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Möwen sind die Seelen ertrunkener Seefahrer und ihre Schreie erzählen von schrecklichen Stürmen und vom Sinken in dunkle, eiskalte Tiefen ohne Wiederkehr. Ich erinnere mich an Grandpa Malcolms Worte und mache respektvoll einen Bogen um den Möwenschwarm am Ufersaum. Das Meer hat sich zurückgezogen und die großen Vögel picken nach Kleinkrebsen in den Tangbüscheln, die die Flut angespült hat.

Plötzlich ist ein Schatten über mir, ein riesiger Vogel, der mit einem Kriegsschrei vom Himmel stürzt. Ich spüre seinen Flügelschlag, feuchte Federn streifen meine nackten Arme, die ich instinktiv nach oben reiße, um meinen Kopf zu schützen. Als die Möwe mit ihrem Schnabel nach mir hackt, reiße ich den Mund auf, doch kein Laut kommt aus meiner Kehle.

Da umfangen mich aus dem Nichts zwei sandige Arme und ich spüre einen wilden Herzschlag in meinem Rücken.

Unwillkürlich ziehe ich den Kopf zwischen die Schultern und mein Herz setzt ein paar Takte aus, bevor es losrast. Deutlich sehe ich die hängenden fleischfarbenen Beine der Möwe, den scharfen gelben Schnabel mit dem roten Fleck an der Unterseite und ihre starren, rot umrandeten Augen. Doch sie greift mich nicht an, fliegt nur über mich hinweg und gesellt sich mit einem lauten Kreischen zu ihrem Schwarm.

Keuchend hole ich Luft, so real schien dieser Möwenangriff. Doch es ist nur ein Albtraum aus meiner Kindheit, wiederkehrend bis heute. Ein Relikt aus der Zeit, in der ich versucht habe zu begreifen, dass mein Vater fort ist und nicht mehr wiederkommt. Damals hatte ich mir einen rettenden Helden vor dem Bösen erschaffen. Einen Jungen, gewebt aus dem ungreifbaren Stoff der Träume, die Carlin-Antwort auf meine Verlassenheitsängste. Das Meer, es lockt Dinge aus einem heraus, die tief vergraben sind. Und sei es ein kindlicher Traum, der sich anfühlt wie eine Erinnerung.

Ich steige die Dünen hinauf, die durch das kilometerlange Wurzelwerk des Strandhafers zusammengehalten werden, der in Schottland Marram Grass genannt wird. Oben stoße ich auf einen Plattenweg, den Gran mir auf der Wanderkarte gezeigt hat. Er führt bis zum Faraid Head, dem Ende der Landzunge. Auf diesem Weg laufe ich zurück und komme zwischen dem kleinen Cottage in den Dünen und der Campbell Farm heraus.

Da es schon nach drei ist, mache ich mich auf den Heimweg, denn Gran wird längst zu Hause sein. Kaum bin ich in die Kolonie gebogen, bleibe ich abrupt stehen. An einem der Holztische im Außenbereich des Cafés, der umgeben von gelb blühenden, nach Kokos duftenden Ginsterbüschen ist, sitzt Arran. Sein kupferner Lockenwust leuchtet in der Sonne.

Ein Kribbeln durchläuft mich von Kopf bis Fuß, mein Herz schlägt schneller und ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht steigt. Mist! Wieso reagiere ich derart heftig auf einen Jungen, dem ich erst einmal begegnet bin?

Arran schaut auf das Smartphone in seinen Händen und tippt etwas. Ich atme tief durch und versuche, mir ein paar lockere Worte zurechtzulegen, da hebt er den Kopf und blickt mir direkt in die Augen. Arran lächelt nicht, als er mich erkennt, doch er nickt mir zu und sein Blick bleibt an mir haften.

Ich gebe mir einen Ruck und gehe zu ihm hinüber.

Mit jedem Schritt, mit dem ich mich Arran nähere, pocht mein Herz lauter und ich kann nichts dagegen tun. Als ich seinen Tisch erreicht habe, bleibe ich wie vom Donner gerührt stehen und mein Atem gerät ins Stocken. Irritiert streift mein Blick das Gefährt, in dem er sitzt. Ich sehe an Arran vorbei in den gelben Ginster und dann doch schnell wieder in sein Gesicht, weil Wegsehen noch taktloser ist als Hinsehen.

»Hi«, sage ich verlegen. Arrans Augen, heute sind sie von einem dunklen Graugrün mit einem Stich ins Blaue, mustern mich prüfend.

»Hey.« Sein Gesicht verrät nicht das Geringste. Er wirkt unbeeindruckt, aber ich spüre, dass er es nicht ist. »Hat es dir die Sprache verschlagen, nighean dubh?«

»Aber wie …« Verdammt. Am liebsten würde ich auf der Stelle im Erdboden versinken. Ich schlucke. »Wo war denn dein Rollstuhl, neulich, auf dem Friedhof?«, platze ich schließlich heraus, auch wenn es unsensibel ist, das zu fragen.

»Auf der anderen Seite der Mauer.« Arran legt sein Handy auf den Tisch. »Wenn ich ihn nicht sehe, kann ich seine Existenz leichter ausblenden.« Er legt den Kopf schief und sein Blick nimmt einen spöttischen Ausdruck an. »Du bist in den Highlands, Carlin Black. Hier sind die Dinge manchmal nicht, wie sie scheinen.«

Ich trete noch einen Schritt näher und kann sehen, dass es kleine dunkelblaue Flammen sind, die sich um den äußeren Rand seiner Iris ziehen. Auf ihnen tanzen winzige kupferfarbene Sprengsel.

»Wenn du es gewusst hättest«, Arran klopft gegen die Armlehnen seines Gefährts, »wärst du dann auf ein Bier mit zu mir gekommen?«

Schnell schüttele ich den Kopf. »Nein, wieso sollte ich?«

»Keine Ahnung.« Er hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen. »Sei nett zu Rollstuhlfahrern oder so.« Arran trägt ein taubenblaues Longshirt mit halb offener Knopfleiste, das sich an die flachen Muskeln seines Oberkörpers schmiegt. »Wir hätten uns besser kennenlernen können. Ein bisschen rummachen, ohne dass du befürchten musstest, es könnte zum Äußersten kommen.« Die kleinen Kupferpunkte in seinen Augen sind zum Leben erwacht und versprühen ein amüsiertes Funkeln.

Mist, Mist, Mist. Wie reagiert man auf eine derartige Unverfrorenheit, wenn der Typ im Rollstuhl sitzt? »Wer sagt, dass ich dich besser kennenlernen will?«, kontere ich.

»Willst du das denn nicht?«

Nein, will ich sagen, um Arran einen Dämpfer zu verpassen, doch der seltsam verletzte Ausdruck, der in seinem Gesicht aufblitzt, geht mir durch Mark und Bein. »Ich … doch …« Die Worte verhaken sich in meiner Kehle und ich bringe sie nicht heraus. Auf keinen Fall soll Arran glauben, ich will wegen des Rollstuhles nichts mit ihm zu tun haben. So bin ich nicht. Ich bin nur verwirrt.

In diesem Moment tritt ein Mädchen mit zwei Bechern in den Händen aus dem Café. Karottenrote Korkenzieherlocken, dreimal feuriger als Arrans. Es ist Merida von der Bushaltestelle, jetzt trägt sie Jeans und ein kariertes Hemd über ihrem T-Shirt. Die Schottenprinzessin steuert auf uns zu und ihr Blick ist eine einzige Frage. Als mir klar wird, dass sie zusammen mit Arran hier ist, versetzt mir das einen unerwarteten Stich.

»Na dann«, sage ich zu ihm. »Man sieht sich.« Ich will die beiden nicht stören, auch wenn dieses Mädchen mich irgendwie neugierig macht. Vielleicht ist sie ja seine Schwester, ein wenig ähnlich sehen sie sich jedenfalls.

»Hey, nun warte doch mal«, sagt Arran mit gerunzelter Stirn, doch ich verlasse mit schnellen Schritten die Terrasse.

Auf den wenigen Metern zu Grans Haus steigen unzählige Fragen in mir auf. Was ist Arran Furchtbares zugestoßen? War es ein Unfall oder eine Krankheit? Sitzt er erst seit Kurzem im Rollstuhl? In der alten Kirche auf dem Friedhof hatte ich Arran sehr genau wahrgenommen. Seine Beine, die hatten nicht wie unbenutzt, sondern völlig normal ausgesehen.

Es irritiert mich gewaltig, dass ich über Arrans Beine nachdenke. Was ist bloß los mit mir? Abgesehen von seinem Vornamen weiß ich nichts über den Jungen mit den grünblauen Augen. Weder wie er mit Nachnamen heißt, noch wie alt er ist. Lebt er im Dorf oder tatsächlich im Herrenhaus? Woraus besteht seine Welt? Und wie schafft er es, in seiner Situation ein derart großes Selbstbewusstsein an den Tag zu legen?

Eine Weile bleibe ich noch vor der weißen Eingangstür stehen, weil ich fürchte, dass Gran mir meine Verwirrung ansehen und nachfragen könnte.

Meine Oma Marianne hat bis zuletzt drei Schafe, eine Ziege, ein paar Kaninchen und zwei Katzen besessen. Sie hat mir Kochen und Backen beigebracht und noch eine Menge andere nützliche Hausfrauendinge. Das Stricken habe ich von ihr gelernt, da war ich sieben. Lange Zeit habe ich meine Pullover, Socken, Mützen und Handschuhe selber gestrickt. Aber in Berlin hat Ma irgendwann gemeint, wenn es bei C&A Pullover für zwölf Euro gibt, macht es keinen Sinn, Wolle zu kaufen und Zeit mit Stricken zu vergeuden, die man mit etwas Kreativerem verbringen kann. Auf diese Weise hat sie mir die Freude am Stricken genommen.

Ich erzähle Gran von den Kauforgien meiner Mutter und dass wir oft tagelang von Spaghetti und Tomatensoße leben mussten, weil danach das Geld alle war. Gran und ich sitzen einträchtig zusammen auf der Couch im Wohnzimmer, jede eine Strickarbeit in der Hand. Sie hat ihr Bein hochgelegt und mit einer leichten Decke zugedeckt. Das leise Klappern der Nadeln hat etwas Gemütliches. Ich stricke eine Mütze aus verschiedenfarbigen Wollresten und Gran einen Pullover in Blau mit einem weißen Muster. Ein Geburtstagsgeschenk für einen Freund.

»Hat Dad uns wegen Mas Krankheit verlassen?«, will ich wissen.

Gran lässt ihr Strickzeug in den Schoß sinken. »Iain hat damals zu mir gesagt, seine Liebe zu Susanne wäre eingegangen, weil deine Mum zu lange traurig war. Ich hingegen habe sie ja eher als exzentrisch und weniger als krank wahrgenommen. Aber ich vermute, Iain hat gewusst, was mit ihr los ist, und hat sich verdrückt.«

»Wie lebt er jetzt? Hat er eine Frau, Kinder?«

»Ich weiß kaum etwas über ihn und sein Leben, Carlin. Kinder hat er keine, aber eine Freundin, bei der er meistens wohnt. Iain meldet sich nur selten. Er hat mir eine Geburtstagskarte geschickt, das war im März.«

Mein Vater hat also alle Brücken zu seiner Familie abgebrochen, genauso wie seine Tante Ishbel.

»Möchtest du mit deinem Vater telefonieren, Carlin?«, fragt Gran. »Ich kann dir nicht versprechen, ob er das auch will, aber wir könnten es versuchen.«

Ohne lange zu überlegen, schüttele ich den Kopf. »Nein. Als ich ihn brauchte, war er nicht da, und jetzt brauche ich ihn nicht mehr.« Mein Leben ist kompliziert genug und eins ist sicher: Mein Vater wäre keine Hilfe, nur ein weiteres Problem.

Ich lege mein Strickzeug zur Seite und umarme Gran tröstend. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit steigt in mir auf, weil sie mich ohne Bedingungen aufgenommen hat. Mein Vater hat nicht nur Ma und mich hinter sich gelassen, sondern auch seine Eltern. Ich vermisse ihn schon lange nicht mehr, doch ich kann Grans Sehnsucht nach ihrem einzigen Sohn gut verstehen.

»Danke, Gran«, murmele ich. »Ich bin so froh, hier bei dir zu sein.« Als ich die Umarmung löse, glitzern auf den Wangen meiner Oma Tränenspuren. Aber wir lächeln beide.

Später, im Bett, kreisen meine Gedanken weder um meine kranke Mutter noch um meinen fernen Vater. Es ist Arran, der Junge im Rollstuhl, der sich in meinem Kopf eingenistet hat. Noch eine ganze Weile liege ich wach und denke über ihn nach. Dann ziehe ich mir die Decke über den Kopf und verschwinde aus der Gegenwart.

Feiner Nieselregen legt auf die Hügel am Horizont einen grauen Schleier. Gran ist schon zur Arbeit gefahren, sie hat mich schlafen lassen. Nach dem Frühstück inspiziere ich das Bücherregal im Wohnzimmer. Neben Romanen stehen Kinderbücher, Künstlerbücher und Biografien. Mit schief gelegtem Kopf entziffere ich ein paar Titel. Sir Walter Scotts Ivanhoe, einige in die Jahre gekommene Reiseführer, Liebesromane, Krimis von Ian Rankin, Harry Potter. Zwischen Büchern über die schottische Geschichte entdecke ich eins mit keltischen Märchen. Ich picke es mir heraus und blättere mich durch eine Welt von Meereswesen, schwarzen Feen und weißen Hexen. Ich erinnere mich an Grandpa Malcolms Stimme mit dem schottischen Highlandakzent, wenn er mir Geschichten von Selkies erzählte, Leuten aus dem Robbenvolk, die in der Nacht an Land kamen, ihr Robbenfell abwarfen und zu wunderschönen Menschen wurden.

Gegen Mittag fällt mir die Decke auf den Kopf und ich bringe den Thermosbehälter zurück ins Blue Mink, wo heute nur ein Gast sitzt. Ich bestelle mir einen Teller Muschelsuppe und Mitja und Tereza gesellen sich zu mir. Ich erfahre, wie die Geschwister aus Tschechien auf einer Rucksacktour in Caladale gelandet waren und sich sofort verliebt haben in die Künstlerkolonie und die wilde und abgeschiedene Gegend hier.

Schließlich fallen doch noch vier nasse Wanderer in die Gaststube ein und Tereza nimmt die Bestellung auf. Ich will zahlen, aber Mitja winkt ab. Er bringt mich nach draußen, druckst ein wenig herum.

»Ist irgendwas?«, frage ich verunsichert.

»Du bist eine wirklich hübsche Mädchen, Carlinutschka«, windet er sich. »Warum also du läufst herum wie traurige Krähe?« Mit schief gelegtem Kopf und skeptischem Blick betrachtet er mich von oben bis unten. »Du erschrecken ja die Touristen in deine schwarze Kluft. Erst ich dachte, jemand von deine Familie ist gestorben, aber Silke sagt, ist nicht der Fall. Warum das ganze Schwarz, Carlin? Bist du Untote aus Vampirserie?«

Traurige Krähe? Untote aus Vampirserie? Na toll. Ich bin so baff über Mitjas offene Worte, dass ich vergesse, rot zu werden. In Berlin habe ich Schwarz getragen, um den Rauschkäufen meiner Mutter Einhalt zu gebieten und mich von den Mädchen aus meiner Klasse abzugrenzen, die alle naselang etwas Neues anhatten. Doch in diesem entlegenen Winkel der Welt erzählt mein finsterer Look offenbar etwas, das ich gar nicht bin. Als ich mich von meiner Verblüffung erholt habe, muss ich lachen.

»Farben sind gut für Seele«, meint Mitja mit ernster Miene.

»Also gut«, sage ich, »vielleicht hast du ja recht. Leider besitze ich nichts anderes. Und im SPAR gibt es bloß Regenjacken, Wandersocken und wellies. Also wird es wohl noch eine Weile dauern, bis ich nicht mehr als traurige Krähe herumlaufe.«

»Sorry, ich nicht so gemeint.« Mitja reibt sich verlegen das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Du schon bei Magda in Schneiderladen gewesen? Sie hat große Kiste mit Secondhandkleidung. Du finden bestimmt etwas und kostet fast nichts.« Er begleitet seine Worte mit Gesten.

»Okay«, sage ich lächelnd, »ich besuche Magda. Danke für den Tipp.«

»Gern geschehen.« Mitja macht eine leichte Verbeugung und grinst. Seine Augen sind so braun wie die dunklen Trüffel in der Choco Factory.

Gran kommt spät. Mittwoch ist der Tag, an dem die Grundschüler aus Durness und Scourie in den Klassenräumen der Highschool von Kinlochbervie zusammenkommen, um auf den anstehenden Schulwechsel vorbereitet zu werden. Highschool in Schottland heißt: Sekundarstufe von zwölf bis achtzehn. In Kinlochbervie lernen derzeit vierundfünfzig Schüler.

An meiner Gesamtschule in Marzahn, einem riesigen giftgrünen Betonblock, sitzen über tausend Schüler in den überfüllten Klassenzimmern. Wenn Gran mir von ihrem jahrgangsübergreifenden Unterricht in zwei Klassenräumen erzählt, dann klingt das für mich wie ein Märchen.

»Unterrichtest du gerne?«, frage ich sie beim Abendessen.

»Oh ja, Schätzchen.« Gran lächelt. »Weißt du, die meisten Kids hier finden Lesen uncool. Und etwas gestalten, das zwar schön aussieht, aber keinen praktischen Wert hat, ist ebenso uncool. Deshalb ist jeder Schultag eine Art Herausforderung für mich. Die Eltern meiner Schüler sind meist Fischer, Crofter oder Forstarbeiter. Sie leben vom Land oder vom Tourismus und wünschen sich, dass ihre Kinder nach der Schule hierbleiben und in ihre Fußstapfen treten.« Sie beißt in ihr Sandwich, kaut und schluckt. »Für ein paar meiner vielversprechendsten Schüler ist deshalb mit sechzehn Schluss und es bricht mir jedes Mal fast das Herz.« Gran seufzt. »Andererseits braucht die Region dringend junge Menschen, die bleiben. Sonst wird Sutherland zu einem Altenheim.«

»Schafe scheinen hier ohnehin die größte Bevölkerungsgruppe zu sein«, bemerke ich spöttisch.

Gran lässt ihr Sandwich sinken. »Vorsicht, wenn du solche Dinge sagst, Carlin. Vielen Einheimischen sind die Schafe verhasst. Dieser Landstrich ist wunderschön, aber einfach ist die Gegend nicht.« Meine Oma hat jetzt einen ernsten Ton angeschlagen. »So menschenleer ist es hier erst seit den Clearances Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.«

»Clearances?«, frage ich und Gran erzählt von der endgültigen Niederlage der freiheitskämpfenden Jakobiten auf dem Culloden Moor im Jahr 1746, jenem Schlachtfeld, auf dem ich mit meinem Vater auf dem Foto an der Wand stehe.

»Nach der Schlacht wurden die meisten Clanchiefs von der englischen Krone entmachtet, andere mit Adelstiteln gekauft. Aus Lairds wurden Lords, feudale Landbesitzer. Freie Bauern wurden zu Pächtern. Die gälische Sprache, die Tartans, der Dudelsack – all das wurde verboten. Und dann brachten die Landlords die gewinnträchtigen Schafe her, in so großer Zahl, dass sie das Hochland kahl fraßen.« Gran trinkt einen Schluck von ihrem Tee. Dann nimmt sie den Faden wieder auf. »Hundert Jahre später gab es noch einmal eine groß angelegte Säuberungsaktion, bei der Tausende Menschen auf brachiale Weise aus ihrer Heimat verjagt wurden, um noch mehr Platz für die Schafzucht zu schaffen. Dieses Trauma, Carlin, wirkt bis heute nach.« Gran stößt einen missbilligenden Laut aus. »Deshalb sind die Crofter auch so wütend auf Alastair Mackay. Weil er das Land, das sie seit Hunderten von Jahren bewirtschaften, jetzt einfach an einen Fremden verkaufen will.«

Das klingt furchtbar falsch und ungerecht und in mir pocht eine irrationale Wut auf diesen Mann, denn genauso wie Mitja und seine Schwester habe ich mich sofort in diesen Landstrich verliebt. Heute ist erst mein vierter Tag in Caladale und ich fühle mich hier schon jetzt mehr zu Hause, als ich es in drei Jahren Berlin jemals konnte.

Obwohl draußen noch immer alles in graue Regenschleier gehüllt ist, breche ich nach dem Abendessen zu meiner Verabredung mit dem Meer auf. Seit meinem Gespräch mit Gran betrachte ich die Idylle der friedlich grasenden Schafe auf den Wiesen mit anderen Augen. Es gibt hier nicht nur die atemberaubende Landschaft, sondern auch eine unvergessene Geschichte. Und offenbar ist das eine ohne das andere nicht zu haben.

Ein einsames Wohnmobil steht auf dem Parkplatz am Friedhof und am Strand ist eine Frau in gelber Regenjacke mit ihrem Hund unterwegs. Das Meer ist dabei, die Richtung zu wechseln, es zieht sich zurück. Ich beobachte eine kleine Kolonie Flussläufer, Vögel mit weißem Bauch und braun gezeichnetem Gefieder, die mit ihren dunklen, spitzen Schnäbeln am Flutsaum nach Krebstierchen picken. Sie trippeln umher und beschreiben den Strand mit den kleinen Strichen ihrer Füße. Magische, schnell vergängliche Schriftzeichen.

Als der Himmel sich zuzieht und es richtig zu regnen beginnt, nehme ich die Abkürzung über den gewundenen Plankensteg durch die Dünen, der bis zu diesem kleinen Steinhäuschen mit dem geteerten Vorplatz führt. Im Cottage brennt Licht. Als ich daran vorbeigehe und einen neugierigen Blick ins Fenster werfe, entdecke ich zu meiner Überraschung Arran in der kleinen Küche. Er hat sein Haar zu einem Knoten zusammengenommen, sitzt am Tisch vor einem Laptop und starrt gedankenverloren auf den Bildschirm, der sein blasses Gesicht erhellt.

Hier wohnt er also – ich habe ihn gefunden. Meine Entdeckung schickt ein Kribbeln durch meinen Körper. Ich sollte weitergehen, bevor er mich bemerkt, doch ich bin wie gebannt von Arrans Anblick. In meinem Inneren pulst und pocht es verräterisch. Ärgerlich schüttele ich den Kopf über die Tatsache, dass ich hier vor einem Fenster stehe und zu einem fremden Jungen hineinschaue, voller Sehnsucht nach Ich-weißnicht-was. Denn nach meinem Desaster mit Justus habe ich nicht nur alles, was mit Sex zu tun hat, sondern auch sämtliche romantischen Gefühle ins Reich meiner Träume verbannt. Doch offenbar genügt ein purer Entschluss nicht, diesen neuen, verwirrenden Empfindungen etwas entgegenzusetzen.

Plötzlich scheint Arran meine Gegenwart zu spüren und wendet den Blick zum Fenster. Schnell drehe ich mich weg, ziehe die Kapuze tiefer ins Gesicht. Mit gesenktem Kopf laufe ich los und stoße beinahe mit Merida zusammen, die offenbar auf dem Weg zu ihm ist.

»Hey«, sagt sie, aber ich bin schon weg.

Während ich im strömenden Regen vor zur Asphaltstraße laufe, spüre ich Meridas Blicke in meinem Rücken und in meinem Herzen pikt und sticht etwas wie hundert kleine Nadeln. Ist das etwa Eifersucht?

Zurück in meinem Zimmer, fahre ich meinen Laptop hoch und googele Caladale House, das Herrenhaus am Strand. Einst der Stammsitz des Clan Mackay, ist es seit einem Jahr ein luxuriöses Ferienhaus für maximal fünfzehn Gäste, betrieben von Mairead und Donald Campbell von der Campbell Farm. Ich klicke mich durch edel ausgestattete, traumhaft schöne Schlafräume und Bäder, ein Kaminzimmer und eine riesige Küche. Das hübsche, kleine Cottage nebenan, mit den honigfarbenen Mauersteinen und dem Schieferdach, beherbergt eine nagelneue, behindertengerechte Ferienwohnung, die laut Buchungskalender bis Ende des Monats vermietet ist.

Wer bist du, Arran? Und warum interessiert mich das auf einmal so brennend?

Sommer der blauen Wünsche

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