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Regenschleier ziehen über die Steinmauern und Wiesen hinter dem Haus, die Hügel sind in grauen Nebel gehüllt. Ich schaue aus meinem Fenster und weiß, dass ich mich nie sattsehen werde an diesem Ausblick.

Zum Frühstück in Grans gemütlicher Küche gibt es Kaffee und für jeden eine Schüssel warmen Porridge mit Himbeeren, dicker Sahne und süßem, schottischem Honig, der nach Vanille duftet. Ma hat die Haferflocken immer mit Wasser gekocht und Bananen hineingeschnippelt, weil es schnell gehen musste oder nichts anderes da war. Ich bin überrascht, was für ein Genuss Haferbrei sein kann.

Mir fällt das schnarrende, nächtliche Geräusch wieder ein und ich frage Gran danach.

»Was du gehört hast, ist eine Wiesenralle, ›Wachtelkönig‹ sagen wir hier dazu. Es sind die Männchen, die diese Töne von sich geben, und sie rufen meist in der Nacht. Wiesenrallen sind sehr seltene Vögel und streng geschützt.«

Gran und ich nähern uns einander vorsichtig an und ich bin überrascht, was sie alles von mir weiß. Als sie mir vorschlägt, im Sommer doch für ein oder zwei Wochen meine beste Freundin einzuladen, gebe ich zu, dass ich keine habe.

»Ma war meine beste Freundin«, offenbare ich mit einem Achselzucken. Nachdem Oma Marianne innerhalb zweier Monate an Krebs gestorben war, hatte meine Mutter das Haus ihrer Eltern in Nienhagen für eine ordentliche Summe verkauft. Wir zogen damals in eine große Wohnung an der Spree in Friedrichshain, weil Ma sich in Berlin größere Chancen ausrechnete, als Malerin wahrgenommen zu werden.

Was auch zutraf, es für mich aber nicht besser machte. Denn abgesehen davon, dass mir meine Oma furchtbar fehlte, vermisste ich auch die Ostsee und meine Freunde. Meine Versuche, an der Schule in Berlin neue Freunde zu finden, scheiterten kläglich, nachdem ich ein paar Mädchen aus meiner Klasse zu meinem vierzehnten Geburtstag eingeladen hatte.

Ma – sie war gerade auf dem Höhepunkt einer Manie – ließ meine Gäste in die Wohnung. Wir aßen die bunte Buttercreme-Tortenkreation meiner Mutter und sie wirbelte die ganze Zeit um uns herum wie ein Derwisch. Nach dem Kaffeetrinken versuchte ich, mich mit den Mädchen in mein Zimmer zurückzuziehen, doch keine Chance. Ma wusste, wie man eine Party schmeißt. Sie erzählte Anekdoten aus ihrem Jugendleben, parodierte unsere Klassenlehrerin, riss alles an sich und vergaß mich dabei komplett.

Als Ma schließlich sehr farbig schilderte, wie sie mit vierzehn am Strand vom Nachbarjungen entjungfert worden war, wurde es den Mädchen zu viel und sie verschwanden verschämt kichernd eine nach der anderen. Zu guter Letzt flirtete Ma auch noch mit dem Vater von Mia, die als Einzige abgeholt werden musste. Mia war wütend und sagte etwas Beleidigendes zu mir. Ich schämte mich und erwiderte etwas Gemeines.

Danach begannen in der Schule die wildesten Gerüchte über uns zu kursieren und sie kamen nicht mehr zur Ruhe. Ich unternahm noch ein paar halbherzige Anstrengungen, sie aus dem Weg zu räumen, doch niemand wollte mich je wieder besuchen oder näher etwas mit mir zu tun haben. Letztendlich war es auch besser so, denn die Fantasie der anderen war eine ernsthafte Bedrohung für die Gratwanderung, die unser Leben war. Ich konnte nicht riskieren, dass jemand uns das Jugendamt auf den Hals schickte. Also kapselte ich mich ab. Die Gleichaltrigen um mich herum taten Dinge, die ich nicht tat, und manchmal sehnte ich mich danach, so zu sein wie sie. Wenigstens ab und zu.

Das Geld, das Ma für ihr Elternhaus bekommen hatte, rann ihr durch die Finger wie Ostseesand. Wir mussten schon bald in ein Wohnsilo nach Marzahn umziehen und dort entdeckte ich dann Die Gärten der Welt für mich. Mit einem Schülerticket für drei Euro konnte ich in diesem riesigen Landschaftspark in fremde Gartenwelten aus Asien, Europa und dem Orient eintauchen und mal für eine Weile an etwas anderes als an meine verrückte Mutter denken. Wenn dafür kein Geld mehr übrig war, blieb mir immer noch die Welt der Bücher.

»Aber warst du denn nicht furchtbar einsam?« Grans Augen haben einen verdächtig feuchten Schimmer.

»Ich hatte die Gärten und die Bücher, das reichte mir vollkommen.« Zugegeben, das stimmt nicht ganz. Die Sehnsucht, jemandem nahe zu sein, wurde mir erst im letzten Schulhalbjahr endgültig ausgetrieben, als ich mich unsterblich in Justus, einen Jungen aus meiner Parallelklasse, verliebte und glaubte, er würde meine Gefühle erwidern.

Gran mustert mich mit einiger Skepsis im Blick über den Rand ihrer schwarz gerahmten Brille hinweg. »Wann immer du darüber reden willst«, sagt sie, »ich bin für dich da.«

»Ich weiß. Danke, Gran.« Meine Oma meint es gut. Wie die meisten Menschen glaubt sie daran, dass es hilft, sich die Dinge von der Seele zu reden. Aber ich brauche keine Worte. Ich brauche nur den salzigen Wind und die See. Und eine Freundin vielleicht, mit der ich zusammen etwas unternehmen und meine Geheimnisse teilen kann.

Nach dem Frühstück öffnet Gran ihren kleinen Laden und ich sehe ihr eine Weile zu, wie sie an einem neuen Linolschnitt arbeitet. Mit ruhiger Hand schneidet sie ein Negativmotiv in die Druckplatte. Nach und nach erkenne ich, dass es Vögel mit langen Schnäbeln sind, die im Wasser waten.

»Was sind das für Vögel?«

»Austernfischer. Du hast ihre Rufe bestimmt schon gehört. Sie haben ein schwarz-weißes Gefieder und rote Schnäbel, Beine und Augen.« Sie zeigt mir einen fertigen Linoldruck in Schwarz und Rot. »Ich kann dir das Schneiden beibringen, wenn du das möchtest.«

»Ja, vielleicht. Aber lieber würde ich stricken, das kann ich nämlich ziemlich gut.« Ich zeige auf den Korb mit bunten Strickmützen aus Schafwolle, die innen mit weichem Fleece gefüttert sind. »Oma Marianne hat es mir beigebracht.«

»Kein Problem, Wolle habe ich mehr als genug. Ich stricke nämlich auch sehr gerne.«

Als Gran mich nach meinen Plänen für die Zukunft fragt, zucke ich die Achseln. Über meine Zukunft habe ich noch nicht viel nachgedacht, es war aufregend genug, in der Gegenwart klarzukommen. Immerhin habe ich meinen Realschulabschluss in der Tasche und bin heilfroh, keinen Gedanken mehr an Schule verschwenden zu müssen. Dieses Kapitel meines Lebens ist abgeschlossen. Kein Büffeln mehr, während nebenan Death Metal in voller Lautstärke läuft und mir vor Erschöpfung trotzdem die Augen zufallen. Kein Geschubse und Geschrei auf langen Schulfluren mehr, keine Hänseleien und spöttischen Blicke. Auch keine mitleidigen. Keine besorgten Lehrer und nie mehr Angst vorm Jugendamt.

»Ich habe die Zusage für ein Praktikum in einem Schäfereibetrieb am Stadtrand von Marzahn«, sage ich. »Im Januar geht es los. Landschaftspflege, Stallarbeiten, Futterernte.« Ich bin froh, diesen Platz ergattert zu haben und mich weiter um Ma kümmern zu können. Denn ohne meine Hilfe kommt sie nicht klar.

»Das klingt doch gut«, meint Gran mit verhaltenem Enthusiasmus in der Stimme. »Dann kannst du hier ja schon mal ein paar Erfahrungen im Umgang mit Schafen sammeln.«

Ich nicke. Dass ich in erster Linie endlich Erfahrungen im Umgang mit Gleichaltrigen sammeln will und nicht mit Schafen, behalte ich vorsorglich für mich. Als ich Gran vorschlage, für sie den Laden zu öffnen, während sie unterrichtet, lehnt sie dankend ab und meint, ich soll erst einmal ankommen, die Gegend und die Leute kennenlernen.

»Gönn dir eine Pause und mach Ferien, Carlin. Hol deine Kindheit nach. Denk jetzt einfach mal an dich, okay?«

»Okay«, sage ich und schlucke gegen die Enge in meiner Kehle an. Zugegeben, an mich zu denken und nicht an Ma, um die sich in den letzten drei Jahren mein Leben gedreht hat, ist ein ungewohntes Gefühl. Zu Hause war die meiste Arbeit an mir hängen geblieben, genauso wie die Organisation unseres chaotischen Lebens. Ma war entweder mit Malen beschäftigt gewesen, hatte sich mit einem neuen Freund im Bett vergnügt oder war hinter ihrer Zimmertür in den Winterschlaf verfallen.

Gran und ich kommen überein, dass wir uns die Hausarbeit teilen und dass ich ihr im Laden oder im Garten helfe, wenn sie mich braucht. Das bedeutet, ich werde haufenweise Zeit für mich haben. Diese Tatsache versetzt mich in leichte Panik. Aber als Gran mir einen Korb voll bunter Schafwolle bringt und lächelnd ein paar Stricknadeln in die Hand drückt, geht es mir sofort besser.

Gegen Mittag lässt der Regen nach und Gran bittet mich, uns zum Lunch eine Hühnersuppe aus dem Blue Mink zu holen. »Ich rufe Tereza an, sie soll uns was fertig machen«, sagt sie und drückt mir eine Zwanzigpfundnote in die Hand.

Der Asphalt der achtförmigen Straße, die die Häuser mit ihren Läden und Werkstätten verbindet, glänzt vor Nässe und Dampfwolken steigen auf. Ob Holzbildhauerwerkstatt, Schneiderladen, Glasdesignstudio oder Souvenirladen – jeder hier hat versucht, den nüchternen Armeegebäuden ein individuelles Aussehen zu geben. In den Bäumen neben einem orangefarbenen Haus sind alte Plastikschwimmer und türkisfarbene Fischernetze drapiert. Ein Autohänger ist bis oben hin voller Plastikmüll und auf einer Tafel werden Workshops für Einheimische und Touristen angeboten. Das dazugehörige Studio nennt sich Plastic Bay. Ich bin neugierig, was sich dahinter verbirgt, aber das hat auch später noch Zeit. Schließlich werde ich eine Weile hier sein.

Das Blue Mink Restaurant hat einen hellblauen Anstrich mit einem großen gemalten Minkwal neben dem Eingang. Im Gastraum, er ist nicht groß, stehen sechs Holztische mit jeweils vier Rohrstühlen. Zwei Tische sind besetzt. Ein älteres Ehepaar in Wanderschuhen und Freizeitkleidung studiert die Speisekarte. Zwei junge Frauen löffeln Suppe und lassen sich dabei über das schottische Wetter aus.

Die ginstergelben Wände des Gastraumes sind mit Fotografien geschmückt, welche die umliegende Landschaft zeigen. Auf einem erkenne ich Little Caladale, der Fotograf muss am See gestanden haben. Im Vordergrund liegt – halb im Wasser – ein kleines Ruderboot, dahinter ragen die verfallenen Mauern eines alten Gebäudes aus dem Gras. Am Rand der Künstlerkolonie, umgeben von einer Steinmauer, steht ein großes, grau verputztes Gebäude mit einem weißen Wintergarten. Komisch, aber dieses Haus ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen.

»Ist schön, ja?«

Erschrocken drehe ich mich um und stehe einem jungen Mann in schwarzer Schürze über weißem Hemd gegenüber, der mich freudig anstrahlt. Sein hellbraunes, an den Seiten rasiertes Haar ist zu einem strengen Zopf gebunden und er hat eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Seine dunkelbraunen Augen lächeln mich so warmherzig an, dass ich unwillkürlich rot werde.

»Hi, ich bin Mitja«, sagt er. »Und du müssen Carlin sein.«

»Ja«, sage ich mit einem Nicken. »Hi, Mitja. Was ist das denn für ein Haus?«

»Ist Old Manse, alte Pfarrhaus.« Er beugt sich an mein Ohr und flüstert: »Wohnt echte Hexe drin.«

»Klar.« Ich muss grinsen.

Aus der Küche kommt eine hübsche junge Frau, die braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, die mich ebenso freudestrahlend anlächelt wie Mitja. Dieselben braunen Augen, dieselbe Lücke zwischen den Schneidezähnen.

»Cock-a-leekie, Hühnchen mit Lauch«, sagt sie, stellt einen Thermobehälter auf den Tresen und gibt etwas in die Kasse ein. »Ist ein schottisches Nationalgericht und das Lieblingsessen deiner Granny.« Sie reicht mir die Hand: »Ich bin Tereza, Mitjas kleine Schwester.«

»Hi«, sage ich und krame nach dem Geld für die Suppe. Als ich zahle, zwinkert Mitja mir zu und ich lächele zurück. Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig, was zwar nicht mehr unter gleichaltrig fällt, aber er ist der schönste Mann, der je ein Wort mit mir gewechselt hat. Mit dem Suppenbehälter und einem Winken verlasse ich das Blue Mink.

Nach dem Lunch hat es endlich aufgehört zu regnen. Der Nebel hat sich verzogen und ab und zu bricht die Sonne durch die Wolken. Gran geht in ihr Atelier zurück und ich mache mich auf den Weg zur Bucht, denn ich habe eine Verabredung mit dem Meer. Die satte Nässe nach dem Regen lässt die Farben der Landschaft im Licht der Sonne noch intensiver aufleuchten. Smaragdgrün, Schiefergrau, Violettschwarz. Und über den Bergen ein halber Regenbogen.

Auch diesmal habe ich den ganzen Strand für mich allein. Nur ein paar Austernfischer in ihrem schwarz-weißen Harlekinkleid trippeln im flachen Wasser herum und picken mit ihren langen roten Schnäbeln nach den winzigen, fast durchsichtigen Strandflöhen, die auf dem nassen Sand herumhüpfen. Als ich den Vögeln zu nahe komme, fliegen sie mit schrillen Klipp-klipp-klipp-Schreien auf und davon.

Obwohl es so aussieht, als würde der nächste Regenschauer nicht lange auf sich warten lassen, mache ich noch einen Abstecher auf den Friedhof. Ein kleines rotes Auto steht einsam auf dem Parkplatz über der alten Mühle, aber als ich meinen Blick mit einigem Herzklopfen über den Friedhof schweifen lasse, kann ich niemanden entdecken. Auch das Innere der Kirchenruine ist verwaist.

Ich laufe eine Weile zwischen den Grabsteinen umher und begegne immer wieder denselben Familiennamen. Sutherland, Morrison, Sinclair, MacGregor, Mackenzie, Ross, Mackay, Gunn. Die Nässe im Gras dringt durch meine Schuhe und ich beschließe, mich auf den Heimweg zu machen, als ich auf einmal ein leises Schluchzen höre.

Ein Schaudern läuft mir über den Rücken und ich drehe mich einmal um die eigene Achse. Auf einem kleinen, neueren Teil des Friedhofes steht eine Frau vor einem Grab an der Mauer. Sie ist mittelgroß und sehr schlank, trägt Jeans, eine dunkelgrüne Regenjacke und Gummistiefel. Eine wilde Mähne weißblonder Locken ergießt sich über ihre Schultern und bedeckt ihren Rücken. Als ob sie meine Anwesenheit auf einmal spürt, dreht sie sich um und ich sehe, dass es ein Mädchen in meinem Alter ist.

Ihr elfenblasses Gesicht ist verweint und trotzdem von wahnwitziger Schönheit. Vermutlich fühlt sich das Mädchen von meiner Anwesenheit gestört, denn es huscht mit gesenktem Kopf ein paar Meter von mir entfernt zwischen den Grabsteinen zum Ausgang. Das Tor quietscht, eine Autotür klappt und ein Wagen fährt davon.

Neugier treibt mich zum Grab, vor dem das Mädchen gestanden hat. Die Gräber an der nördlichen Mauer des Friedhofes sind alle neueren Datums, aber auch hier finde ich dieselben Namen wie auf dem älteren Teil. Ein Strauß leuchtend gelber Lilien führt mich vor einen schlichten schwarzen Stein mit goldenen Lettern.

Finlay Morrison, darunter sein Geburtsjahr und Todesjahr. Geliebter Sohn, Bruder und zukünftiger Ehemann. R. I. P.

Wow. Dieser Junge war erst neunzehn gewesen und hatte schon heiraten wollen. Das elfenschöne Mädchen, da bin ich mir sicher, war seine verwitwete Braut.

Als ich wieder in die Kolonie einbiege, nieselt es. Die Choco Factory hat noch offen, und da Gran mir gestern Abend zwanzig Pfund Taschengeld in die Hand gedrückt hat, nutze ich die Gelegenheit, um herauszufinden, ob die Schokolade hier tatsächlich so gut ist wie ihr Ruf.

Der Schaukasten neben dem Eingang steckt voller Zettel und Anschläge: Busabfahrtszeiten, die Ankündigung des Highland Gathering Ende Juli, die Zeiten des Bibliotheksbusses, der jeden Dienstag zum Dorfgemeinschaftshaus kommt.

Die Wände des Cafés sind taubenblau, die Plastikstühle und Polstersitze orangefarben. Der volle Duft von warmer Schokolade und den verrücktesten Aromen umfängt mich. Hinter der Theke sortiert ein Mädchen mit hochgestecktem braunem Haar und einem hübschen, runden Gesicht Pralinen in die Auslage, die wie kleine Schätze aussehen.

»Hey«, begrüßt sie mich mit einem offenen Lächeln.

»Hi«, sage ich und beim Anblick der verschiedenen Schokoladenköstlichkeiten hinter dem Glas läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich liebe Schokolade. Doch die Trüffel mit ihren verschiedenen Verzierungen sind teuer.

»Ich nehme eine Haselnuss-Zitronengras-Trüffel und einen Blaubeertraum«, entscheide ich schweren Herzens und lege den Zwanzigpfundschein auf den Tresen.

»Wenn du eine heiße Schokolade nimmst, bekommst du zwei Trüffel gratis dazu.«

»Cool«, sage ich. »Dann mache ich das.«

Die Bedienung in roter Schürze über schwarzem T-Shirt macht die heiße Schokolade zurecht. Ich sehe zu, wie sie zuletzt flüssige dunkle und helle Schokolade über eine dicke Schicht Sahne drapiert.

»Du bist Carlin, nicht wahr? Silkes Enkeltochter aus Deutschland.« Das Mädchen legt die Trüffel auf einen Teller.

Ich nicke überrascht. Es scheint sich bereits überall herumgesprochen zu haben, wer ich bin. Eine dritte, mit Goldstaub bepuderte Orangentrüffel landet auf dem Teller und das Mädchen zwinkert mir zu. »Geht aufs Haus.«

»Oh, danke.« Ich zahle und steuere mit Trüffeln und heißer Schokolade einen Tisch an der Fensterfront zur Freiterrasse an. Noch ehe ich meine Tasse absetzen kann, springt eine orangefarben getigerte Katze auf den Tisch und schaut mich mit ihren grünen Augen herausfordernd an.

Das Mädchen lacht. »Darf ich vorstellen, das ist Fergus, er ist hier der eigentliche Chef. Und ich bin Ruby.«

Ruby, das Mädchen aus dem Dorf, von dem Gran mir erzählt hat. Fergus schmiegt schnurrend seinen Kopf in meine Hand. Ich nippe von der heißen Schokolade, die meinen Magen mit klebriger Süße wärmt. Der Biss in die Orangentrüffel ist eine Explosion aus herb-frischem Orangengeschmack, Vanille und Bitterschokolade.

»Hmm, köstlich.« Genüsslich verdrehe ich die Augen. »Bestimmt komme ich jetzt jeden Tag, wie eine Süchtige.«

Ruby lacht. »Das wird den Chef sicher freuen. Aber die Begrüßungstrüffel gibt es nur einmal.«

Ich verabschiede mich von Ruby. Auf dem Heimweg schiebe ich die Haselnuss-Zitronengras-Trüffel in den Mund und lasse mir die Köstlichkeit auf der Zunge zergehen.

Gran lacht, als ich ihr gestehe, dass ich gerade eine heiße Schokolade und raffinierte Trüffel hatte und demzufolge kein Abendessen mehr brauche. Später, als wir zusammen im Wohnzimmer auf der Couch sitzen, stricken und Kräutertee trinken, erzähle ich ihr von dem Mädchen mit den weißblonden Haaren und frage nach Finlay Morrison, dem Jungen, der so jung gestorben ist.

Gran lässt ihre Strickarbeit sinken. »Das ist eine wirklich schlimme Geschichte«, erzählt sie mit betrübter Miene. »Letztes Jahr kurz vor Weihnachten ist in Glasgow ein Müllwagen in eine Gruppe von Fußgängern gefahren. Sechs Menschen starben und es gab viele Verletzte. Fin, ein junger Crofter aus Caladale, war unter den Toten. Es war eine Tragödie für das ganze Dorf. Das Mädchen, das du an seinem Grab gesehen hast, war Seona, seine Freundin. Sie und Fin wollten diesen Monat heiraten.«

»So jung? Sie sah aus wie siebzehn.«

Grans Stricknadeln beginnen wieder zu klappern. »Seona ist neunzehn und es ist hier nicht ungewöhnlich, jung zu heiraten. Die beiden waren schon jahrelang zusammen, sie waren das Vorzeigepaar von Caladale. Wollten die Croft von Fins Vater übernehmen, der sehr krank ist und die Arbeit nicht mehr machen kann.«

Ich will wissen, was eine Croft ist, und Gran erklärt mir, dass es sich dabei um ein kleines, gepachtetes Bauerngehöft handelt, meist mit etwas Land und Vieh zur Selbstversorgung. »Ein paar Kühe und Schafe, Hühner, Kartoffeln und Gemüse. Die meisten Crofter haben Mühe, über die Runden zu kommen mit ihrer Arbeit. Meistens müssen die Männer noch eine Saisonarbeit in der Fischerei oder auf einer Ölplattform annehmen, während die Frauen sich um die Kinder und das Land kümmern. Durch den Brexit und den Wegfall der EU-Gelder sind die Zukunftsaussichten für junge Leute hier oben im Norden noch weniger rosig geworden. Niemand hier lebt im Überfluss, das wirst du bald feststellen.«

»Hört sich nach einem harten Dasein an«, bemerke ich.

Gran nickt. »Trotzdem lieben die Menschen das Land, mit dem sie verwurzelt sind. Sie wollen etwas verändern, damit die jungen Leute wieder einen Grund haben, nach dem Studium in ihre Elternhäuser zurückzukehren. Aber wer einmal von hier fortgeht, hat es oft schwer. Schlimmstenfalls gehört er nie mehr richtig dazu.«

»Das ist krass.«

»Ja.« Gran nickt. »Wer hier aufwächst, Schätzchen, der kann sehr glücklich oder sehr unglücklich sein.«


Sommer der blauen Wünsche

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