Читать книгу Sommer der blauen Wünsche - Antje Babendererde - Страница 7

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Obwohl es schon fast neun ist, steht die Sonne noch hoch am Himmel und ich laufe durch eine Landschaft in Grün- und Goldtönen. Zwischen den Trockensteinmauern führt die schmale, geteerte Straße aus Caladale nach einer scharfen Rechtskurve weiter hinunter zur Bucht. Auf den Gänseblümchenwiesen grasen die zottigen Schafe mit ihren schwarzen Gesichtern und kleine Wildkaninchen stoßen Warnrufe aus, als sie mich bemerken. Hakenschlagend hoppeln sie von Bau zu Bau.

Nach ungefähr dreihundert Metern liegt zu meiner Linken der Friedhof. Hinter der Mauer, die ihn umgibt, ragen Grabsteine und die stufenförmige Silhouette eines alten, aus grauem Stein erbauten Gemäuers auf. Rechter Hand befindet sich über einem halb verfallenen Steingebäude ein kleiner Parkplatz, dahinter ein versumpfter Teich mit leuchtend gelben Schwertlilien. Das alte Herrenhaus beherrscht die Bucht. Wie ein Wächter thront es auf dunklem Fels, beschienen von der Abendsonne.

Ich bin fast da, schmecke das Salz in der Luft, höre das sanfte Rauschen des Meeres. Carlin, Carlin!, ruft es nach mir. Die letzten Meter hinunter zum Strand renne ich. Türkisgrün funkelt das Wasser über beinahe weißem Sand. Der breite Strand und die Dünen dahinter ziehen sich sichelförmig bis zu einer Landzunge, die weit ins Meer ragt. Die hereinkommende Flut überspült den Sand mit schaumigen Bögen. Das alles nur für mich, denke ich, denn außer mir ist keine Menschenseele in Sicht.

Ich lasse mich rücklings fallen, strecke alle viere von mir und meine Hände streichen immer wieder über den weichen Muschelsand. Wie habe ich das vermisst: den Salzduft der See, das Rauschen der Wellen. Schließlich schlüpfe ich aus Schuhen und Socken, laufe zur Wasserlinie und grabe meine Zehen in den kühlen, feuchten Sand.

Endlich. Endlich. Endlich.

Von der Strandseite aus wirkt das Herrenhaus massig wie eine mittelalterliche Trutzburg. Es hat zwei spitz aufragende Giebel mit Kaminen an beiden Enden des Daches. Ich zähle neun verschieden große Sprossenfenster, die scheinbar unwillkürlich verstreut in der schmucklosen Rückwand sitzen. Die sinkende Abendsonne leuchtet wie Feuer in den Fensterscheiben, als ich am Haus vorbeilaufe.

Ein paar Meter vor mir streiten zwei Mantelmöwen kreischend um einen silbrigen Fisch. Ich habe einen Heidenrespekt vor den Vögeln mit den rot umrandeten Augen und scharfen Schnäbeln, also mache ich einen weiten Bogen um sie. Als eine schäumende Welle über meine nackten Füße schwappt, stoße ich einen spitzen Schrei aus und bekomme fast einen Kälteschock. Die karibischen Farben täuschen darüber hinweg, dass der Nordatlantik auch Anfang Juni noch kalt ist wie ein Eismeer.

Eine Windböe fährt unter meine Jacke, und als mich die nächste Welle erwischt, renne ich, meine Schuhe in den Händen, über den festen Sand am Rand der Brandung. Meine langen Haare flattern mir übers Gesicht, ich stoße wilde, befreiende Rufe aus, die sich mit dem Geschrei der Möwen vermischen. Die großen Vögel segeln in einem schwerelosen Tanz über dem Wasser und scheinen sich zu fragen, was das am Strand da unten für ein komischer schwarzer Vogel ist.

Ich laufe langsamer und atme tief durch. Merke, wie sich das kleine, scharfzahnige Tier aus meiner Brust löst und der Wind es fortträgt über die funkelnde See bis weit über den Horizont. Der ganze Druck der vergangenen Jahre fällt von mir ab. Mein Herz öffnet sich und ein prickelndes Glücksgefühl durchströmt mich: Ich habe gerade den schönsten Ort der Welt entdeckt.

Als ich umkehre und zurücklaufe, sind meine Spuren im nassen Sand längst verschwunden, getilgt von der Brandung. Ich halte Ausschau nach Strandgut am Ufersaum und finde eine schöne Muschel mit orangefarbenem Rand, die in meiner Jackentasche verschwindet. Etwa dreißig Meter vor dem Herrenhaus entdecke ich am Rand der Dünen eine hölzerne Plattform mit einer Bank und einem breiten Bohlensteg, der nach oben führt. Ich setze mich auf die Bank, auf der ein mit Patina überzogenes Schild an eine Catriona Mackay erinnert. Nachdem ich mir mit den Socken den Sand von meinen Füßen gerieben habe, schlüpfe ich wieder in meine Stiefel.

Es ist ein windgeschützter Platz in den Dünen mit einem weiten Blick über Strand und Meer. Ich verabschiede ich mich von der Bank mit dem Versprechen, jeden Tag wiederzukommen.

Der Bohlensteg windet sich in sanfter Steigung durch die mit Strandhafer bewachsenen Dünen und endet vor einem hübschen, kleinen Steinhaus mit einem geteerten Vorplatz. Das Häuschen hat eine rote Tür und ein Dach aus dunklen Steinplatten. Eine Fensterfront zeigt auf den Strand. Bestimmt ist es gemütlich, dadrin zu wohnen, und am liebsten würde ich durch ein Fenster spähen. Doch das lasse ich lieber bleiben, vielleicht ist das Häuschen ja bewohnt.

Schließlich stoße ich auf eine hohe Trockensteinmauer, an der ich entlanggehe und an einem großen Eisentor vorbeikomme, an dem das Schild WORKING FARM prangt. Das muss die Campbell Farm sein, von der Gran gesprochen hat. Ich spähe durch das Tor und sehe einen Offenstall und eine Blechscheune mit landwirtschaftlichen Maschinen davor. Weiter hinten steht ein einstöckiges Wohngebäude. Zwei schwarz-weiße Border Collies kommen angerannt, um mich anzubellen.

»Schon gut, regt euch ab«, sage ich mit ruhiger Stimme, als ich weitergehe. Der Weg führt an der Auffahrt des Herrenhauses vorbei und von dieser Seite sieht es beinahe freundlich aus mit seinem gelben Anstrich, den stufenförmig gezackten Giebeln und dem kleinen, steinernen Brunnen vor der Eingangstür. Nach hundert Metern bin ich wieder vorne an der Asphaltstraße angelangt und steuere die Schautafel vor der Friedhofsmauer auf der gegenüberliegenden Seite an.

Die kleine Kirche von Caladale wurde vor vierhundert Jahren auf den Mauern eines alten keltischen Klosters erbaut, das der irische Mönch Maelrhubba Anfang des achten Jahrhunderts hier gegründet hat, um im Norden Schottlands das Christentum zu verbreiten. Auf dem Friedhof liegen unter anderem die Gebeine des gälischen Dichters Rob Dunn und in einem Massengrab sämtliche Passagiere der Canton, einem Auswandererschiff, das 1849 vor der Küste gesunken ist. Kein Wort über den lokalen Bösewicht aus dem Mittelalter, von dem Gran mir erzählt hat.

Die schmiedeeiserne Pforte quietscht grässlich, als ich sie öffne, und ein kleiner Schauer rinnt über meinen Rücken. Hinter der Mauer steigt der Duft von frisch gemähtem Rasen auf. Mein Blick schweift über die uralten Grabplatten, verschieden große Grabsteine und keltische Steinkreuze, die aus dem satten Grün aufragen und von der orangeroten Abendsonne beleuchtet werden. Die dachlosen Mauern der uralten Kirche sind von Efeu überwachsen, der aussieht wie ein funkelnder grüner Pelz.

Auf meiner Suche nach der letzten Ruhestätte des Mörders mustere ich die schwer zu entziffernden Inschriften auf den alten Grabsteinen, die von Moosen und blassgrünen Flechten überzogen sind. Als ich rieche, dass ich nicht allein bin, ist es längst zu spät. Schon bin ich die drei Stufen ins Innere der Kirchenruine hinabgestiegen und bleibe wie angewurzelt stehen.

Lange Beine baumeln von der Mauer. Nur gut einen Meter vor mir sitzt ein Junge in einem spitz zulaufenden Fensterbogen, als gehöre er genau dorthin. Ich bin nur eins sechzig groß, deshalb muss ich den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. Halblange kupferfarbene Locken fallen ihm ins blasse, von Sommersprossen übersäte Gesicht. Aus seinen geblähten Nasenlöchern steigt blauer Rauch wie der Atem eines Drachen. Ich rieche den süßlichen Duft von Marihuana.

Mein Fluchtinstinkt meldet sich, doch da streicht sich der Junge das Haar aus der Stirn und mein Blick fällt in seine Augen. Sie sind von einem hellen Grün, durchwirkt von Blau. Es ist verrückt, doch ich habe das Gefühl, irgendwo, vermutlich in einem Traum, habe ich diese Augen schon einmal gesehen.

Der Typ in Strickpullover und abgetragener Jeans, viel älter als ich kann er nicht sein, unterzieht mich mit leicht zusammengekniffenen Lidern einer kritischen Musterung.

»Suchst du jemanden?« Gerundete Vokale und ein gerolltes R wie Kiesel, die von weichen Wellen über den Strand gespült werden. Trotz des Unmutes, den ich in seiner Stimme wahrnehme, tanzt sie auf irritierende Weise in meinem Magen.

»Ähm … das Grab von Donald McMurdo.« Ich stammele zwar ein bisschen, aber alles in allem halte ich mich ziemlich tapfer. Der Typ schient nicht allzu glücklich zu sein über mein Auftauchen, aber der Friedhof gehört ihm schließlich nicht.

»Du stehst direkt davor.«

Ich mache eine halbe Drehung und schaue auf eine massive Grabplatte im Mauerwerk mit einem Totenschädel und gekreuzten Knochen. Mühsam versuche ich, mich auf die verwitterte Inschrift zu konzentrieren.

»Memento mori«, hilft Strickpullover nach. »Bedenke, dass du sterblich bist. Hier liegt Donald McMurdo begraben. Er war fies zu seinen Freunden und schlimmer zu seinen Feinden. Wahrhaft seinem Meister in Wohlstand und Leid.«

Sein schottischer Akzent hört sich jetzt ein wenig spöttisch an. Ich hebe den Kopf und der Junge starrt mich immer noch unverblümt an, mit einem Blick, den ich nicht zuordnen kann. Ist es Ablehnung? Neugier? Beides oder keines von beidem?

»Störe ich dich bei etwas?«, frage ich vorsichtshalber. »Ich meine, außer beim Grasrauchen.«

»Aye.« Ein Muskel in seiner Wange zuckt. »Bei meinen Gedanken über den Tod.«

»Oh … tut mir leid.« Ich trete einen Schritt zurück. Mist.

»Schon gut.« Ein verstohlenes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht und ich muss zugeben, dass ihm dieses Lächeln gut steht. »Bei deinem Anblick, nighean dubh, verflüchtigen sich alle trüben Gedanken. Ich bin übrigens Arran.«

Arran. Ich registriere seinen Namen, doch das, was er zuvor gesagt hat, lässt mein Herz schneller schlagen: Bei deinem Anblick. War das Spott oder ein Kompliment? Mit Spott kenne ich mich aus, aber Komplimente versetzen mich in erhöhte Alarmbereitschaft. Und wie hat er mich gerade genannt? Nijendu?

Ich runzele die Stirn. »Was … was hast du da gerade zu mir gesagt? War das Gälisch?«

»Aye.« Arran nickt, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. »Nighean dubh. Schwarzes Mädchen.«

Das kann doch, verflixt noch mal, nicht wahr sein. Bis eben hatte ich noch das Gefühl, alles völlig im Griff zu haben. Doch nun spüre ich rote Flecken heiß auf meinen Wangen brennen.

Mist. Mist. Mist. »Woher weißt du, wie ich heiße?«

Aus Arrans Lächeln wird ein breites Grinsen. »Weil ich ein direkter Nachfahre des ersten Master of Reay bin und der war ein draoidh eagalach, ein gefürchteter Zauberkünstler, Herr über Feen und Elfen, und er hat …« Ich sehe ihn so entgeistert an, dass Arran stockt und mit völlig akzentfreier Stimme meint: »Ich habe keine Ahnung, wie du heißt, Süße. Aber hast du heute schon mal in den Spiegel geschaut?«

Klar, das ist es, was er sieht: glatte schwarze Haare, schwarzer Kajal, enge schwarze Jeans, schwarze Jacke, schwarze Schnürstiefel … Süße? Mein Herz stolpert. Nein, nur keine Anmache. Davon bin ich kuriert.

»Wie heißt du denn?« Unverhohlene Neugier funkelt jetzt auf mich herab.

»Carlin«, antworte ich und räuspere mich. »Ähm …« Gegen meinen Willen schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen, als ich ihm meinen vollen Namen nenne. »Carlin Schwarz.«

Nach einer kleinen, irritierenden Pause schüttelt Arran den Kopf und lacht. Es ist ein echtes Lachen, tief aus dem Bauch heraus, bei dem ich mich gleich wohler fühle. Mit einer Hand streicht er sich eine ungehorsame rote Haarsträhne hinters Ohr und sieht mich wieder an. »Hi, Carlin Black.«

Sein Lachen und mein Name auf Englisch aus seinem Mund. Sein meergrüner, seltsam vertrauter Blick. Ich kann mich nicht vom Fleck rühren. Bin wie gebannt. Etwas geschieht, für das ich noch keinen Platz in meinen Gedanken habe.

»Càit a bheil thu, Carlin? Wo gehörst du hin?«

Wo ich hingehöre? Verwirrt schaue ich Arran an, denn das ist eine Frage, die ich ihm nicht beantworten kann. Ich bin aus meiner Umlaufbahn geflogen, fühle mich, als käme ich von einem anderen Stern. »Ich, also …«

»Sorry«, sagt er, »das ist in den Highlands unsere Art zu fragen. Ich meine natürlich: Wo kommst du her?«

Diese Antwort ist leicht. »Aus Berlin.«

»Ah, eine echte Großstadtpflanze.« Arran grinst. »Daher der Hauch der großen, weiten Welt.«

Ich gebe ein belustigtes Schnauben von mir, widerspreche ihm jedoch nicht. Er muss ja nicht wissen, dass Marzahn nichts mit großer, weiter Welt zu tun hat. Soll er doch annehmen, dass ich bin, was er zu sehen glaubt. Hier kennt mich niemand, ich kann jede sein und keine.

»Kommst du vom Campingplatz?«

Ich schüttele den Kopf. »Bin zu Besuch in der Künstlerkolonie.«

Seine Augen werden wieder schmal und er scheint über etwas nachzudenken. »Und, hast du heute Abend schon was vor, Carlin Black?«

»Ich … ob ich was vorhabe? Nein. Ich bin gerade erst angekommen und kenne hier noch niemanden.«

»Du kennst mich.« Arran breitet seine Arme aus, als wäre er mein Treffer im Lotto. In seinem Gesicht leuchtet das grüne Feuer der Hoffnung.

»Klar, seit sieben Minuten.« Lächelnd schüttele ich den Kopf.

»Kommt mir so vor, als würde ich dich schon viel länger kennen.«

Verflixt. Mir geht es genauso. Leider weiß ich mit ziemlicher Sicherheit, dass wir uns im wirklichen Leben nie begegnet sind, denn ich kenne keinen Jungen mit türkisgrünen Augen und solchen roten Haaren. Jemanden wie Arran hätte ich bestimmt nicht vergessen.

»Wir könnten zu mir gehen«, schlägt er mit einem unanständigen Grinsen vor und nickt in Richtung Herrenhaus. »Ich habe Bier und Whisky im Kühlschrank.«

Seine Stimme klingt mir jetzt ein wenig zu siegessicher und das löst den Bann, in den Arran mich mit seinen Meeresaugen, seinem Highlandakzent und seinem Gerede vom Zauberer-Urahn geschlagen hat. Wir sind ganz allein auf diesem verwunschenen Friedhof, weit und breit nichts als Schafe, Möwen, alte Steine und die See. Bestimmt ist Arran einen Kopf größer als ich und seine Hände, die auf dem Fenstersims liegen, sehen aus, als könnten sie fest zupacken.

»Meine Oma wartet auf mich«, sage ich. »War nett, dich kennengelernt zu haben.« Ich drehe mich um und mache Anstalten zu gehen.

»Hey, lauf nicht weg. War doch nur Spaß.«

Es ist dieses kleine Beben in Arrans Stimme, das mich innehalten lässt. »Schon klar«, sage ich, »aber ich muss jetzt trotzdem gehen.« Mit einem Lächeln winke ich ihm und verlasse mit schnellen Schritten den Friedhof.

Auf der Asphaltstraße hole ich tief Luft und sauge Sauerstoff in meine Lungen, als wäre ich nach langem Tauchen wieder durch die Wasseroberfläche gestoßen. Wow. Caladale mag ja am Arsch der Welt liegen, doch ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es hier einiges zu entdecken gibt.

Gran sitzt auf der Couch und korrigiert Arbeiten, als ich nach Hause komme. Sie hat das linke Bein hochgelegt und auf ihrem Knie liegt ein Coolpack, denn es ist nach ihrer Meniskus-OP vor drei Wochen immer noch geschwollen und schmerzt. Die lange Autofahrt hat das Ganze offenbar nicht besser gemacht.

Vor ihr stehen eine Kanne mit Tee und zwei Keramikbecher. Aus einem dampft es. Sie legt die Arbeiten zur Seite. »Möchtest du?«, fragt sie. »Ist Kräutertee.«

Ich nicke und setze mich zu ihr. Gran gießt Tee in den zweiten Becher und schaut mich fragend an. »Na, wie war dein erster Erkundungsspaziergang durch die Einsamkeit von Caladale?«

Beinahe bin ich geneigt, ihr von meiner Begegnung mit Arran zu erzählen, tue es aber dann aus einem seltsamen Gefühl heraus doch nicht. Denn ich weiß nicht, ob die Freiheit, die Gran mir versprochen hat, auch Jungen mit einschließt, die am Abend auf Friedhöfen sitzen, Marihuana rauchen und über den Tod nachdenken.

»Viele Schafe, Kaninchen und keine Menschen«, berichte ich. »Das Meer ist herrlich, aber furchtbar kalt. Wird es denn im Sommer noch ein bisschen wärmer?«

»Mehr als fünfzehn oder sechzehn Grad wird es auch im August nicht«, antwortet Gran kopfschüttelnd. »Für die Einheimischen ist das Meer ohnehin nicht zum Schwimmen da.«

Für Anfang Juni ist es noch ziemlich frisch da draußen, aber das stört mich nicht. Ich denke an den letzten Sommer in Berlin, die quälende Hitze zwischen den Häuserzeilen und in unserer Wohnung. Beinahe jede Nacht hatte ich mich ans Meer geträumt.

»Ich war ganz allein am Strand«, sage ich. »Wo treffen sich die jungen Leute aus dem Dorf eigentlich?«

»Im Pub beim Poolbillard und Dart. Oder sie hocken zusammen vor dem Fernseher und gucken Fußball oder irgendwelche Serien auf Netflix.« Gran zuckt die Achseln. »In Caladale gibt es nur wenige Möglichkeiten, sich zu vergnügen. Deshalb wollen viele Jugendliche zum großen Bedauern ihrer Eltern so schnell wie möglich von hier weg und sich ins wilde Großstadtleben stürzen.« Gran schaut mich an und ich meine, einen Anflug von Sorge in ihrem Gesicht auftauchen zu sehen. »Du bist von Berlin sicher anderes gewöhnt, Carlin, aber es ist hier gar nicht so einsam, wie es vielleicht den Anschein hat.«

Ich lächle in mich hinein. Alles hier ist anders, als ich es aus Berlin kenne. Und anders ist genau das, was ich jetzt brauche.

»Mach dir keine Gedanken«, sage ich, »mir gefällt es hier.« Ich gehe duschen, und als ich Gran eine gute Nacht sagen will, ist sie vor laufendem Fernseher auf der Couch eingeschlafen. Ich breite die Decke über meine wiedergefundene Oma, stelle den Fernseher ab und gehe auf leisen Sohlen in mein Zimmer.

Als ich die Tür zur Terrasse öffne, strömt kühle Luft in den Raum, die den Geruch nach Gras und Schafen mit sich bringt. Es ist nach elf, die Sonne ist gerade erst untergegangen und umschmeichelt die Hügel am Horizont mit goldenem Licht. Da draußen wartet etwas auf mich, das kann ich spüren. Schon jetzt komme ich mir vor wie umgekrempelt. Mein Leben auf links gedreht wie ein Strickpullover, doch das Gefühl ist gar nicht so verkehrt. Ich liebe meine Mutter, aber ich brauche eine Atempause.

Seit fünf Tagen ist Ma jetzt in der Klinik. Wie es ihr wohl geht? Wenn die Medikamente irgendwann wirken, wird ihr bewusst werden, was ich getan habe. Und dass ich wirklich fort bin. Zum ersten Mal sind Ma und ich nicht mehr miteinander vertäut. Zum ersten Mal muss sie ohne mich klarkommen.

Und ich ohne sie.

Ein merkwürdiges Schnarren holt mich aus meinen Gedanken. Rerrrp, rerrrp. Als wenn jemand mit dem Daumennagel über die Zinken eines Kammes streicht. Komisch, was mag das wohl sein? Fröstelnd reibe ich mir die Arme und schließe die Tür.

Ich packe meine Tasche aus, räume die schwarzen T-Shirts, meine zweite schwarze Jeans und meine Unterwäsche in den Schrank. Mein Waschzeug bringe ich ins kleine Bad. Ordnung zu schaffen, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.

Meinen Laptop platziere ich auf dem Schreibtisch und schließe ihn ans Netz. Gran hat mir zwei Adapter für die Steckdosen gegeben. Es gibt WLAN in Little Caladale, das dem Wetter unterworfen ist, aber immerhin. Schließlich setze ich mich aufs Bett und öffne die kleine Holzkiste auf meinem Schoß, in der ich schon seit vielen Jahren meine wertvollsten Schätze aufbewahre. Sie hat die Form einer mittelalterlichen Truhe mit kleinen Holzfüßen und verzierten Metallbeschlägen. Oma Marianne hat sie mir zum sechsten Geburtstag geschenkt.

Ich drehe den Schlüssel im Schloss, klappe den Deckel auf und wühle mich mit dem Zeigefinger durch das Sammelsurium. Ein von Ma bunt angemaltes Schneckenhaus – mit Fenstern, einer Tür und Blumen. Eine uralte deutsche Münze, die ich in einer Ritze auf Oma Mariannes Dachboden gefunden habe. Ein Hühnergott mit zwei Löchern, der wie ein steinerner Knopf aussieht. Ein Bernstein mit einer riesigen Mücke im Inneren, den ich gefunden habe, als ich zwölf war. Ein Schlüsselanhänger mit einem Hirschkopf auf der einen und einem Tartanmuster auf der anderen Seite – und zig andere Dinge.

Ich lege die Muschel mit orangefarbenem Rand dazu und stelle die kleine Truhe auf meinen Nachtschrank. Dann rolle ich mich in die Zudecke und bin sofort weg.


Sommer der blauen Wünsche

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