war.
»Erkennst du etwas wieder?«
Seine Hände antworteten, aber ich verstand sie nicht. Wieder kramte ich in meiner Tasche und reichte ihm Zettelblock und Kuli.
Ich war schon mal hier, schrieb er, aber das ist lange her.
»Es ist also nicht dein Zuhause?«
Kopfschütteln.
Okay, Fehlanzeige. Aber das war ja auch der erste Versuch. Mit Sicherheit stammte Kayemo aus der näheren Umgebung. Rund zehn Meilen in südlicher Richtung lag Pueblo Quemado, viel kleiner als Taos, mit Adobe-Häusern, die nur zwei Stockwerke hoch waren und nicht fünf. Im Gegensatz zu den Leuten von Taos hatten sich die Bewohner von Quemado für die Abgeschiedenheit entschieden und verweigerten sich dem Tourismus ganz. Nur an bestimmten Festtagen luden sie Fremde in ihren Pueblo ein.
Insgesamt gab es neunzehn bewohnte Pueblos in den Tälern des Rio Grande. Und wenn es sein musste, würde ich jeden einzelnen mit Kayemo abklappern.
Um uns versammelten sich Touristen, das blendend weiß gekalkte Tor war der Treffpunkt für die nächste Führung durch den Pueblo. Kayemo entfernte sich ein paar Schritte von den Wartenden, offensichtlich ertrug er tatsächlich die Nähe von Menschen nicht.
Ich ging zu ihm und erklärte ihm, dass gleich jemand die Besucher durch den Pueblo führen würde. »Wir müssen aber nicht mitmachen, wenn du das nicht willst, wir können auch alleine gehen, ohne die anderen.«
Schließlich erschien ein junger Mann, der sich als Tomaso vorstellte und Student war. Er trug ein schwarzes T-Shirt, knielange schwarze Shorts und staubige Turnschuhe. Sein Haar hatte er im Nacken zu einem Chongo, dem traditionellen langen Knoten der Pueblo-Indianer, gebunden.
»Mah-waan«, sagte Tomaso, »das ist Tiwa, die Sprache der Taos-Leute, und bedeutet: willkommen.«
Vom ersten Moment an hing Kayemo an Tomasos Lippen und so folgten wir dem jungen Fremdenführer auf seiner Tour durch den sonnendurchglühten Pueblo. Ich hatte die Führung schon zweimal mitgemacht, und meine Hoffnung, diesmal vielleicht etwas Neues zu erfahren, wurde enttäuscht. Offenbar gab es für die Fremdenführer eine Art Agenda, die nur das Notwendigste an Informationen preisgab und von der keiner der Fremdenführer abwich.
Stolz erzählte Tomaso, dass Taos Pueblo seit 1992 Weltkulturerbe war. »Heute leben noch etwa hundertfünfzig Menschen hier im alten Pueblo, der nachweislich seit über sechshundert Jahren, möglicherweise aber auch schon seit tausend Jahren bewohnt ist. Als die Coronado-Expedition 1540 vor dem Pueblo stand, sah es nicht viel anders aus als heute. Außer dass es im Erdgeschoss damals noch keine Türen und Fenster gab, weil wir uns vor unseren Feinden, den Navajos und den Apachen, schützen mussten, indem wir in der Nacht oder bei feindlichen Angriffen die Leitern hochzogen.«
Tomaso erzählte, dass es bis heute keinen Strom und kein fließendes Wasser im alten Pueblo gab – eine freie Entscheidung der Bewohner, sich an die Traditionen zu halten und einen Teil des alten Lebens zu bewahren.
Wir folgten dem jungen Indianer auf einem breiten Steg über den Fluss auf die Südseite des Pueblos und dann wieder zurück auf die Plaza. Tomaso führte unsere kleine Truppe zu den drei nördlichen Kivas, kreisrunden, halb unterirdischen Zeremonienräumen, deren Eingänge im Dach von einem palisadenartigen Stangenzaun umgeben waren.
Der Zugang zu den Kivas, in denen die Männer Rat hielten und Stammespolitik betrieben, war für Touristen versperrt, aber ich sah Kayemos sehnsüchtigen Blick. Die Erklärung des jungen Reiseführers über die Bedeutung der Zeremonienräume blieb vage, wie die meisten seiner Ausführungen über die Kultur seines Volkes. Wir erfuhren, dass niemals ein Fremder die Kiva betreten durfte, auch kein Indianer eines anderen Stammes, und dass die Kiva-Riten die bestgehüteten des Pueblos waren.
David hatte mir erzählt, dass die religiöse Welt der Pueblo-Völker aus einem ganzen Kosmos von Ritualen, Tänzen und Zeremonien bestand, die sie streng geheim hielten.
»Sie fragen sich vielleicht, warum wir das tun«, sagte Tomaso, »… keine Fotos von unseren Tänzen zulassen und mit unseren Zeremonien unter die Erde gehen.« Der junge Indianer lächelte nicht, als er sagte: »Aus dem einfachen Grund, weil es sich bewährt hat.«
In das betretene Schweigen hinein erzählte Tomaso vom gemeinsamen Kampf der Taos-Indianer und ihrer Nachbarn, der Quemado, um den Blue Lake, der fast siebzig Jahre gedauert hatte. Der Heilige See lag in den Bergen hinter dem Pueblo und in ihm sahen sie ihren Ursprung – den See des Lebens im Inneren der Welt.
Jedes Jahr im August zogen beide Dörfer mit Sack und Pack, Kindern und Alten in die Berge und an das Ufer des Sees, um dort geheime Zeremonien abzuhalten. Und in all diesen Jahren war niemals ein Fremder Zeuge dieser Zeremonien geworden.
Ich beobachtete Kayemo, wie er lauschte, versuchte, in seinem Mienenspiel etwas zu lesen, das mich später die richtigen Fragen stellen ließ, wenn wir wieder allein waren.
Unsere Tour endete am Friedhof und den Überresten der alten Kirche, die 1847 bei einem Aufstand abgebrannt war.
»Das war unser letzter Versuch, die Spanier noch einmal von unserem Land zu treiben. Da viele von uns bei dem Feuer in der Kirche ihr Leben lassen mussten, wurde sie nie wieder aufgebaut.« Tomaso hob den Kopf und erkundigte sich mit einem warnenden Unterton: »Noch Fragen?«
Eine ältere Dame mit funkelnden Ringen an den Fingern zeigte auf den von Unkraut überwucherten Friedhof mit seinen umgestürzten Kreuzen und wahllos umherliegenden Hölzern. Sie wollte wissen, warum er so verwahrlost war.
»Die Seelen der Toten werden erst frei, wenn die Kreuze von allein umgefallen sind«, erklärte Tomaso. »Unsere Toten sind nicht mehr hier, sondern an einem sicheren Ort. Sie sind mit ihren Ahnen in der Unterwelt vereint.«
Ich erinnerte mich, dass man im Chaco Canyon nur verblüffend wenige Grabstätten der Anasazi gefunden hatte. Dafür Schädel und menschliche Knochen in den Abfallhaufen hinter den Häusern – zusammen mit Tonscherben, Schutt und tierischen Überresten. Vermutlich war das eher pragmatische Verhältnis der Pueblo-Indianer zu ihren Toten ja ein Überbleibsel aus prähistorischen Zeiten.
Kayemo schien auf einmal weit weg zu sein. Er sah aus wie eine finstere Wolke, offensichtlich verstört von dem, was er gerade gehört hatte. Ich wusste, dass hinter seiner Stirn etwas vorging, doch ich hatte keine Ahnung, was es sein könnte.
Tomaso bekam von allen Dollarscheine zugesteckt, auch ich gab einen Zehner. Der junge Fremdenführer bedankte sich höflich und verschwand in einem der Häuser mit blauer Tür. Die Touristen zerstreuten sich und wir waren wieder allein.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich besorgt.
Langsam schien Kayemo wieder ins Hier und Jetzt zu tauchen. Er sah mich an, und ich versuchte, seinen Blick zu ergründen. Vergeblich.
»Ich habe Hunger«, stellte ich fest. »Du auch?«
Heftiges Nicken.
Wir gingen zu einem Haus am Rand der Plaza, an dessen Balken Stränge aus vielfarbigem Mais und Ristras, Zöpfe aus roten Chilischoten hingen. Ich kaufte bei einer freundlichen alten Indianerin zwei Fajitas mit gegrilltem Hühnerfleisch und zwei Eistee, damit setzten wir uns auf die Lehmbank im Schatten der Hauswand.
Kayemo verschlang seine Fajita wie ein Verhungernder, und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass er vollkommen von mir abhängig war. Er besaß kein Geld und konnte nicht sprechen. Er war sogar zu schüchtern, um mir mitzuteilen, dass er einen Mordshunger hatte.
»Mehr?«, fragte ich ihn, nachdem der letzte Bissen in seinem Magen verschwunden war.
Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schien kurz zu überlegen, aber dann schüttelte er den Kopf.
Maras grüne Augen fingen das Licht. Es waren die erstaunlichsten Augen, die er je gesehen hatte, und jetzt blickten sie besorgt. Was würde er ohne sein Fuchsmädchen bloß anfangen?
»Willst du zurück nach Hause?«, fragte Mara, und Kayemo hatte das Gefühl, dass sie ihm nicht nur bis auf die Knochen blicken konnte, sondern auch jeden seiner Gedanken kannte.
Oh ja, er wollte zurück nach Hause. Wenn er nur den Heimweg gewusst hätte.
Er nickte und stand auf. Hielt ein letztes Mal seinen Blick auf die Hügelkette mit dem Capulin Peak hinter dem südlichen Teil des Pueblos gerichtet. Von diesem Berg fühlte er sich magisch angezogen, spürte eine tiefe Verbundenheit, ohne zu wissen, warum.
Als sie beim Verlassen des Pueblos an einer kleinen Galerie vorbeikamen, sah Kayemo im winzigen schiefen Fenster neben der türkisfarbenen Tür eine bunt bemalte Katchina-Figur, die er wiedererkannte. Kein Zweifel: Es war Lightning Man, der Regen-Katchina. Er erstarrte und ein eiskalter Schauer fuhr ihm durchs Herz. Nur wenige wussten, wie der Blitzmann aussah; dass er überhaupt existierte, war ein Geheimnis.
Aber was machte der Katchina dann hier in diesem Fenster, wo jeder, der vorbeikam, ihn sehen konnte?
Kayemo strebte durch die offene Tür in den Laden und Mara folgte ihm. Das Innere des weiß getünchten Raumes wurde durch ein Fenster in der Decke erhellt, im Sonnenlicht tanzten Staubkörnchen. In einer gläsernen Vitrine, die als Ladentisch diente, lagen Schmuckstücke aus Silber, Türkisen, Korallen und Obsidian. Auf einem gewebten Teppich standen zwei Trommeln, die jemand gefertigt hatte, der etwas davon verstand. Von einem Regal an der Wand blickten ihn die schwarzen Augen zahlloser Katchina-Figuren fragend an.
Die Katchinas waren aus Pappelholz geschnitzt und farbig bemalt. Einige hatten spitze Schnäbel, andere gebleckte Zähne. Es gab Katchinas mit felligen Gesichtern, mit runden oder mit viereckigen Augen und die meisten hatten gefiederte Kopfputze.
Als Kayemo näher an das Regal heranging, trat ein Mann aus einer niedrigen Türöffnung hinter dem Ladentisch. Er war um die dreißig und hatte sein langes Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Ich bin Mateo, willkommen in meiner Galerie«, sagte er lächelnd. »Schaut euch in Ruhe um! Wenn ihr Fragen habt, vor allem zu den Katchinas, ich beantworte sie gern.«
Es kostete Kayemo unmenschliche Anstrengung, sich nichts anmerken zu lassen, als er auf den Katchina in dem kleinen Fenster zeigte.
»Tut mir leid«, sagte der Mann, »aber der ist alt und nicht verkäuflich.«
Nur wenig erleichtert wandte Kayemo sich um, als sein Blick auf einen Berglöwen aus orangefarbenem Stein fiel, der in einem Wandregal stand. Er war nicht groß und hatte winzige Türkisaugen – ein typischer Fetisch aus dem Zuni Pueblo.
Plötzlich sah er ein Bild – ein Bild von sich und einem Berglöwen, seinem Schutzgeist. Aus seiner Kehle kam ein erstickter Laut, und er stürzte aus dem Laden ins Freie, wo er von der Sonne geblendet stehen blieb, alle Sinne auf Empfang.
Coja, dachte er.
Kayemo legte eine Hand über die Augen und sein Blick wanderte zum wiederholten Mal über die vier Stockwerke des südlichen Pueblos zu den dunklen Flanken der Berge.
Dorthin wollte er.
Irgendwo da oben, wo die Stürme und der Regen geboren wurden, war sein Zuhause. Seine Mom und Grandpa Todito warteten dort auf ihn. Die Bäume, die Felsen, die Tiere und der Himmel warteten auf ihn, genauso wie der Pueblo der Seelen und Lightning Man. Kayemos Magen krampfte sich zusammen. Wieso stand er hier unten in sengender Hitze auf der staubigen Plaza von Taos Pueblo und war nicht dort, wo er hingehörte?
Kayemo hielt den Blick fest auf die Hügelkette gerichtet, spürte den starken Sog, den die dunkel bewaldeten Berghänge auf ihn ausübten. Die Wildnis wollte ihn zurück, die Ewigen Wesen im Pueblo Ánima wollten ihn wiederhaben.
Als sich eine Hand auf seinen Arm legte, erschrak er. Mara sah ihn mit großen Augen fragend an. Die Wärme ihrer Berührung stieg bis in seine Kehle.
»Was ist denn los?«
Mara musste ihm helfen, musste ihn an jenen Ort an der Straße zurückbringen, wo sie ihn gefunden hatte. Von dort konnte er mithilfe der Sterne den Weg nach Hause finden.
Entschlossen lief Kayemo los, raus aus dem Pueblo und geradewegs zum Parkplatz. Dort wartete er neben der Beifahrertür des Pick-ups, bis Mara die Türen entriegelte und er einsteigen konnte. Die Hitze in der Fahrerkabine war unmenschlich. Er musste zurück, so schnell wie möglich. Zurück nach Hause.
Auf der Heimfahrt sagte ich kein Wort. Ich ahnte, dass Kayemos Erinnerung zurückkehrte, aber ihn danach zu fragen musste warten, bis wir zu Hause waren. Wie immer staute sich der Verkehr auf dem Paseo del Pueblo Norte, als wir uns dem Zentrum von Taos näherten. Und dann standen wir an der Ampelkreuzung, die Rotphase schien ewig lang. Ich merkte, wie es in Kayemo arbeitete. In seiner linken Hand hielt er die Bärenskulptur, mit der Rechten strich er gedankenverloren über seine Oberschenkel, vor und zurück, vor und zurück.
Zehn Minuten später parkte ich vor der Garage der Elliots. Kayemo stieg aus, wollte jedoch nicht mit ins Haus kommen. Er verlangte nach Zettel und Stift und verschwand damit im Garten.
Ich ging nach drinnen, um für uns beide etwas zu trinken zu holen. Das Festnetztelefon klingelte und ich nahm ab. Es war Lucia. Ich versuchte, entspannt zu klingen, als ich ihr versicherte, dass alles in Ordnung war und ich ihre Pflanzen regelmäßig goss. Ich erzählte ihr, dass Nils und ich heute im Taos Pueblo gewesen waren und dass wir morgen zu unserer geplanten Tour aufbrechen würden. Lucia wünschte uns viel Spaß. Rosaria ging dran und erzählte mir, dass Paris schön, aber teuer sei und sie als Nächstes nach Lyon fahren wollten, um sich die dortige Kunsthochschule anzusehen.
Erleichtert atmete ich auf, als sie endlich auflegte.
Nachdem ich die Wäsche auf die Wäschespinne gehängt hatte, ging ich noch einmal ins Haus zurück, um die beiden Gläser mit dem Eistee zu holen. Als ich damit in den Garten trat, sah ich, wie Kayemo etwas vom Boden unter der Wäschespinne aufklaubte und in seine Tasche steckte. Er sah ertappt aus, als er mich bemerkte, doch ich fragte nicht, was er da gefunden hatte.
Pilgrim strich nach Futter bettelnd um meine Beine, als ich den Eistee auf dem schmiedeeisernen Gartentisch abstellte. In den Zweigen des Baumes saß Zambo, auch er wartete auf einen Leckerbissen. Also holte ich Futter für beide. Mit befremdlichem Blick sah Kayemo mir dabei zu, wie ich mit dem Kater und dem Raben redete. Was dachte er gerade? Und was hatte er da auf den Block gekritzelt?
Er schob den Block zu mir herüber. Das Blatt war voller kleiner Zeichnungen. Ein Steinhaus, darin ein offensichtlich weibliches Wesen mit langem Haar und ein Mann, auch mit langem Haar, aber im Nacken zusammengenommen. Eine Felsformation, die wie ein heulender Wolf aussah. Ein Bär, winzige Streifenhörnchen, ein Hirsch und ein Berglöwe. Eine verkrüppelte Kiefer, ein Bach und zwei Wasserfälle übereinander. Große und kleine Pferde – Kayemo konnte alles zeichnen, nichts schien ihm zu schwierig. Er war ein begnadeter Zeichner. Die Skizzen der Tiere wirkten so lebendig, als wollten sie jeden Moment aus dem Papier springen.
»Ist das dein Zuhause?«
Er nickte und wies in Richtung Berge.
»Ein Haus in den Bergen?«
Wildes Nicken.
»Und wer sind die?« Ich legte den Zeigefinger auf die beiden Personen in der Hütte.
Mutter, schrieb er und: Großvater.
»Okay. Wenn du mir den Namen des Ortes nennst, aus dem du stammst, dann kann ich dich hinfahren«, schlug ich ganz aufgeregt vor.
Ungeduldiges Kopfschütteln. Unsere Konversation war eindeutig noch ausbaufähig.
»Du weißt den Namen des Ortes nicht?«
Nein. Wusste er nicht.
»Warte, ich bin gleich wieder da.«
Ich eilte nach drinnen und holte die Karte von New Mexico, die David mir für den Roadtrip gegeben hatte. Wenn Kayemo den Namen der Ortschaften in den Bergen las, vielleicht fiel ihm dann wieder ein, wie der Ort hieß, in dem er wohnte.
Ich breitete die Karte vor ihm aus, beugte mich über seine Schulter und zeigte auf Taos. »Hier sind wir und das sind Orte in den Bergen.« Kayemo starrte auf die Karte und schüttelte den Kopf. Mit wildem Mienenspiel und Gesten versuchte er, mir etwas zu erklären. Schließlich riss er das obere Blatt vom Block und schrieb: es gibt keinen Ort und zum Haus führt kein Fahrweg. du musst mich dorthin zurückbringen, wo du mich gefunden hast. dann finde ich den Weg nach Hause
»Lebt ihr so abgeschieden?«
Er nickte.
Mom und Grandpa brauchen mich. bitte bring mich zur Straße
»Du willst heute noch los?«
Heftiges Nicken.
»Und du kennst den Weg zum Haus?«
ich finde ihn
Mist. Bei dem Gedanken, dass Kayemo durch die Salbeiwüste in Richtung Berge ziehen und für immer aus meinem Leben verschwinden würde, zog sich mein Magen zusammen. Ich hatte gerade begonnen, mich an ihn und seine Anwesenheit zu gewöhnen.
»Ist es weit bis zu eurem Haus?«, fragte ich. »Ich meine, von dort, wo ich dich gefunden habe?«
zwei Tage vielleicht
»Zwei Tage? Aber dann ist es besser, du brichst morgen früh auf. Jetzt ist es schon nach fünf und in drei Stunden wird es dunkel«, wandte ich ein. »Du bist müde, und außerdem brauchst du ein paar Sachen, um in die Berge zu gehen, wenn du übernachten musst.«
Fragend und voller Unruhe sah er mich an.
»Na ja, ein paar Lebensmittel, eine Taschenlampe, eine Regenjacke … einen Schlafsack. Wir suchen jetzt alles zusammen, und gleich morgen früh bringe ich dich dorthin zurück, wo ich dich gefunden habe. In Ordnung?«
Nein, es war nicht in Ordnung, Kayemos Gesicht ließ daran keinen Zweifel. Die Bestürzung in seinen Augen, die bebenden Lippen. Seine Hände begannen zu zittern und er rang sichtlich um Beherrschung.
»Hey, bleib mal locker!«, sagte ich. »Irgendetwas ist da oben passiert und das hat deine Festplatte gelöscht.« Ich tippte mir an die Schläfe. »Jemand hat auf dich geschossen und du weißt nicht mehr, wer und warum. Vielleicht ist es besser, wir rufen die Polizei. Sie können dich in die Berge begleiten und sich vergewissern, ob mit deiner Mutter und deinem Opa alles in Ordnung ist.« Ich schob ihm den Block zu.
Kayemo schrieb mit bebenden Fingern:
es ist Pueblo-Land
ich muss alleine gehen
niemand weiß von uns
»Aber wieso?«
Zusammengepresste Lippen. Kopfschütteln. Es war zum Verrücktwerden. Aber dann fiel mir wieder ein, was der Reiseführer heute über die Augustzeremonie der Pueblo-Indianer an ihrem Heiligen See erzählt hatte. Vielleicht hatte Kayemos seltsames Verhalten ja mit irgendeiner streng geheimen Zeremonie zu tun.
»Ich weiß von dir«, bemerkte ich spöttisch. »Musst du mich jetzt töten?«
Kayemos Gesicht war das reinste Entsetzen und ich bereute meine Frage augenblicklich. Sie war ironisch gemeint gewesen, aber ganz offensichtlich verstand er keine Ironie.
»Ich habe bloß Spaß gemacht«, sagte ich schnell. »Du bist echt superseltsam.«
Diesmal konnte ich nicht erraten, was Kayemos Gesichtsausdruck sagte. Seine Augen wurden schwarz wie dunkle Löcher und er schien auf einmal wieder weit weg zu sein. Ein Windstoß fuhr in das Laub der großen Ulme und ferner Donner grollte wie eine unheimliche Drohung.
»Hey«, sagte ich. »Jemand zu Hause?«
Kayemo griff nach dem Stift.
bitte hilf mir
Ich starrte auf den Block. »Komm mal mit«, sagte ich und stand auf. »Ich will dir etwas zeigen.«
Kayemo folgte mir ins Haus und stieg hinter mir die Treppen nach oben. Zuerst zögerte er, mein Zimmer zu betreten, aber dann öffnete ich die Tür zum Balkon und er folgte mir hinaus.
Ich deutete auf die Berge, hinter deren Kuppen sich wie beinahe jeden Nachmittag schwarze Wolken zusammenschoben. »Dort willst du doch hin, oder?«
Lange Blitze zuckten zur Erde, sogar von Wolke zu Wolke. Ein zweiter, heftiger Windstoß fuhr wie eine Warnung in das Laub der Ulme und der Sträucher im Garten. Kayemos Gesicht verfinsterte sich, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Verstehst du, was ich meine? Du kannst nicht einfach so losgehen. Sonst wirst du niemals dort ankommen, wo auch immer du hinwillst.«
Kayemo starrte auf die schwarzen Wolken und die zuckenden Blitze. Mara hatte recht. Er würde ein paar Dinge brauchen, um in die Berge zu gehen. Und wegen der Wolken würde er heute die Sterne ohnehin nicht sehen. Aber die brauchte er, denn nur sie konnten ihm den Weg nach Hause weisen.
Außerdem hatte er die vergangenen Nächte kaum geschlafen und war tödlich müde. Also gab er sich geschlagen und nickte. Mara hatte ihm versprochen, ihn am nächsten Tag an besagter Stelle abzusetzen. Und bisher hatte sie ihr Wort immer gehalten.
»Okay. Ich zeige dir ein paar Sachen, und du lässt mich wissen, was du brauchen kannst?«
Zuerst führte Mara ihn wieder in die Garage und dann in eine Kammer mit allem möglichen Kram, der sich in Regalen türmte. Schnell hatte er die wichtigsten Dinge beisammen: Draht für Schlingen, eine Taschenlampe mit Ersatzbatterien und ein scharfes Messer. Eine regendichte Plane, einen Schlafsack, einen kleinen Topf und noch ein paar nützliche Kleinigkeiten.
Dann ging sie mit ihm in die Vorratskammer. Kayemo entschied sich für eine Dose Bohnen, eine Packung Tortillas und ein abgepacktes Maisbrot. Dazu noch zwei Flaschen Wasser.
Er bedankte sich mit einer Geste und verstaute die Sachen in dem alten blauen Rucksack, den Mara ihm gegeben hatte. Dazu seine gewaschenen Jeans, die im heißen Wind schnell trocken geworden waren, die beiden T-Shirts und das Fleece, das Mara noch in einer der Kleiderkisten gefunden hatte. Die Sachen dufteten frisch wie eine Frühlingswiese in den Bergen. Wie hatte sie das bloß gemacht?
Später am Abend, längst war es dunkel draußen, aßen sie Sandwiches, die Mara mit Truthahnfleisch belegt hatte. Sie war seltsam in sich gekehrt und schweigsam, und Kayemo vermisste ihre Mädchenstimme mit dem poetischen Akzent.
Er verstand seine eigenen Gefühle nicht. Maras Nähe machte ihm Angst, weil dann sein Herz zu flattern begann wie ein gefangener Vogel – und doch sehnte er sich danach, ihr nah zu sein. Heute Nachmittag im Garten hatte sie sich über seine Schulter gebeugt und er hatte den Honigduft ihrer Haare einatmen, die Wärme ihrer Haut spüren können.
Was bedeutete ihr Schweigen? War sie böse auf ihn? War sie traurig? Warum? Weil er sich erinnerte? Weil er nach Hause wollte? Waren alle Mädchen so schwer zu verstehen?
»Ich gehe mal duschen«, sagte sie schließlich und ließ ihn allein am Tisch sitzen. Kayemo sah Mara nach. Sie war traurig, er spürte es. Und merkwürdigerweise war dieselbe Traurigkeit auch in ihm.
Er räumte die Teller vom Tisch und spülte sie ab, so wie seine Mom ihm das beigebracht hatte. Er war noch hungrig, hatte Mara aber nicht um mehr bitten wollen. Deshalb warf er einen Blick in den Kühlschrank, in der Hoffnung, noch etwas Essbares zu finden. Dabei entdeckte er die Flasche mit der Milch. Er liebte Milch und hatte lange keine mehr getrunken. Wenn, dann hatte es meist nur Milchpulver gegeben.
Kayemo schraubte den Verschluss auf, setzte die Flasche an die Lippen und trank einen großen Schluck. Er stutzte und schmeckte. Es war keine Milch, aber was immer es auch war, es hatte einen köstlich süßen und fruchtigen Geschmack, und er war wild auf Süßes, seit er ein kleiner Junge war.
In langen Zügen leerte Kayemo die halbe Flasche, und erst als er ein seltsames Feuer in seinem Magen spürte, warf er einen Blick auf das Etikett. Piña Colada hieß das Zeug. Er suchte nach den Zutaten. Ananas, Kokosnuss, Rum. Plötzlich begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen und er nahm den Raum nur noch verschwommen wahr. Seine Knie wurden weich und die Möbel schienen zu schwanken. Kayemo beeilte sich, zur Couch zu kommen, auf die er sich plumpsen ließ wie ein Sack voll Maiskörner.
Er schloss die Augen und wabernde Schwärze umhüllte ihn wie ein Gewebe aus Schatten. Kayemo war der dunklen Energie, die durch seine Adern strömte, hilflos ausgeliefert. Er wurde müde und ließ sich mit angezogenen Beinen auf die Seite sinken.
Alles drehte sich, er flog durchs Universum, raste an den Sternen vorbei in Richtung Erde. Das Letzte, was Kayemo mitbekam, war, dass Mara kopfschüttelnd eine Decke über ihn breitete.
5. Juni
Eine halbe Flasche Piña Colada hat Kayemo völlig umgehauen und nun liegt er auf der Couch, zusammengerollt wie ein kleiner Junge. Vermutlich ist er Alkohol nicht gewöhnt und hat sich unbeabsichtigt die Kante gegeben. Ob er jetzt schlimme Träume hat? Wovon träumt einer in der Nacht, der sich am Tag an nichts erinnern kann?
Aber das stimmt ja nicht, denn nach und nach erinnert sich Kayemo. Wie es scheint, hat er mit seiner Mutter und seinem Großvater in den Bergen gelebt. Er ist ein begnadeter Zeichner, und die Worte, die er schreibt, sind einfach, aber ohne Fehler. Am liebsten würde ich mich zu ihm legen. Wir haben nur einen einzigen Tag miteinander verbracht und ich weiß kaum etwas von ihm, und doch ist er mir auf seltsame Weise vertraut. Meine Gedanken sind durchdrungen von ihm und dem Geheimnis, das ihn umgibt. War ich schon Teil von alldem, bevor ich ihn am
Straßenrand fand?
Morgen soll ich ihn dorthin bringen, wo ich ihn gefunden habe. Doch ich will nicht, dass er geht. Ich will, dass er mich mag und bei mir bleibt.