Читать книгу Sommer der blauen Wünsche - Antje Babendererde - Страница 6

Оглавление

1

»Bald sind wir da«, sagt Gran Silke, »das ist schon der Kyle of Durness. Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer.«

Eingelullt vom Geschaukel des alten Skoda, muss ich weggenickt sein. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von vierzig km/h lenkt meine Oma ihr Auto über eine einspurige Straße, die sich als grau schimmerndes Band durch eine kahle Heidelandschaft zieht. Es nieselt und graue Wolkenschleier verhüllen die Kuppen braungrüner Hügel, die wie die Flanken eines schlafenden Fabeltieres den Kyle, einen gewundenen Meeresarm, säumen.

Offenbar kann man im Nordwesten der Grafschaft Sutherland außer Schafezählen nicht viel anderes machen. Gran wohnt in einer kleinen Künstlerkolonie am Rand der schottischen Küstengemeinde Caladale. Zweihundert Menschen leben im Dorf, zwanzig in der Kolonie, die für eine Weile auch mein Zuhause sein wird.

Viel weiß ich nicht über die Mutter meines Vaters, nur dass sie als Lehrerin arbeitet, ursprünglich aus Marburg stammt und mit Malcolm Mackenzie, einem schottischen Brückenkonstrukteur, durchgebrannt ist, der zwanzig Jahre älter war als sie.

»Gran und Grandpa sind nicht mehr deine Großeltern, weil dein Dad nicht mehr dein Dad ist«, hatte Ma mit energischer Bestimmtheit zu mir gesagt, nachdem mein Vater auf Nimmerwiedersehen verschwunden war.

Gran hat sich in den vergangenen zehn Jahren, in denen Ma sie aus unserem Leben verbannt hat, kaum verändert. Zwar überwiegt nun das Grau in ihrem dicken, einst schwarzen Haar und mir sind auch die feinen Falten um ihre bernsteinfarbenen Augen nicht entgangen. Aber als meine Oma auf dem Flughafen von Inverness vor mir stand, habe ich sie sofort wiedererkannt.

Während die düsterkahle Landschaft an uns vorüberzieht und pausenlos Nieselregen niedergeht, befallen mich Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war hierherzukommen.

»Im Flieger hat jemand gesagt, das normale Wetter endet da, wo Schottland beginnt.«

Gran lacht. »Stimmt. Hier wechselt das Wetter von einem Moment auf den anderen.«

Wie die Stimmungen meiner Mutter, geht es mir durch den Kopf. Doch während dem schottischen Wetter mit nichts beizukommen ist, versucht man in einer geschlossenen Klinik in Berlin, die wogenden Gefühlszustände meiner Ma mit Psychopharmaka zu bekämpfen. Und ich komme mir vor wie eine Verräterin, weil ich es war, die den Notarzt gerufen hat.

»Carlin?«

»Hm.«

»Ich weiß, du machst dir Sorgen um deine Mutter, aber in der Klinik ist sie in den besten Händen. Du hast ihr das Leben gerettet, Schätzchen. Susanne braucht jetzt professionelle Hilfe.«

Schätzchen? Gran meint es gut mit mir, aber sie weiß nicht, was ich getan habe. Niemand weiß das, außer Ma. Wenn die Depression ihre dunklen Flügel hebt und sie es begreift, wird sie mich auf ewig dafür hassen.

Ich schlucke gegen die Enge an, die meine Kehle zuschnürt. Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich außerhalb der Welt meiner Mutter überhaupt existiere. Doch bei Gran werde ich weit weg von allem sein, was mein Leben bisher ausgemacht hat. Von einer Plattenbauwohnung in Berlin-Marzahn in den wilden Norden Schottlands an einem Tag. Tada!

»Du hast alles richtig gemacht, Carlin.« Gran tätschelt mein Knie.

Ich weiß, denke ich. Trotzdem sitzt das dämliche Schuldgefühl in meiner Brust wie ein kleines Tier, das mir seine spitzen Zähne ins Herz gräbt.

Wir erreichen Caladale, ein verschlafenes Nest, das aus einer losen Ansammlung von kleinen Häusern entlang der Straße besteht. Im Zentrum – links der Pub mit ein paar Fremdenzimmern darüber, rechts eine Tanke – stoßen wir auf die eigentliche Ortsstraße und den SPAR-Laden, der laut Gran tagsüber das gesellschaftliche Zentrum des Dorfes ist, so wie der Pub am Abend. Die Straßenschilder sind zweisprachig. Die gälischen Namen – A-Màireach, Clachan-ciúird Bhaile na Cille, Diurnais, Uam Smudha – sind unaussprechlich wie geheimnisvolle Zauberformeln.

»Sprechen denn die Leute hier überhaupt noch Gälisch?«, frage ich Gran.

»Oh ja, einige schon. Viele Eltern legen wieder Wert darauf, dass es an der Schule Gälischunterricht gibt.«

Auf den Schildern, die nach rechts weisen, lese ich Durness, Campingplatz, Smoo Cave, Loch Eriboll und Wick. Nach links geht es zur Künstlerkolonie Little Caladale, zur Caladale Bay, zum Friedhof und zum Golfplatz. Gran setzt den Blinker und biegt nach links.

»Hinter dem Golfplatz ist Schluss«, sagt sie. »Schroffe Klippen und dann nur noch Meer bis Island.«

Caladale ist der Arsch der Welt, aber das wusste ich, bevor ich Gran angerufen habe.

Wir passieren eine alte, weiß getünchte Kirche mit einem großen Holztor, das weit offen steht. Drinnen aufgebockt das helle Gerippe eines Bootes. Hinter dem zweckentfremdeten Gotteshaus säumen Trockensteinmauern die schmaler werdende Straße. Zottelige Schafe mit schwarzen Gesichtern und gescheckten Beinen stehen auf regennassen Wiesen. Drei Ponys mit zerzausten Mähnen heben neugierig ihre Köpfe über die Mauer.

Am Ende des Dorfes macht die Straße eine Linkskurve, bevor sie leicht nach unten abfällt. Gran bremst und bleibt stehen. Links vor uns liegt Little Caladale, eine großflächig verteilte Ansammlung von flachen Steinbaracken mit überdimensionalen Betonquadern auf den Dächern, die zwischen Bäumen und Sträuchern hervorragen. Rechter Hand blicke ich einen grünen Hügel hinab auf eine lang gezogene, sandige Bucht mit einem schmucklosen, alten Bau, der herrschaftlich über dem Strand thront.

Plötzlich ein Riss in den Wolken. Sonnenlicht flutet die von Trockenmauern und Schafen gemusterten Hügel, die unter Nebelschwaden geheimnisvoll glitzern. Die Wände des großen Hauses erstrahlen hell. Ein breiter Regenbogen in Rot, Orange, Gelb, Grün, Indigo und Violett spannt sich über der leuchtend türkisfarbenen See mit den weißen Schaumkronen.

»Caladale heißt dich willkommen«, bemerkt Gran lächelnd.

Wow. Auf einmal bin ich hellwach, mein Herz schlägt schneller und fast meine ich, den Salzduft des Meeres riechen zu können.

Gran lässt ihren Skoda die letzten hundert Meter bis zur Einfahrt der Künstlerkolonie rollen und erzählt, dass man in den Fünfzigerjahren hier eine militärische Frühwarnstation gebaut, die Gebäude jedoch nie genutzt hat. »Niemand hat sich dafür interessiert, sie waren den Herbststürmen überlassen. Mitte der Sechzigerjahre hat dann ein bunt zusammengewürfelter Haufen Aussteiger aus aller Welt die Militärgebäude und ein Stück vom umliegenden Land gekauft und zu einem kreativen Ort umgebaut.«

Gleich am Eingang empfängt uns ein hellblau gestrichenes Gebäude mit großen Fenstern und einer Terrasse mit Tischen und Stühlen, die von gelben Ginsterbüschen umgeben ist. Choco Factory prangt in Großbuchstaben über dem Eingang.

»Hier gibt es die besten Pralinen und die göttlichste heiße Schokolade im Umkreis von zweihundert Kilometern«, verspricht Gran mit einem Augenzwinkern. »Und wir wohnen gleich da drüben.«

Vor uns liegt eine kleine Rasenfläche. Drum herum stehen hinter Bäumen, Sträuchern und blühenden Stauden die ehemaligen Militärgebäude, die mit bunten Anstrichen versehen sind und Wohnungen, Läden und Werkstätten beherbergen. Fünfzehn Häuser, hat Gran gesagt, und zwanzig derzeitige Bewohner.

»Wie hat es dich ausgerechnet hierher verschlagen?«, will ich von ihr wissen.

Ursprünglich hatten meine Großeltern in Inverness gelebt und ich kann mich noch vage an unsere Besuche in ihrem kleinen Haus mit dem handtuchgroßen Garten erinnern. Als ich sieben war, stellte mein Vater fest, dass seine Familie ihm ein Klotz am Bein ist, und er machte sich aus dem Staub, um seine Karriere voranzutreiben. Seither hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihm und auch nicht zu meinen Großeltern in Schottland. Ich wusste nicht mal, dass mein Großvater Malcolm gestorben war.

Als ich Gran vor einer Woche anrief und sie es mir erzählte, fürchtete ich, dass sie nichts mehr von mir wissen will. Doch als ich meiner Großmutter den Schlamassel schilderte, in dem ich steckte, schlug sie mir, ohne zu zögern, vor, eine Weile bei ihr zu wohnen. Sie hat mir ein Flugticket von Berlin nach Inverness gekauft und mich am Flughafen abgeholt.

»Malcolms Familie stammt aus Caladale.« Gran lenkt den Wagen nach rechts vorbei an einen kleinen Parkplatz, auf dem zwei Autos stehen. »In den letzten Jahren haben wir uns jeden Sommer in Caladale eine Ferienwohnung gemietet. Es war unsere schönste Zeit, obwohl dein Grandpa schon so krank war. Nach seinem Tod habe ich unser Haus in Inverness verkauft und bin in die Künstlerkolonie gezogen. Das ist jetzt sieben Jahre her und ich habe noch keinen einzigen Tag davon bereut.«

Gran parkt vor einem rot getünchten, L-förmigen Gebäude mit zwei weißen Eingangstüren und einer weißen Bank davor. Wir steigen aus und sie deutet auf den vorstehenden Gebäudeteil mit blühenden Blumen in Terrakottakübeln neben der Tür und einem kleinen Schaufenster, in dem gerahmte Grafiken hängen. »Mein Atelier und der Laden.«

Meine Oma unterrichtet Kunst und Englisch an der Grundschule in Durness, dem Nachbardorf von Caladale. Den kleinen Laden, in dem sie ihre Druckgrafiken und Kunstpostkarten verkauft, betreibt sie nur nebenbei.

»Ich werde dir alles zeigen«, sagt sie, »aber bringen wir erst mal die Einkäufe ins Haus.« Gran hat die weite Fahrt nach Inverness genutzt, um Lebensmittel einzukaufen und ein paar Dinge zu besorgen, die sie hier nirgendwo bekommt. Denn die Grafschaft Sutherland ist eine Grafschaft ohne Stadt. Bis nach Thurso, dem nächstgrößeren Ort mit einem Tesco Superstore, fährt man über zwei Stunden, bis nach Inverness mehr als drei.

Wir tragen Lebensmittel durch einen schmalen Flur in die behagliche Küche mit einer Eckbank und einem runden Esstisch aus Eichenholz, an den ich mich noch erinnere. Grandpa hatte zu jeder Kerbe in seiner Oberfläche eine Geschichte gewusst. Er hatte mir erzählt, es sei der Tisch eines Piratenkönigs, gebaut aus den Planken seines Schiffes, das vor der Küste an einer Klippe zerschellt war. Während ich mit den Fingern über die Tischplatte streiche und die Kerben mit den Fingern nachzeichne, kann ich die Stimme meines Großvaters hören und auf einmal vermisse ich ihn und sein gemütliches Lachen.

»Na komm«, sagt Gran mit belegter Stimme, »ich zeige dir dein Zimmer. Den Rest des Hauses kannst du dir später noch ansehen.«

Ich folge ihr durch den Flur und sie öffnet kurz die Tür zum Bad mit Waschmaschine und Trockner gleich neben der Küche. Die letzte Tür am Ende des Flures führt in ein geräumiges Zimmer mit breiten honigfarbenen Dielen und weiß gestrichenen Wänden. Auf dem Doppelbett in der Ecke liegt ein Quilt in den Farben des Meeres.

»Im Sommer vermiete ich sonst an Feriengäste, deshalb hast du hier dein eigenes kleines Bad.« Gran zeigt auf eine schmale Tür, doch ich schaue kaum hin. Eine breite Fensterfront mit einer Terrassentür zieht sich über die hintere Wand des Raumes. Sie gibt den Blick frei auf von Steinmauern gesäumte smaragdgrüne Wiesen, einen blauen, in der Sonne blitzenden See und Hügel, die grauviolett schimmern. Von der Terrassentür aus kann ich sogar ein schmales Band leuchtendes Meer sehen. Mein Herz schlägt schneller. Die Aussicht ist atemberaubend und ich habe Mühe, meinen Blick loszureißen.

»Was sagst du?«, fragt Gran vorsichtig. »Gefällt es dir?«

Auf den Dielen liegt ein Flickenteppich, vom selben Türkisblau wie der Quilt und die Kissen in den beiden Korbsesseln. Der Kleiderschrank mit Spiegeltür ist so groß, dass sich die wenigen Klamotten in meiner Sporttasche darin verloren vorkommen werden. Das deckenhohe Bücherregal ist, abgesehen von einer kleinen Büchersammlung, leer. Unter der Fensterfront steht ein Schreibtisch, und wieder wandert mein Blick hinaus auf die umliegenden Hügel und den See, der wie ein Topas in der Sonne funkelt. So flirrendes Licht. So unwirkliche Einsamkeit. Es brennt verdächtig hinter meinen Augen, denn ich muss an den tristen Ausblick von meinem Zimmer in Marzahn auf den benachbarten Wohnblock denken.

Ich drehe mich zu Gran um. »Oh ja, danke. Ich …« Und dann kommen die Tränen.

Meine Großmutter schließt mich in die Arme. »Willkommen, Kleines«, flüstert sie und ich spüre, dass ihr Körper genauso bebt wie meiner. »Ich bin so glücklich, dass du wieder Teil meines Lebens sein wirst.«

In der Küche schiebt Gran ein vorbereitetes Blech mit Lachsfilet, Kartoffelstücken und Gemüse in den Ofen, dann zeigt sie mir das Wohnzimmer. Schlichte helle Holzmöbel, ein hellblaues Sofa und zwei passende Sessel, die vor einem Panoramafenster stehen, durch das man denselben Blick wie aus meinem Zimmer hat. Vom Wohnzimmer geht eine Tür in ihr Schlafzimmer ab.

Gegenüber dem Wohnzimmer befindet sich der Laden und wir werfen noch einen kurzen Blick hinein. Der hintere Teil dient Gran als Atelier, wo sie ihre Linoldrucke herstellt. Im vorderen Teil verkauft sie ihre Kunstpostkarten und Drucke, aber auch bunte Schafwollmützen und Socken sowie eigenwilligen Schmuck, handgeschöpfte Seife aus Schafmilch und andere lokale Produkte.

Während Gran in der Küche den Tisch für zwei deckt, betrachte ich die gerahmten Fotos über der Eckbank. Da ist ein Hochzeitsfoto von meinen Großeltern, auf dem Gran nicht viel älter ist als ich. Sie trägt ein schlichtes blaues Kleid und Grandpa Malcolm ein weißes Hemd und eine schwarze Weste über einem Schottenrock im Mackenzie-Tartanmuster.

»Wow«, sage ich.

»Wie alle Schotten war dein Grandpa stolz auf seinen Clan«, bemerkt Gran. »Ein Viertelchen Mackenzie-Blut fließt auch in deinen Adern, Schätzchen. Wenn es dich interessiert, versorge ich dich mit Lektüre über deinen Clan.«

Meinen Clan? Über diese Dinge hatte ich noch nicht weiter nachgedacht, aber ich merke, dass meine Herkunft mich sehr wohl interessiert. Auf dem Foto daneben hält Gran einen Säugling im Arm, der auf jedem folgenden Bild immer älter wird und schließlich ein junger Mann mit schwarzem Haar und großen hellen Augen ist. Mein Vater Iain, ihr einziges Kind. Er hat in Berlin Architektur studiert und dort an der Uni meine Mutter kennengelernt. Ma hat mir erzählt, sie hätte sich wegen seiner Augen in meinen Vater verliebt und ich solle niemals einem Mann mit schönen Augen trauen.

Als ich geboren wurde, machte mein Vater seinen Abschluss an der Uni in Glasgow. Ma brach ihr Studium ab und zog mit mir wieder zurück ins Haus meiner Oma Marianne in Nienhagen, einem kleinen Ostseebad. Sie kellnerte und malte und wartete auf meinen Vater, der kam und ging, wie er wollte.

Auf dem nächsten Foto bin ich zusammen mit meinen Eltern zu sehen, da war ich drei oder vier. Und dann eins nur mit meinem Vater, er mit Dreitagebart und ich mit kurzen Haaren. Wir stehen vor einem Steinturm, der einsam aus weitem Moorland aufragt.

»Culloden Moor, das Schlachtfeld«, versucht Gran, mir auf die Sprünge zu helfen. »Das war dein letzter Besuch bei uns in Inverness, zusammen mit deinem Dad. Du warst sieben. Erinnerst du dich noch daran?«

Ich schüttele den Kopf und mein Blick wandert weiter zu einem Bild, auf dem mein Vater einen Hipster-Bart trägt und vor einem futuristisch aussehenden Haus steht.

»Das ist in Darwin, Australien.« Gran holt das Blech aus dem Ofen und tut uns auf. Es duftet köstlich und mein Magen knurrt, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Mein Vater lebt also in Australien.

»Ich bin nicht stolz auf Iain.« Gran stochert mit der Gabel in ihrem Gemüse herum. »Es war unverantwortlich von ihm, Susanne mit dir allein zu lassen. Dein Vater hat davon geträumt, ein berühmter Architekt zu werden, und tja, dabei wart ihr beide ihm wohl im Weg. Malcolm hat sich darüber mit seinem Sohn entzweit. Iain kam nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters, das kann ich ihm bis heute nicht verzeihen.« Gran wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und seufzt. »Damals, als Malcolm krank wurde, wusste ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht, und der Kontakt zu deiner Oma Marianne brach ab.« Entschuldigend blickt sie mich an. »Es tut mir leid, Carlin, ich hätte versuchen müssen, Susanne und dich zu finden. Das war bestimmt keine leichte Zeit für dich, allein mit deiner Mutter.«

Keine leichte Zeit? Ich senke den Blick auf meinen Teller und denke an die emotionalen Achterbahnfahrten der letzten drei Jahre. Frage mich, ob Gran auch nur eine Ahnung davon hat, wie das für mich war, mit Ma zu leben. Mit einer Mutter, die zwei Gesichter hat, eins lachend, eins weinend. Eins fürsorglich, eins erschreckend. Und niemand, mit dem ich mir die Aufgabe, für sie da zu sein, teilen konnte.

Gran hätte Ma und mich problemlos finden können in Berlin. Sie hätte nur Susanne Schwarz und Malerin googeln müssen. Aber ich mache ihr keine Vorwürfe, denn was vergangen ist, kann man nicht mehr ändern. Und schließlich bin ich ja jetzt hier, bei ihr.

»Wenn du darüber reden möchtest …« Gran mustert mich beinahe bittend, aber ich schüttele den Kopf.

Ma ist in der Klinik und bekommt professionelle Hilfe – auch wenn sie die nicht will. Statt in einer Jugendeinrichtung bin ich in Schottland bei meiner Oma gelandet. Alles ist super. Ich will nicht über meine Mutter reden und auch nicht über mich. Ich will endlich ans Meer. Der Druck um meine Kehle löst sich und ich stürze mich auf Lachs und Gemüse. Genieße jeden Bissen. Freue mich, dass jemand für mich gekocht hat. Fühle mich willkommen und hoffe, dass ich gut mit Gran auskommen werde.

»Bestimmt wirst du dich hier schnell einleben und Kontakt zu Gleichaltrigen finden«, sagt sie, glücklich über meinen plötzlichen Appetit.

»Gibt es denn hier überhaupt Gleichaltrige?«, frage ich mit vorsichtiger Skepsis. An Grans Grundschule im Nachbardorf werden derzeit dreizehn Schüler im Alter von vier bis zwölf unterrichtet und ich habe das Gefühl, ein Sommer wird nicht reichen, um hier jemanden in meinem Alter zu treffen.

»Aber ja«, erwidert Gran. »Allerdings bleiben die jungen Leute lieber unter sich.« Ihr Gesicht hellt sich auf. »Drüben im Café arbeitet ein Mädchen aus dem Dorf, sie heißt Ruby und dürfte so alt sein wie du. Ruby ist offen und sehr nett. Wenn du dich mit ihr anfreundest, bekommst du vielleicht schneller Kontakt zu den einheimischen Jugendlichen.«

»Klingt zumindest nach einem Plan«, erwidere ich, um ihr eine Freude zu machen. Außerhalb der Schule habe ich die Gesellschaft von Menschen weitgehend gemieden und deshalb wenig Erfahrung damit, auf andere zuzugehen. Aber Caladale ist eine Welt weit weg von meinem wirklichen Leben und ich habe beschlossen, in den nächsten Wochen einiges nachzuholen, was ich in den vergangenen drei Jahren versäumt habe.

Schließlich halte ich es nicht länger aus, meine Ungeduld, ans Meer zu kommen, macht mich ganz kribbelig. »Gran, ist es okay für dich, wenn ich noch eine Runde drehe? Ich habe das Meer so sehr vermisst.«

»Na, worauf wartest du dann noch?« Meine Oma macht eine scheuchende Handbewegung. »Du kannst tun und lassen, was du willst, Carlin, nur hab dein Handy immer dabei, okay? Hier gibt es zwar so viele Funklöcher wie Kaninchenlöcher, aber hin und wieder funktioniert die Verbindung.«

»Mach ich«, sage ich, fasse in die Tasche meiner schwarzen Jeans und halte mein neues Handy in die Höhe, das Gran mir am Flughafen gekauft hat.

»Bis zur Bucht sind es nur ein paar Minuten zu Fuß«, sagt sie. »Du kannst überall entlanglaufen, aber wenn du ein Weidetor öffnest, dann achte darauf, es wieder hinter dir zu schließen, damit die Schafe nicht abhauen können. Sonst bekommen wir mächtigen Ärger mit den Campbells von der Farm.«

Wir, denke ich. Gran hat gerade wir gesagt. Ich darf tun und lassen, was ich will, bin aber nicht mir selbst überlassen. Das ist neu für mich und hört sich wundervoll an. Ich ziehe meine schwarze Windjacke über, und während ich die Schnürstiefel binde, frage ich meine Oma, ob es da draußen irgendetwas gibt, das ich an meinem ersten Tag unbedingt sehen sollte.

»Auf jeden Fall den Friedhof von Caladale und die alte Kirche.« Gran erzählt mir von Donald McMurdo, einem Straßenräuber und Mörder, der mindestens achtzehn Menschen auf dem Gewissen haben soll. »McMurdo wurde vor vierhundert Jahren am Loch Croispol hingerichtet. Für viel Geld hat er sich ein Grab in der Wand der Kirche von Caladale erkauft, weil er nicht wollte, dass seine Feinde über seine Gebeine hinwegtrampeln.«

Wow, denke ich, ein Massenmörder, der in einer Kirche begraben liegt. Willkommen in Schottland, Carlin.

Sommer der blauen Wünsche

Подняться наверх