Читать книгу Fantasy Sammelband Riyala - Tochter der Edelsteinwelt Band 1 bis 5 - Antje Ippensen - Страница 10
4. Kapitel: Geheimnisse
ОглавлениеDer Silberne Saal im Herzen der Mondburg war kreisrund. Kostbare Einlegearbeiten und Ornamente schmückten die Wände: Mondsymbole überall und zahlreiche Sterne sowie Schriftzeichen aus uralter Zeit. Farbtöne in Perlmutt, gebrochenem Weiß und Taubengrau herrschten vor – die Nuancen des Mondes. Die verschnörkelten Kerzenleuchter, die den fensterlosen Saal erleuchteten, bestanden aus blankpoliertem, getriebenem Silber. Genau sieben dieser Leuchter waren um den Altar der Großen Mutter herum angeordnet ... und das war der Ort, zu dem die Matriarchin von Co-Lha ihre Tochter gerufen hatte.
„ Mein Kind, ich mache mir Gedanken über dich.“ Riyalas Mutter sprach in ernstem Tonfall, aber es lag kein Vorwurf in ihrer Stimme.
Riyala war dennoch beklommen zumute – ohnehin fand sie es in diesem Saal immer kalt, und sie fröstelte. Sie hatte wenig Lust zu einem Gespräch mit der Matriarchin ... seit mehreren Wochen, genauer gesagt seit jenem denkwürdigen Tag ihres „Ausfluges“ ,waren ihr beide Eltern fremd geworden.
„ Deine Sorgen um mich sind vollkommen überflüssig“, sagte Riyala abwehrend und in einem leicht gereizten Tonfall. Innerlich seufzte sie dabei – sie hatte ja gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Irgendwann, das hatte sie geahnt, würden die Autorität und der Einfluss ihres zauberkundigen Lehrmeisters nicht mehr ausreichen, um ihre Familie auf Distanz zu halten. Riyala hatte sich deshalb auf diesen Tag vorbereitet und gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen ... Natürlich liebte sie ihre Mutter, aber es lag nicht in ihrer Absicht, auch nur eins ihrer sorgfältig gehüteten Geheimnisse preiszugeben.
„ Sorgen um dich?“, erwiderte die Mutter. „Nein, meine Tochter. Ich weiß, dass der alte Mann gut auf dich achtet. Er hütet dich wie einen Schatz und teilt sein Wissen mit dir. Meine Gedanken wandern vielmehr in die nahe Zukunft, die so furchtbar düster aussieht.“
In der Kunst des Gedankenlesens hatte sich Riyala bislang kaum geübt – sie wollte gar nicht so genau wissen, was jeder dachte, und glaubte auch nicht daran, diese Fähigkeit zu besitzen – aber jetzt spürte sie nur allzu deutlich, was in der Matriarchin vorging. Aus deren von vielen Fältchen durchzogenem, aber immer noch hübschem Gesicht leuchteten die graugrünen Augen wie zwei Sterne. Das Haar fiel in dichten Wellen von dunklem Silber auf ihre zierlichen Schultern herab. Die Regentin von Co-Lha war hochgewachsen und hielt sich sehr gerade.
Und durch ihre imposante Erscheinung hindurch wurden vor Riyalas geistigem Auge plötzlich die viele Jahrhunderte alten Traditionen des Landes sichtbar – so lange es Aufzeichnungen gab, hatte eine Frau das Land regiert, unterstützt von einem Mann, der in der Regel ihr Lebensgefährte war. Zu ihrem Gefährten wurde er durch das Große Vereinigungsritual, das die Vermählung der Großen Göttin symbolisierte und aus dem Mann den göttlichen Helden machte, den die Göttin sich erwählte.
Im Laufe der Zeit hatte sich diese Regierungsform dahin entwickelt, dass beide, Matriarchin und Heros, gemeinsam die Verantwortung übernahmen und sich die Regentschaft gleichberechtigt teilten. – Grundlage allen Tuns war die Anbetung der Großen Muttergöttin; Jahreszeitenrituale hielten das Land im Gleichgewicht und die Menschen im Einklang mit der Natur – ja, so war es jedenfalls gewesen, ehe die Zeit der Dürre kam. Erst jetzt griffen Verwirrung, Anarchie und allgemeine Sinnlosigkeit um sich wie ein Steppenbrand. Niemand wusste, wodurch die Katastrophe ausgelöst worden war, nicht einmal die höchsten Zauberpriesterinnen von Co-Lha.
War es da verwunderlich, dass Riyala in den Augen der Mutter eine verzweifelte Bitte um Hilfe las?
Es lag ihr schon auf der Zunge, eine aufrichtige und beruhigende Antwort zu geben, zu erklären, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun wolle, um ihrem Land beizustehen ...
Aber sie zögerte. Zu sehr genoss sie ihr jetziges Leben: die prickelnden Treffen mit Nigel, die Küsse im Mondlicht und die kleinen Dorffeste, auf denen sie wild und ausgelassen tanzten, sie und ihr Verehrer aus dem Volke, der sie nach wie vor für das Gauklermädchen Zalana hielt. Nigel staunte oft darüber, wie findig und geschickt seine Zalana darin war, Nahrungsmittel und Wasser aufzutreiben. Seit er und das „Gauklermädchen“ sich ineinander verliebt hatten, ging es dem Dorf Arjenez besser als zuvor, die Menschen waren kräftiger und konnten sich auch das halbverhungerte Gesindel von außerhalb besser vom Halse halten. Niemand unter den Dorfbewohnern ahnte, dass Zalanas „Mitbringsel“ sämtlich aus den Speisekammern der Mondburg stammten ...
Und auch die Lehrzeiten beim Edelstein-Magister waren ungemein aufregend und verliehen Riyala ein wachsendes Machtgefühl, das ihr sehr gefiel. Zwar war ihr noch immer nicht ganz klar, welche Ziele der alte Mann verfolgte – wie alt mochte er überhaupt sein, und wer war er wirklich? Doch gerade diese Rätselhaftigkeit reizte sie umso mehr.
Dies alles aufgeben und nur noch für die Pflichten gegenüber dem Land leben? Wie öde und bedrückend! Wo bliebe da ihr eigenes Vergnügen? Nein, all das hatte wohl noch etwas Zeit.
In das lange Schweigen hinein sagte die Matriarchin leise: „Ich denke, du weißt sehr gut, weshalb ich dich hierher rufen ließ, meine Tochter.“
Auf einmal bemerkte Riyala, wie erschöpft und verbraucht ihre Mutter aussah: Jedes einzelne Fältchen in ihrem zarten Gesicht sprach von unendlicher Müdigkeit.
Rasch senkte Riyala den Blick und schaute auf das kostbare blau-silberne Tuch, das den Altar bedeckte. In verschlungenen Mustern waren die drei Lebensalter der Großen Göttin hineingewebt: Jungfrau, Mutter und Weise Alte Frau. Dieses Bild, von den Zauberpriesterinnen Co-Lhas kunstvoll gefertigt, besaß große spirituelle Bedeutung. Riyala jedoch dachte bei der Betrachtung nur mit Unbehagen daran, was sie selbst vor einem Jahr an genau dieser Stelle getan hatte: Anstatt zu meditieren und zu beten, hatte sie hier – ohne jegliche geistig-seelische Vorbereitung – heimlich eine Portion des dunklen Traumgiftes zu sich genommen.
Wieder erklang die leise Stimme ihrer Mutter: „Sieh mich an, Riyala.“
Lass mich doch in Ruhe, dachte Riyala missmutig, hob aber gehorsam den Kopf.
„ Du hast dich in der letzten Zeit verändert und an Reife und Kraft gewonnen, seitdem dich der alte Mann in die Lehre genommen hat. Jener Teil unseres Volkes, das innerhalb der Stadtmauern lebt, verehrt und liebt dich; es sieht dich als Hoffnungsträgerin, während es mir und deinem Vater immer weniger vertraut.“
Die Matriarchin machte eine Pause.
Ja, auch das stimmte: Riyala sonnte sich oft in den bewundernden Blicken der städtischen Bevölkerung; sie sah es gern, wenn Mütter ihre kleinen Kinder hochhoben, damit diese die „Tochter der Hoffnung“ sehen konnten – das genau war der Beiname, den man ihr gab.
„ Mit jedem Tag, der ohne Regen verstreicht, wird unsere Lage ernster“, fuhr die Mutter fort. „Dein Land braucht dich, Riyala. Du hast bei dem alten Mann viel gelernt – nun ist es an der Zeit, deine Fähigkeiten in den Dienst von Co-Lha zu stellen. Du bist ja sehr verschwiegen, mein liebes Kind ...“, die Stimme der Matriarchin wurde immer eindringlicher, fast beschwörend, „... doch ich bin sicher, dass du etwas tun kannst. Der alte Mann besitzt große Macht; auch wenn dein Vater und ich stets dachten, dass etwas Dunkles von ihm ausgeht. Aber du bist jung und voller Kraft und Licht. Geh hinaus und zeige dich auch den armen Menschen draußen, denen es noch um so vieles schlechter geht! – Dein Vater und ich haben beschlossen, zu deinen Gunsten abzudanken.“
Obwohl sie gewusst hatte, dass so etwas kommen würde, hallten diese letzten Worte wie Donnerschläge in Riyalas Ohren wider. Sie schluckte.
Jetzt war der Moment da.
„ Mutter, ich werde darüber nachdenken“, log Riyala so überzeugend wie möglich, und gleichzeitig nahm sie ein kleines Silberglöckchen und läutete. Eine Dienerin huschte herbei und brachte ein Tablett mit zwei Gläsern. Eines davon reichte Riyala der Matriarchin, das andere nahm sie selbst.
„ Wir leben in schwierigen Zeiten, Mutter“, sagte sie. „Ich sehe, dass du nervös bist und eine Stärkung brauchst. Und auch ich selbst benötige einen kräftigenden Heiltrank, der mir hilft, eine Entscheidung zu treffen – Lass uns also gemeinsam auf bessere Zeiten trinken.“
Dankbar und vertrauensvoll nahm die Herrscherin von Co-Lha einen tiefen Zug von der klaren Flüssigkeit, die mit jener ganz bestimmten Edelsteinessenz gemischt war. In Riyalas Glas befand sich nur Wasser.
Es war das erste Mal, dass sie den „Fügsamkeitstrank“ anwendete.
Überlege gut, bevor du Gebrauch davon machst, hatte der Magister sie gewarnt.
Nun, das habe ich getan, dachte Riyala trotzig, als sei ihr Lehrmeister anwesend und zöge kritisch eine Augenbraue hoch. Das Gefühl, dass er in ihrer Nähe war und sie skeptisch beobachtete, beschlich sie ohnehin häufiger ... Andererseits versuchte er nie, sie auszuhorchen oder in sie zu dringen, wenn sie bei ihm war. Manchmal sprach er Warnungen aus, aber er hielt ihr keine Predigten. Er beriet sie, ließ ihr aber stets die freie Wahl der Entscheidung. Er ...
Die eben noch klaren Augen ihrer Mutter wirkten auf einmal seltsam verschleiert. Mit einer gänzlich veränderten, nachsichtigen Stimme murmelte sie: „Nun, mein liebes Kind ... all das hat ja noch viel Zeit. Es ist nicht so wichtig. Wir sprechen wieder darüber, wenn du es wünschst.“
Sie schien nicht einmal zu merken, dass ihre Worte dem widersprachen, was sie gerade eben noch erklärt hatte.
Riyala zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, aber innerlich war ihr ganz elend vor Schuldgefühlen. Aus Erfahrung wusste sie jedoch, dass ihr schlechtes Gewissen bald wieder verfliegen würde ... So war es jedenfalls bei all ihren Lügereien gewesen.
Nur kurz dachte sie über das anstrengende Versteckspiel nach, das sie beständig führen musste. Zwischen Arjenez, Co-Lha und der Felshöhle des Magisters hin- und herpendelnd ... und stets hatte sie auf ihre Worte und Taten sorgfältig aufzupassen, um ihre verschiedenen „anderen“ Leben vor jedermann geheimzuhalten. Bis zum heutigen Tag war sie davon überzeugt, dass der Kristallhexer trotz seiner Gedanken-Schau-Fähigkeit nichts von Nigel wusste – oder redete sie sich das doch nur ein? Bei allen verdammten Raben des Todes – man konnte sich bei ihm einfach nicht sicher sein.
Riyala war froh, dass sie das Reisen mittlerweile ganz allein und aus eigener Kraft beherrschte. Die ersten vier oder fünf Male hatte sie noch die Hilfe des Magisters in Anspruch nehmen müssen. Von jenem äußerst klaren Traum wusste sie ja, wie sie ihn rufen konnte, und er war jedesmal prompt in ihrem Schlafgemach erschienen, um seine Kräfte mit den ihren zu vereinigen. So war sie anfangs natürlich nur zu seiner Höhle gereist, hatte sich dann unter einem Vorwand verabschiedet und war nach Arjenez gelaufen. Um später dann wieder zu ihm zurückkehren zu müssen. Inzwischen war sie glücklicherweise ganz unabhängig geworden – und gerade jetzt brannte sie darauf, abermals ins Dorf zu reisen. Es war eine wunderbare Fähigkeit; mit Abstand das Beste, was der Magister ihr beigebracht hatte.
Die Matriarchin verließ den Silbernen Saal; sie hatte noch undeutlich gemurmelt, dass sie sich ein wenig hinlegen wolle. Die Edelsteinessenz glich in ihrer Wirkung ein wenig den Folgen nach dem Genuss von schwerem Rotwein.
Riyala atmete auf. Wenig später kehrte auch sie dem unterirdischen Zeremonienraum den Rücken – erleichtert - und begab sich in ihr Gemach. Nachdem sie sorgfältig die Tür hinter sich verriegelt hatte, vertauschte sie ihre Kleidung mit dem Gauklerinnengewand, holte ihre Edelsteine aus ihrem Geheimversteck und nahm das Falkenauge in die Hand.
Bei diesem geheimnisvoll golden schimmernden, halb transparenten „Reisestein“ hatte Riyala oft das starke Gefühl, er müsse außerdem noch eine andere Art der Energie besitzen ... sie gedachte das in ihm und seinem schwarzen Fleck verborgene Rätsel so bald wie möglich zu lösen. Natürlich hatte sie auch wegen seines Namens eine besondere Beziehung zu dem Edelstein; das „Auge des Falken“ erinnerte sie jedesmal an ihren geliebten Raubvogel.
Seit jenem denkwürdigen Tag, da sie ihn geheilt hatte, war das Seelenband zwischen ihr und ihm stärker denn je. Es war durch Blut erneuert worden, und sie wusste nun, dass er sogar ein Teil ihres Namens war ... Der Falke pflegte jetzt auch auf seinen Streifzügen häufiger als früher in Riyalas Nähe aufzutauchen ... womit er sie jedoch nicht selten in Verlegenheit brachte. Schon mehrmals war Nigel auf den Falken aufmerksam geworden.
Riyala fiel ein, dass auch Markho, der Falkner, erst kürzlich ihr gegenüber das veränderte Verhalten des Vogels erwähnt hatte. „Mir scheint, er jagt seltener, sondern verbringt die meiste Zeit damit, Euch zu beobachten“, hatte er in zwar respektvollem, aber doch recht befremdetem Ton gesagt.
Ich muss noch besser aufpassen, dachte Riyala, damit sich meine verschiedenen Leben nicht miteinander vermischen ...
Doch nun wartete zunächst einmal Nigel auf sie. Und auch sie konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.
Sie konzentrierte sich also auf das „Auge des Falken“ und spürte sogleich das Strömen der magischen Energie, die es ihr ermöglichte, sich an einen Ort ihrer Wahl zu versetzen. Die Kraft des goldenen Edelsteines begrenzte das Reisen jedoch auf einen Umkreis von etwa fünfzig Meilen; das hatte der Magister seiner Schülerin erklärt.
Riyala wählte wie so oft in letzter Zeit eine Buschgruppe, etwa fünf Wegminuten von Arjenez entfernt. Das Dorf selbst lag ja keine vier Meilen außerhalb von der Stadt Co-Lha.
Unter dem immer gleichen fahlblauen und wolkenlosen Himmel wanderte sie zur Tempelruine, bei der sie mit ihrem Freund verabredet war. Kein Lüftchen regte sich, und der Boden war so trocken, dass sich breite Risse in ihm aufgetan hatten, und zwar nicht nur hin und wieder ein paar, sondern überall. Wohin man auch sah, war das verdurstende Land rissig – aus der Luft musste es so wirken, als sei es mit zahllosen tiefen Wunden übersät. Wunden wie von Schwerthieben.
Riyala wusste nicht, weshalb ihr gerade dieser Vergleich in den Sinn kam. Aber auf einmal befiel sie eine düstere, unbestimmte Vorahnung; genau wie an jenem Tag, als ihr Falke sich vor ihr zu fürchten schien. Sie fröstelte trotz der drückenden Hitze.
Nigel saß ruhig auf einem umgestürzten Säulenstück, aber seine dunklen Augen leuchteten auf, als er das Mädchen kommen sah. Er zog Riyala ohne ein Wort in seine Arme, sprang dann mit ihr hoch und wirbelte sie im Kreis herum.
Das war sonst nicht seine Art – etwas außergewöhnlich Gutes musste passiert sein. Vielleicht waren seine Mutter und seine Schwestern endlich wieder kräftig genug, um aufzustehen? Immerhin hatte „Zalana“ dafür gesorgt, dass Nigels Familie noch besser ernährt wurde als die übrigen Dorfbewohner.
„ Aber Nigel!“, stieß Riyala atemlos hervor, als er sie endlich wieder absetzte. „Was ist denn nur los mit dir?“
Er lachte, und es war ein so wildes, ausgelassenes Lachen, dass sie einfach mit einstimmen musste. Normalerweise war er ein ernster, manchmal sogar bitterer junger Mann, der schon viel Leid gesehen hatte.
„ Ich muss dir etwas zeigen!“, rief er voller Begeisterung. „Endlich ist es mir gelungen, die Mittel für unsere Rettung und Befreiung zu erwerben ...“ Er hielt inne, und seine feurigen dunklen Augen blickten tief in die ihren. „Meine Liebste ... ich war dir gegenüber nicht offen genug, was meine Pläne betrifft. Ohnehin habe ich nur wenige Menschen eingeweiht, und du – verzeih mir – du bist nun einmal nicht von hier.“ Er errötete. „Doch ich vertraue dir, und ab sofort ist Schluss mit der Geheimniskrämerei! Du und ich, wir gehören zusammen ... seit jener Nacht am Fluss.“ Seine kräftigen Arme schlossen sich erneut um Riyalas schlanken Körper, und er küsste sie leidenschaftlich.
Dann zog er sie mit sich ins Innere des verfallenen Tempels. Und dort erkannte Riyala in wachsendem Entsetzen, was er mit den „Mitteln der Befreiung“ meinte: Nur notdürftig von dürren Zweigen bedeckt, lagen und stapelten sich überall die verschiedenartigsten Waffen: Wurfdolche, Äxte, Armbrüste, Hellebarden, Piken, Lanzen, ein paar Schwerter und sogar mehrere Schwefelkatapulte.
Stolz ließ Nigel seinen Blick über dieses Arsenal schweifen und erklärte feierlich: „Kampf der Ungerechtigkeit! Unser Sieg ist greifbar nahe!“
Obwohl Riyala auch das wirklich hätte voraussehen können, war sie zunächst starr vor Schreck. Versteckte Andeutungen hatte Nigel genügend gemacht, aber sie hatte nicht geglaubt, dass es ihm so ernst war. Bei der Göttin – er hatte tatsächlich vor, mit einem Haufen bewaffneter Bauern die Stadt zu stürmen!
„ Du bist völlig verrückt!“, fuhr sie ihn an, nachdem sie sich wieder gefasst hatte.
Er zuckte zusammen. „Nein, keineswegs. Der Befreiungskampf ist der einzige Ausweg, der uns bleibt. Du musst das einfach verstehen, Zalana ...“
„ Nein, das verstehe ich nicht! Du würdest dabei getötet werden, und ... und ich ... Ich kann doch noch mehr Vorräte und Wasser auftreiben, und, und ...“, sprudelte es wirr aus ihr hervor.
Nigel sah sie beinahe mitleidig an. „Liebste, wir sind dir sehr dankbar für deine Hilfe, aber du allein kannst es nicht schaffen, das gesamte Volk von Co-Lha vor dem Untergang zu bewahren. Wir müssen kämpfen!“
„ Die meisten Bauern können doch mit keiner einzigen dieser großartigen Waffen umgehen!“, rief Riyala wütend und voller Verachtung.
„ ICH kann es“, erwiderte er finster. „Und ich werde sie darin unterweisen, so gut es in der kurzen Zeit geht – der Rest kommt in der Hitze des Kampfes von allein! Der Wille zu überleben wird unsere Hände stark und geschickt machen!"
„ Ihr werdet niedergemetzelt wie ein Haufen Schafe!“
Nun starrte auch Nigel sie zornig an; seine Geduld und sein Verständnis schwanden zusehends.
Riyala bat, bettelte und flehte ihn an, sich das Ganze wenigstens noch einmal zu überlegen, doch er blieb fest. Selbst als sie in Tränen ausbrach, änderte das nichts an seiner Entschlossenheit.
„ Wir werden Co-Lha am Tage nach dem nächsten Vollmond angreifen.“
Mit diesen Worten wandte er sich brüsk ab, packte eine Armbrust und trat ins Freie.
... nach dem nächsten Vollmond – das war schon in drei Tagen! Riyala hörte auf zu weinen und folgte ihm.
Plötzlich hörte sie ihn erregt rufen: „Da ist ja dieser Unglücksvogel wieder, der dich andauernd verfolgt! Ich schieße ihn ab ...“
Schon hatte er den Bolzen eingelegt, spannte und legte auf den am Himmel kreisenden Falken an.
„ NEIN!“, schrie Riyala. Sie sprang vor und fiel ihrem Freund in den Arm.
Er ließ von seinem Vorhaben ab, aber nun war er ernsthaft böse, zumal sie sich weigerte, ihm ihr Verhalten zu erklären, und es folgte eine heftige Auseinandersetzung.
Sie trennten sich im Streit.
*
Noch nie zuvor während ihrer Ausbildung bei dem alten Magister war Riyala so unkonzentriert gewesen. Ihre Gedanken weilten meilenweit entfernt; all die giftigen und harten Worte, die zwischen ihr und Nigel gefallen waren, pflanzten sich wie Echos in ihrem Hirn fort. Verzweifelt suchte sie nach einer Lösung ... ganz kurz dachte sie sogar daran, auch dem Geliebten etwas von jener fügsam machenden Essenz einzuflößen. Aber das kam ihr dann so unsagbar schändlich vor, dass sie den Gedanken sofort wieder wegwischte.
Woher mochte Nigel nur das Gold gehabt haben, um all diese Waffen kaufen zu können? – Aber im Grunde war es nicht so verwunderlich. Seitdem sie sich nähergekommen waren, seit jener wunderbaren Nacht, hatte er ihr so manches von sich erzählt. Nigel war fern von Co-Lha erzogen und im Kriegshandwerk ausgebildet worden, und er besaß unglaubliche Fähigkeiten als Führer und Organisator. Er war in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher Mann ... liebevoll und zärtlich, doch auch hart und unbeugsam; unerschütterlich in seiner Sorge und seinem Verantwortungsgefühl für alle leidenden Menschen. Und das trotz seiner einfachen Herkunft ...
Solcherart schossen kreuz und quer wirre Gedankenfetzen durch Riyalas Geist, und sie hantierte dabei mechanisch, wie in Trance mit den Edelsteinen. Sie reinigte die einen in klarem, kostbarem Wasser, legte andere in Gruppen von kleinen Blut-, Rosen- oder Bergkristallen, und wieder andere lud sie mit Erdenergie auf, indem sie sie vergrub. Und immer wieder ließ sie etwas fallen oder vergaß, was sie gerade hatte tun wollen. Ihre Arbeit gedieh nicht dabei.
„ Riyala Falken.“ Die Stimme des alten Magisters war ruhig und freundlich.
„ Möchtest du mir sagen, was dich bedrückt?“
Riyalas Kopf schnellte hoch, und durch ihr zerzaustes Haar hindurch blitzten ihre Augen ihren Lehrmeister an.
Nein, alter Mann, beim Raben des Todes – genau das möchte ich nicht, dachte sie und schwieg. Nach einer langen Pause stieß sie wild hervor: „Was genau mache ich wirklich hier? Wozu ist es gut, dass ich meine magischen Fähigkeiten entwickle? Soll ich etwa wie Ihr einst durch die Lande ziehen und kranken Menschen helfen? Was ist meine Bestimmung?“
Der Magister, der soeben eine Reihe von wasserklaren, bizarr geformten Gebirgskristallen kreisförmig angeordnet hatte, ging zu seinem Weidenrohrsessel und ließ sich leise ächzend darin nieder. Vermutlich plagte ihn wieder seine Steifheit in den Beinen.
Riyala war zu unruhig, um sich setzen zu können – rastlos wanderte sie im Wohnbereich der Höhle auf und ab.
Wie es so seine Art war, antwortete der Alte nicht etwa auf Riyalas aufbegehrende Fragen, oh nein. Keineswegs.
„ Du hast jetzt viele Stunden bei mir zugebracht und warst mir eine gelehrige Schülerin“, begann er. „Ich staune oft, wie schnell du lernst, und du selbst hast mir bestätigt, es sei für dich so, als müsstest du dich nur an etwas Halbvergessenes erinnern. – Ja, du hast viel gelernt“, wiederholte der Magister sinnend. „Aber hast du irgend etwas wirklich begriffen ?“
Abermals funkelten seine grünen Augen auf diese durchbohrende, ja schneidend scharfe Art, was schwer erträglich war.
„ Ich habe keine Ahnung, was Ihr damit sagen wollt!“, rief Riyala wütend und voller Abwehr aus.
Der alte Mann lächelte.
„ Tatsächlich nicht?“
Als Antwort warf sie die schimmernden Mondsteine in ihren Händen zu Boden. „Ich wünschte, ich wäre Euch nie begegnet, verfluchter Kristallhexer!“ Nachdem sie ihm noch diese Verwünschung voller Grimm ins Gesicht geschleudert hatte, rannte Riyala einfach davon.
Der innere Aufruhr an Gefühlen, der in ihr tobte, ließ sie in der kommenden Nacht kein Auge zutun.