Читать книгу Fantasy Sammelband Riyala - Tochter der Edelsteinwelt Band 1 bis 5 - Antje Ippensen - Страница 9
3. Kapitel: Kristalle
ОглавлениеRiyala rannte gen Süden. Sie nahm nicht den Lehmpfad, sondern lief quer durch die ausgedörrten Wiesen und Felder, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Die körperliche Anstrengung war Balsam für ihre aufgewühlte Seele.
Ja, diese Nacht hatte tatsächlich ihr Leben verändert – und sie hatte buchstäblich nicht die geringste Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Bei den Gedanken an ihre Eltern verzagte sie vollkommen ... ohne jeden Zweifel würde sie eine strenge Strafe erhalten für ihr Abenteuer; einerlei, ob es ihr gelang, den brenzligsten Teil zu verschweigen oder nicht. Den klaren, wissenden Augen ihrer Mutter entging so leicht nichts, und im Grunde widerstrebte es ihr, sie anzulügen. Und ob sie gar vor Lanias ungleich kritischerem Blick irgendetwas würde geheimhalten können ... in der Vergangenheit war es ihr selten genug gelungen. Riyala dachte an all die Kinderstreiche und kleinen Ungezogenheiten ... diesmal jedoch war es ernst. Diesmal erwartete sie sicher ein wochenlanger Zimmerarrest, endlose Strafpredigten und wer wusste, was noch alles ...
Ihr rebellischer Sinn loderte plötzlich hell wie ein unruhig flackerndes Feuer – sie bäumte sich innerlich auf. Sie WOLLTE Nigel wiedersehen – unbedingt und um jeden Preis, koste es, was es wolle.
„ Der Wille öffnet jede Pforte“, zitierte sie verbissen ein co-lhanisches Sprichwort.
Sie erreichte jenen niedrigen, langgestreckten Hügel, von dem aus sie auch sogleich im Morgenlicht die Baumgruppe ausmachen konnte. Dort wartete der geheime Tunnel auf sie, und wenn sie sich sehr beeilte, würde es ihr gelingen, rechtzeitig zurück zu sein, um Suchaktionen nach ihr zu verhindern.
Sie war nur noch zehn oder fünfzehn Schritte von den Bäumen entfernt, als sie wie vom Schlag getroffen stehenblieb.
Dort zwischen den Stämmen stand ihr Vater, wie aus dem Nichts aufgetaucht, und blickte ihr gelassen entgegen, als habe er sie erwartet.
Riyala blinzelte ungläubig.
Nein, es war ihre MUTTER, nicht ihr Vater ... Ein fließendes weiches Gewand umspielte ihre schlanke, hochgewachsene Figur, und sie streckte bittend eine Hand aus ...
Das Mädchen war verwirrt, wie vor den Kopf geschlagen – was in aller Welt ging hier vor? Abermals verschwammen die Konturen der Gestalt im morgendlichen Dunst und wandelten sich: Die Person glich nun ihrer früheren Amme und jetzigen Dienerin Lania.
Da ist doch Magie im Spiel ... dachte Riyala, schwankend zwischen Schrecken und Misstrauen.
Es war zu spät für sie, sich zu verstecken oder davonzulaufen. Zögernd näherte sie sich der Gestalt, die sich erneut veränderte, und nun erkannte sie ganz deutlich, dass es sich um einen Fremden handelte.
Es war ein alter Mann, klein, aber kräftig – seine hellgrünen Augen glitzerten, während er das Mädchen musterte. Gekleidet war er in ein kaftanähnliches Gewand, das seine Farbe wechselte und sich an die Umgebung anpasste. Die staunende Riyala hatte so etwas noch nie gesehen. Sein Haar – falls er noch welches hatte – war bedeckt von einem dreieckigen Käppchen, das die gleichen Eigenschaften wie sein Gewand zu besitzen schien.
Der Alte sprach kein Wort, und sie fühlte sich in seinem unverwandt auf sie gerichteten Blick gefangen. Sie errötete. Gerade als sie den Mund öffnete, um „Wer seid Ihr?“ zu fragen, winkte er ihr mit einem knorrigen Finger und wandte sich dann um. Weiterhin schweigend ging er mit langsamen Schritten davon.
Riyala folgte ihm. Sie konnte gar nichts anderes tun, und obwohl es ihr schwer fiel, schluckte sie ihre sämtlichen Fragen und Vorbehalte hinunter. Der seltsame Unbekannte, der magische Fähigkeiten zu besitzen schien, hatte sie in seinen Bann gezogen. Ja, es war fast so, als habe er sie durch ein magisches Band an sich gefesselt.
Der alte Mann führte sie ein gutes Stück durch die einstmals grüne und fruchtbare, jetzt verdorrte Ebene von Varnaka. Seltsamerweise machte sich Riyala nun auch keine Gedanken mehr über die unaufhaltsam verrinnende Zeit und die Folgen, wenn ihre Eltern sich immer mehr Sorgen um sie machen würden.
Am fahlweißen Himmel stieg eine bleiche Sonne empor – es war ein falsches, trügerisches Licht, das sie verbreitete. Trotzdem wurde es rasch warm und drückend, wie an beinahe jedem Tag der letzten Monate. Einer Schlafwandlerin gleich, trottete Riyala hinter dem alten Mann her, ohne dass sie sich ihm mehr als fünf Schritt zu nähern vermochte. Irgendetwas hielt sie davon ab. Er blickte sich kein einziges Mal nach ihr um und war offenbar ganz sicher, dass sie ihm folgte.
Im Gehen zauberte der Alte einen Krückstock aus seinem Gewand, auf den er sich sodann stützte; Riyala sah, dass der Knauf des Stockes aus einem blaugrün leuchtenden, prachtvoll geschliffenen Stein bestand.
Schließlich erreichten sie die ersten Ausläufer des Felsenlabyrinths, das Riyala erst ein- oder zweimal in ihrem Leben gesehen hatte. Diese verwirrende, gewaltige Anhäufung von bizarr geformten Steinen und Felsen bildete eine Art Grenzstreifen zwischen der Flussebene Varnaka und der unermesslichen Wüste.
Geschickt und flink zwängte sich der fremdartige alte Mann durch die schmalen, scharf eingeschnittenen Canyons und Schluchten, bis er plötzlich stehenblieb. Genau vor einem Felsmonolithen, der wie eine einsame Insel aus dem Steinmeer herausragte.
Riyala erkannte, dass dieser Felsen in der Mitte gespalten war – und der dunkle Spalt bildete ohne jeden Zweifel den Eingang zu einer Höhle.
Langsam drehte sich der alte Mann um, und das Mädchen schaute wieder in seine Augen, die jetzt dunkel schimmerten und wie unauslotbar tiefe Seen wirkten. Auf einmal fand Riyala die Herrschaft über ihre Zunge wieder und stieß hervor: „Wer seid Ihr? Was hat das zu bedeuten? Was habt Ihr mit mir vor?“
Er lächelte. „Man nennt mich den Edelstein-Magister“, sagte er in selbstverständlichem Ton, als sei damit alles erklärt. Er machte eine einladende Geste in Richtung des Höhleneinganges, und wieder konnte Riyala sich nicht gegen das Gefühl wehren, ihm folgen zu müssen. Ihre Eltern, Lania und auch Nigel schienen sehr weit weg zu sein.
Edelstein-Magister? Wo habe ich diesen Namen – wenn es ein Name ist – schon einmal gehört? Sie forschte in ihrem Gedächtnis, doch umsonst.
Nach wenigen Schritten durch die Düsternis, die Riyala äußerst behutsam zurücklegte, um auf dem leicht abschüssigen Weg nicht zu stolpern, stand sie am Rand einer recht geräumigen Kuppelhöhle. Der alte Mann eilte geschäftig hin und her und entzündete mehrere Fackeln, so dass Riyala ihre Umgebung bald noch besser erkennen konnte. Das Dach der Kuppel hatte jedoch auch ein kleines, kreisrundes Loch, durch das ein wenig Tageslicht hereinsickerte. Riyala sah nun mehrere einfache Möbel aus Weidenholz, kreisförmig angeordnet, eine Herdstelle, verschiedene seltsame Werkzeuge, und sie bemerkte auch, dass ein Teil der Höhle durch schwere Vorhänge abgetrennt und somit ihren Blicken entzogen war.
Das Erstaunlichste an diesem Ort jedoch waren die vielen schimmernden Steine. Sie standen in Weidenholzregalen oder waren auf natürlichen Felsvorsprüngen gruppiert – wiederum jeweils in Kreisen.
Neugierig näherte sich Riyala einem dieser Regale und bewunderte das irisierende Farbenspiel der Kristalle. Es gab leuchtend blaue, flammendrote, durchscheinend grüne ... goldfarbige mit schwarzen Punkten, weiße mit gestreiften Prismenflächen.
„ Berühre sie nicht“, sagte der Edelstein-Magister freundlich, aber bestimmt. Er hatte sich in einem geflochtenen Sessel niedergelassen.
„ Sie sind allesamt wunderschön“, murmelte Riyala leise und trat von dem Regal zurück. Sie fühlte sich auf einmal gar nicht mehr befremdet oder wie unter einem magischen Bann – nein, sie spürte, dass sie hier am richtigen Ort war.
Mehr noch: Sie wusste es.
Vor dem forschenden Blick des alten Magisters jedoch schlug sie befangen die Augen nieder. Dann räusperte sie sich und sagte, wobei sie sich um einen forschen Ton bemühte: „Weshalb Ihr Euch Edelstein-Magister nennt, ist offensichtlich. Aber wie lautet Euer wirklicher Name?“
„ Ich habe dir geantwortet. Bleiben wir doch bei dir“, erwiderte er. „Du, die du noch nicht einmal deinen eigenen Namen kennst ...“
Riyala unterbrach ihn und lachte verblüfft auf. „Was? Natürlich weiß ich, wie ich heiße!“
„ Riyala Falken“, fuhr der seltsame Alte fort. „Doch das ist nur ein Teil deines Namens. Der andere Teil ist dir noch verborgen.“
„ Mein Name ist Riyala!“, entgegnete das Mädchen scharf. „Wieso ‚Falken‘? Ich heiße einfach nur Riyala und bin die Tochter der Matriarchin und des Heros von Co-Lha!“ Noch während sie sprach, durchzuckte sie jedoch der Gedanke an ihren Falken wie ein schmerzhafter Stich. Er ist verschwunden ... und es stimmt, dass er zu mir gehört wie ein Teil meiner Seele – oder meines Namens.
Der Edelstein-Magister zog eine dunkle Augenbraue hoch.
„ Soll das heißen, deine Eltern haben dich nicht darüber unterrichtet? – Offensichtlich ist das so. Nun, vielleicht hielten sie dich noch für zu jung ...“
„ Ihr sprecht in Rätseln!“, rief Riyala aus, zwischen Zorn und Neugier schwankend.
„ Das mag dir so scheinen. In Wahrheit bist du nur noch nicht bereit – erst dann wird sich dir alles enthüllen. Das Licht der Erkenntnis leuchtet allein für jene, die reif dafür sind.“
Riyala reckte trotzig ihr Kinn.
„ Weshalb bin ich hier?“, stellte sie die nächste Frage. In Gedanken fügte sie argwöhnisch hinzu: Was genau sind deine Absichten, alter Mann?
„ Du bist einer inneren Stimme gefolgt“, sagte der Magister und lächelte wieder.
Sie schüttelte heftig den Kopf, so dass ihre kupferroten und silberblonden Haare flogen und die verschiedenfarbigen Strähnen sich miteinander vermischten.
„ Nein, nein! Ich habe genau gespürt, dass Magie im Spiel war!“
„ Gewiss“, erklärte er gelassen. „Deine eigene.“
„ Was?“ Riyala glaubte sich verhört zu haben.
„ Du bist mit besonderen magischen Fähigkeiten begabt.“ Wiederum klang seine Stimme so, als spräche er über etwas ganz und gar Natürliches, das Wetter beispielsweise.
Riyalas schlanke Hände flogen voller Abwehr in die Höhe, und es sprudelte aus ihr hervor, dass das nicht stimmen könne.
„ Ich bin doch keine Hexe! Ich kann nichts dergleichen, und Magie hat mich auch noch nie interessiert!“
Der Magister hörte hin, ohne zu widersprechen. Nur seine Augen sahen unverwandt in die ihren, so dass es ihr wiederum unbehaglich wurde. Sie schaute weg. Und noch während sie in beinahe feindseligem Ton redete und redete, merkte sie, dass ihr Blick abermals zu den vielen funkelnden Steinen in den Holzregalen und auf den Felskanten wanderte ...
Plötzlich verstummte sie mitten im Wort. Der Schweiß war ihr ausgebrochen, sie spürte die feinen Tröpfchen auf ihrer Stirn und wischte sie wütend weg. Wenn dieser grässliche alte Mann sie doch nicht mehr so durchdringend anschauen würde!
Endlich tat er ihr den Gefallen, beugte sich zur Seite und griff nach einem kleinen, eckigen Gegenstand, in dem Riyala eine Schatulle erkannte. Er öffnete das Kästchen und stellte es wie eine Friedensgabe zwischen sich und das Mädchen auf den Boden.
Die Schatulle war innen mit Samt ausgekleidet, und auf diesem kostbaren Tuch ruhten drei edle Steine – jeder war so groß, dass er von einer schmalen Hand gerade noch umschlossen werden konnte.
„ Diese sind vorbereitet – du darfst sie gern anfassen, wenn du das willst“, sagte der Magister sanft.
Was hat es mit all diesen Kristallen auf sich? wollte Riyala fragen, doch sie unterdrückte die Frage. Denn sie ahnte es längst. Oder wusste es sogar.
Zögernd streckte sie ihre linke Hand aus und nahm einen eirunden, honiggelben und halb durchsichtigen Stein – den aus der Mitte. Sie betrachtete ihn genau und entdeckte fasziniert, dass in seinem Innern reglos ein vollkommen erhaltenes Insekt schwebte – seit wie vielen Tausenden von Jahren mochte es darin gefangen sein?
Der Edelstein fühlte sich warm und lebendig an. Nach einer Weile spürte Riyala sogar ein leichtes Pochen und Klopfen, das von ihm ausging und sich ihrer Hand und ihrem ganzen Körper mitteilte.
„ Diese Steine besitzen große Kraft, doch sie brauchen jemanden, der diese Kraft erweckt und zu nutzen versteht“, sagte der Magister, und es war, als spräche er Riyalas Gedanken laut aus. „Sie tragen die Energie der Sonne und der Erde in sich. Sie können heilen und helfen, doch dürfen sie niemals missbraucht werden. Du musst klaren Geistes und reinen Herzens sein, wenn dich die Magie der Edelsteine leiten soll.“
Der zweite Stein in der Schatulle war ein schwerer blauschwarzer Würfel, der metallisch glänzte, und der dritte besaß eine annähernde Herzform und schimmerte rosenfarben.
„ Ihr wisst alles über Zaubersteine, nicht wahr?“, sagte Riyala. Während sie die drei Steine aus der Nähe betrachtete, war ihr eine Erinnerung gekommen. „Und Ihr habt ihre Macht selbstverständlich nie missbraucht! Vielleicht nennt man Euch deshalb in der Stadt den Kristallhexer! “
Riyalas letzte Worte klangen beinahe höhnisch, auf jeden Fall aber herausfordernd – ihre türkisfarbenen Augen blitzten dabei.
Doch es war offenbar völlig unmöglich, diesen schrecklichen alten Mann zu provozieren. Seine jetzt wieder hellgrünen Augen wichen ihrem Blick keineswegs aus, und er ließ ihre Worte einfach an sich abprallen und ins Leere laufen, so dass sie als ein nichtiges Echo zu ihr zurückkehrten. Es war peinlich, und sie errötete abermals.
Dann stand der Magister auf.
„ Komm mit, Riyala Falken. Ich werde dir etwas zeigen.“
Sie gehorchte und ging hinter ihm her zu dem abgeteilten Höhlenbereich. Er schlug die dunkelblauen Vorhänge zurück und Riyalas Blick fiel auf eine etwas erhöhte große Steinscheibe, die sie sofort an einen Operationstisch denken ließ. Es hätte auch ein Opferaltar sein können; doch dies schien nicht zu dem alten Mann zu passen.
Aber im nächsten Moment stieß das Mädchen einen entsetzten, schmerzerfüllten Schrei aus.
In der Mitte des Steines, sorgfältig in ein Leintuch gebettet, lag ihr Falke. Er war ohne jeden Zweifel schwer verletzt – rötliche Flecken hatten sich auf dem Tuch ausgebreitet, und einer der Flügel hing unnatürlich schlaff herunter. Sein silbriges Federkleid war blutbesprenkelt.
Wie eine Furie fuhr Riyala zu dem hinter ihr stehenden Magister herum und rief außer sich: „Ihr lasst meinen Falken hier einfach liegen und redet dummes Zeug mit mir, anstatt ihm zu helfen?!“
Er legte seine alte Hand auf ihren Arm. „Beruhige dich. Es ist noch genug Leben in ihm. Er hat auf dich gewartet, weißt du.“
„ Auf ... auf mich?“, stammelte Riyala.
„ Ja.“ Wieder reichte er ihr das Edelsteinkästchen.
„ Blutstein“, er zeigte auf den wie Eisen glänzenden Würfel, „Herz der Rose“, das war der rosafarbene, „und Bernstein. Es sind heilende Steine von großer Macht. Du weißt, was du tun kannst. Rette deinen Falken, dessen Seele mit der deinen verbunden ist.“
Verstört und von schmerzendem Mitgefühl erfüllt, starrte Riyala auf ihren geliebten Vogel. Und schon kniete sie neben dem kleinen Körper auf der Steinscheibe, wobei sie die Schatulle krampfhaft umklammerte.
Ich kann das nicht! Nein, ich weiß gar nichts darüber! – Oder ... kann ich es vielleicht doch?
Ihre Gedanken rasten, überstürzten sich – und dann wurden die ermutigenden Stimmen in ihrem Inneren allmählich lauter und überzeugender. Mit zitternder Hand nahm sie zuerst den Blutstein, um das Blut zu stillen. Unendlich sanft und vorsichtig drückte sie den Stein auf das Federkleid des Falken, und sie erkannte sofort die Stellen, wo sich die tiefsten Risswunden befanden.
Riyala ließ sich von ihrer Intuition leiten ... und fühlte auf einmal eine neuartige, sonderbare Kraft, die durch sie hindurchströmte, bis in ihre Fingerspitzen hinein, die den Stein berührten. Und sie übertrug sich dann auch auf das Tier, das dem Tode nahe war. Würde sie es schaffen?
Der Falke hörte auf zu bluten.
Riyala atmete einmal tief durch, strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn; und als nächstes umschlossen ihre Finger den honigfarbenen Bernstein; denn sie hatte gesehen, dass ein oder zwei der Wunden bereits eiterten.
Als sie sich schließlich dem gebrochenen Flügel widmete, nahm sie das Herz der Rose zur Hand. Ein tief in ihr vergrabenes Wissen war lebendig geworden, kam ans Licht und verriet ihr, dass genau dieser Stein nach Knochenbrüchen half.
Sie bewegte das rosenfarbene Mineral in langsam kreisenden Bewegungen über dem Flügel ... seltsame Silben kamen in singendem Tonfall über ihre Lippen. Und dann geschah etwas noch Wunderbareres, als es die Heilung der entzündeten Wunden oder die Blutungsstoppung gewesen war – der gebrochene Flügel wuchs wieder in seiner richtigen Form zusammen! Welch ein machtvoller Zauber ...
Während der ganzen Zeit hatte ihr Falke still dagelegen, eins seiner dunkel glänzenden Raubvogelaugen vertrauensvoll auf seine Herrin gerichtet. Sein scharfer, gebogener Schnabel öffnete und schloss sich.
Nun begann er sich zu regen und sogar schwach mit beiden Flügeln zu schlagen. Ja, wahrhaftig – er flatterte schon wieder; aus alter Gewohnheit suchten seine gelben Krallen Halt an Riyalas Arm. Da sie ja keinen Lederschutz trug, fühlte sie sogleich einen scharfen Schmerz, als die Vogelklauen sich in ihre Haut gruben, doch sie lachte nur vor lauter Glück. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hob ihren Arm, um sich das Wunder aus der Nähe anzusehen, und der Raubvogel drückte ganz kurz und zärtlich seinen gefährlichen Schnabel gegen ihre Wange.
Dann drehte sie sich strahlend zu dem Magister um – auch er lächelte mit echter Wärme und großer Zufriedenheit.
Riyalas Falke war niemals ein „Handhocker“ gewesen; auch jetzt, kaum dass er geheilt war, zog es ihn wieder fort. Er schrie seinen hellen, scharfen Falkenruf und stieß sich stolz vom Arm seiner Herrin ab. Ein wenig Blut rann über ihr Handgelenk, doch abermals achtete sie gar nicht darauf. Ihr Falke flog – er war wieder vollkommen gesund! Sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihm nach, wie er durch die Kuppel der Höhle kreiste, immer höher stieg und schließlich durch die runde Öffnung hoch oben verschwand.
Riyalas türkisblaue Augen waren noch immer feucht.
„ War das wirklich ich?“, flüsterte sie ergriffen.
„ Du und deine höhere Kraft“, antwortete der Magister von der Herdstelle her, wo er mit Töpfen und Bechern zu hantieren begann.
„ Komm her, Riyala Falken, und erquicke dich. Du fühlst eine leichte Mattigkeit, stimmt das? – Du solltest dich jetzt stärken.“
Er hatte in der Tat recht. Erst jetzt merkte das Mädchen, wie hungrig sie war. Ihr betagter Gastgeber, der ihr nach wie vor ein wandelndes Rätsel war, servierte ihr heißen, kräftigen Tee und einfache Fladenkuchen. Beides schmeckte köstlich. Riyala verzehrte die Mahlzeit voller Genuss.
Nach einer Weile blickte der Magister zuerst auf ihren blutenden Arm, dann auf das Kästchen in ihrem Schoß und meinte mahnend: „Versorge auch dich selbst. Ein Heiler darf sich niemals vernachlässigen.“
Es lag ihr schon auf der Zunge, wegwerfend zu sagen: „Das sind doch nur ein paar Kratzer“, doch dann besann sie sich und griff gehorsam nach den magischen Steinen. Ihre eigenen Bewegungen und das halb glatte, halb raue Gefühl auf der Haut, als sich ihre Finger um die Kristalle schlossen – all das war ihr bereits vertraut. Dieses Erlebnis war wirklich eigenartig – ja, sie brauchte nichts Neues zu lernen, sie musste sich nur erinnern.
„ Habt Ihr meinen Falken draußen gefunden?“, fragte Riyala.
„ Nein. Er taumelte genau durch das Himmelsloch da oben und fiel wie ein Stein zu Boden“, lautete die Antwort des Magisters.
Sie schwiegen eine Weile. Nur das leise Knistern der Glut im Herdfeuer war zu hören. Von der Welt außerhalb des ausgehöhlten Monolithen drang kein Laut in diese stille Welt der Edelsteine.
Aber auf einmal seufzte Riyala tief auf. Die prekäre Situation, in der sie sich befand, drängte alles andere zurück, und sie war nahe daran, wieder in Selbstmitleid zu verfallen.
„ Erzähle mir, was dich bedrückt“, sagte der alte Mann mit ruhiger Stimme.
Riyala zögerte einen Moment, doch dann berichtete sie ihm stockend von ihrem verbotenen Ausflug, wobei sie jedoch ein paar entscheidende Stellen wegließ oder beschönigte – in ihrer Version der Geschichte hatte das Gauklermädchen Sandirilia vollkommen freiwillig mit ihr die Kleider getauscht und sie in das Geheimnis des Tunnels eingeweiht. Den gutaussehenden Bauernsohn Nigel erwähnte sie überhaupt nicht.
Der Magister hörte ihr zu, ohne etwas zu sagen.
„ Doch es ist seltsam“, schloss Riyala, „als ich Euch traf, schien all das nicht mehr so wichtig zu sein, auch der Zorn und die Sorge meiner Eltern nicht ... Es wird sich schon lösen, dachte ich. Und im Grunde denke ich das auch jetzt noch.“
„ Und genau deshalb konnte ich eingreifen und deinen Eltern eine Botschaft übermitteln lassen“, bemerkte der Kristallhexer.
Riyala schaute überrascht hoch. „Das habt Ihr tatsächlich getan?“
„ Ja, das habe ich. Mir stehen verschiedene Helfer und Methoden zur Verfügung, weißt du“, sagte er geheimnisvoll. „Und da du dein Problem losgelassen hattest, bot sich mir die Möglichkeit, dir zu helfen. Es war Freiraum genug da, verstehst du? Eine Art Gedanken-Raum. Wer sich verbohrt an etwas festhält, sich daran klammert, der lässt Hilfe gar nicht zu ...“
„ Ich glaube nicht, dass ich das verstehe!“ Riyala schüttelte den Kopf. „Das würde ja bedeuten, dass Ihr schon bevor wir uns trafen meine Gedanken lesen konntet und ...“ Sie brach ab, da er zustimmend nickte.
„ Genau so war es. Mir wurde die Gabe des Gedanken-Schauens verliehen. Und auch hierfür gibt es Kristalle, die unterstützend wirken können ...“
Kristallkugeln, durch die man einen Blick in andere Welten werfen kann ... Dass es so etwas gab, daran erinnerte sich Riyala plötzlich. Die Zauberpriesterinnen am Hofe von Co-Lha verwendeten jedoch gar keine Kugeln oder Steine, niemals – als ob ein Tabu darüber läge.
Jetzt erst wurde ihr bewusst, was die Worte des Magisters genau bedeuteten. Sie brauchte nicht mehr zu fürchten, dass co-lhanische Suchtrupps unterwegs waren, um sie zurückzubringen! Eine riesige Last fiel von ihr ab, und sie schaute den alten Mann in tiefer Dankbarkeit an.
„ Was genau enthielt diese Botschaft, die Ihr an meine Eltern gesandt habt?“
„ Deine Eltern kennen mich“, antwortete er. „Sie haben ein etwas zwiespältiges Verhältnis zu mir, doch meine Autorität haben sie niemals in Frage gestellt. Ich erklärte ihnen, dass ich dich zu mir rief und du nicht anders konntest, als diesem Ruf Folge zu leisten ...“
„ Eine Lüge?“
Er lachte, und es war ein warmes und herzliches Lachen.
„ Glaubst du das tatsächlich?“, fragte er erheitert.
Riyala musste schlucken. Erneut befiel sie eine Ahnung von Schicksalhaftigkeit und Vorbestimmung ... sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Was war mit ihrer eigenen, wie sie glaubte, freien Entscheidung gewesen, die Stadt Co-Lha heimlich zu verlassen? Innerlich lehnte sie sich dagegen auf, dass der Magister von Anfang an seine Hand im Spiel gehabt haben sollte. Und wenn er wirklich ihre Gedanken las, sie durchschaute, dann wusste er auch von Nigel und allem anderen, was sie verbergen wollte. – Oder existierten noch Bereiche in ihrem Geist, die diesem schrecklichen alten Mann nicht zugänglich waren?
„ Und wenn du es willst, Riyala Falken, dann mache ich die Folgen deines kleinen Ausfluges noch einfacher für dich. Ich kann dich auf einem besonderen Weg zurück in die Stadt bringen, und falls man dir dort zu viele neugierige Fragen stellt, dann verwendest du das hier.“ Mit diesen Worten reichte er ihr ein kleines Kristallfläschchen, das mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war.
„ Das ist eine Edelsteinessenz, die jeden Menschen, der sie trinkt, für eine Weile fügsam und nachgiebig macht. So wird jede allzu große Neugier eingeschläfert. – Doch hüte dich davor, die Essenz leichtfertig zu verwenden! Überlege gut, bevor du von ihr Gebrauch machst.“
Nur mit halber Aufmerksamkeit nahm Riyala das Fläschchen entgegen und verstaute es in der Innentasche ihres Gewandes. Ihre Gedanken verweilten noch bei dem besonderen Weg, auf dem sie zurückkehren sollte. Das hörte sich nach einem faszinierenden Zauber an, überwältigender als alles, was sie in dieser Höhle erlebt hatte ...
„ Aber ich könnte ebenso gut durch den Tunnel zurückkehren“, setzte sie trotzig dagegen.
Die Entgegnung des Magisters traf sie wie ein Schlag. „Nein, denn er ist mittlerweile eingestürzt und somit unpassierbar.“
Riyala starrte ihn fassungslos an. „Und dabei habt Ihr nicht etwa ein wenig nachgeholfen, nein?“, brauste sie höhnisch auf, als sie sich gefasst hatte.
„ Selbst wenn es so wäre, an der Tatsache ändert sich nichts.“ Seine vollkommen gelassene Antwort versetzte sie noch mehr in Rage.
„ So dass ich also gar keine andere Wahl habe, als mich noch tiefer in Eure Hexereien hineinziehen zu lassen!“
Seine unergründlichen Augen schauten wieder tief in die ihren.
„ Du hast immer die Wahl, Riyala Falken. – Du könntest auch zum Haupttor gehen – eine entsprechende Nachricht würde deine Eltern darauf vorbereiten, und sie könnten Vorsichtsmaßnahmen treffen und dich hineinlassen, ohne dass eine Gefahr für die Sicherheit der Stadt entstünde.“
Alles in ihr sträubte sich gegen die Vorstellung, derart öffentlich zurückzukehren – nein, das war es nicht, was sie wollte. Sie würde dann doch endlosen Fragen und Verhören ausgesetzt sein, erklären und sich rechtfertigen müssen ... sie kannte doch ihre Eltern und Lania. Gerade ihre Kinderfrau konnte unglaublich hartnäckig sein, und ...
Sie funkelte den Edelstein-Magister an und war eine Weile sprachlos, unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
„ Weshalb tut Ihr das alles? Was bezweckt Ihr damit? Welches ist der Preis, den ich dafür zahlen muss, dass Ihr meine Angelegenheiten in Ordnung bringt?“, brach es ungestüm aus ihr hervor.
Diesmal lächelte er nicht, sondern blickte sie mit ausdrucksloser Miene an.
„ Komm hin und wieder zu mir und finde es selbst heraus.“
Riyala schwieg. Gedankenverloren betrachtete sie die blassen ringförmigen Striche an ihrem Unterarm, die einzigen Spuren, die von den Krallenabdrücken ihres genesenen – ihres von ihr geheilten! – Falken zurückgeblieben waren.
Immer noch fühlte sie sich teils abgestoßen, teils angezogen von dem alten Mann und seinen Worten. Aber es wäre tatsächlich das Einfachste, auf seinen Vorschlag einzugehen ...
Der Edelstein-Magister lehnte sich in seinem Weidenrohrsessel zurück.
„ Ich war ein paar Jahre jünger als du, als mir bewusst wurde, welche Fähigkeiten in mir schlummerten. Meine Eltern – einfache Leute, die sich mit Ackerbau und kleinen Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten – wären niemals im Leben auf diese Idee gekommen. Ich schien ein ganz normaler Junge zu sein; ich ging gern jagen und fischen und hatte sonst keine ausgeprägten Interessen. Eines Tages trieb ich mich wieder einmal im Wald herum und hoffte auf ein wenig Jagdglück, das mir endlich auch hold war. – Du musst wissen, dass ich nicht aus dieser Gegend stamme; in meinem Heimatland gab es ausgedehnte Wälder. Mit Pfeil und Bogen stellte ich einem jungen Makanbock nach und erwischte ihn auch, schoss ihn aber nur waidwund. Ich war zornig auf mich selbst, denn im Grunde war ich kein schlechter Jäger, und es gefiel mir nicht, ein Beutetier leiden zu lassen. Ich folgte also der blutigen Fährte ... bis plötzlich wie aus dem Erdboden gewachsen eine alte Frau vor mir stand. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen – aber sie kannte mich, redete mich mit meinem Namen an und zeigte mir drei schimmernde Steine. Und dabei lächelte sie auf sehr merkwürdige Weise.“
Gespannt beugte sich Riyala vor. „Was geschah dann, und wie habt Ihr Euch gefühlt?“
„ Ich war verwirrt und ärgerlich; ich wollte die Alte zur Seite schieben, davonlaufen, mich wehren – doch irgendetwas hielt mich davon ab. Diese drei Kristalle ...“
„ Ich könnte schwören, dass es diese drei hier waren“, unterbrach Riyala den Magister, und sie strich mit den Händen über das nun wieder geschlossene Kästchen.
„ Du sagst es“, sagte er und grinste dabei wie der Junge, der er damals gewesen war. „Bernstein, Herz der Rose, Blutstein. – Die Greisin schaute mich an, drückte mir alle drei in die Hand und meinte nur, ich wisse ja, was ich nun tun solle. Ich wusste überhaupt nicht, wovon sie sprach. – Nur wenige Meter weiter fand ich den zusammengebrochenen, sterbenden Makan, und auf einmal begann in mir eine Ahnung zu wachsen ...“
„ Ihr habt das Tier geheilt!“, fiel ihm Riyala wiederum ins Wort.
„ So war es.“ Sein Grinsen verwandelte sich in ein heiteres Lächeln. „Seit jenem Tag habe ich nie wieder gejagt und auch kein Fleisch mehr gegessen. Von Stund an änderte sich mein Leben. Alles veränderte sich, und das war nicht immer leicht. Ich ging bei der alten – nennen wir sie Kristallhexe – in die Lehre. Es war anfangs hart, mein gewohntes Leben aufzugeben, mich von meiner Familie zu trennen und mehr und mehr in diese neue Welt hineinzuwachsen. Als meine Lehrzeit abgeschlossen war, verließ ich mein Land und wanderte lange Jahre rastlos umher. Ein Kristallheiler wurde überall gebraucht ... und dann fühlte ich eines Tages, dass ich hier in Co-Lha sesshaft werden sollte, und ich bezog diese gemütliche Höhle. Die Kristallmagie wird immer zum jeweils anderen Geschlecht weitergegeben. Ich wusste, dass ich hier meine Nachfolgerin finden würde ...“
Die Augen des Magisters schimmerten jetzt wie Smaragde, und seine einfachen, aufrichtigen Worte hatten Riyala stark berührt. Sie fühlte sich ihm nun verbunden, er wirkte nicht mehr so unnahbar und rätselhaft, sondern wie ein Mensch mit normalen Gefühlen und Empfindungen.
Ein längeres Schweigen trat ein, das jedoch nicht unangenehm lastete, sondern sich ganz natürlich entfaltete.
„ Ich will versuchen zu lernen, damit ich würdig bin, diese Aufgabe zu erfüllen“, sagte Riyala endlich leise.
In ihrem Inneren aber flüsterten zur gleichen Zeit zwei Stimmen: Nun weißt du ja, was er von dir will ... sagte die eine. Er hat es klar und einfach gesagt. – Aber die andere Stimme entgegnete: Doch hinter seinen Worten: Komm zu mir und finde es selbst heraus, steckt sicher noch etwas anderes. Du willst ihm doch nicht wirklich vertrauen?
Als sie an der Seite des Magisters ins helle Sonnenlicht hinaustrat und geblendet die Augen zukniff, kam ihr alles, was in der Höhle geschehen war, bereits wie ein Traum vor.
Beinahe jedenfalls.
Der greifbare Beweis dafür, dass all dies Wirklichkeit war und kein Traum, lag in ihrer Hand: das Kästchen mit den „Steinen der Nachfolgerin“. Und jetzt reichte ihr der alte Mann auch noch einen vierten. Er war goldfarbig mit einem dunklen Fleck in der Mitte.
„ Dieser Stein – das Auge des Falken – ermöglicht das Reisen “, sagte der Magister, wobei er die beiden letzten Worte betonte. „Es erfordert allerdings ein wenig Übung. Ich werde dir also ein wenig Kraft von mir leihen, damit du genau an den Ort gelangst, an den dein Wunsch dich führt. – Sag, gibt es sonst noch etwas, was ich für dich in Ordnung bringen soll?“
Riyala dachte nach, doch ihr fiel nichts ein. Sie verneinte seine Frage.
Ohne ein weiteres Wort schloss der Magister seine Finger um ihre Linke, die das Falkenauge hielt. Dieses Mal war das Gefühl freigesetzter und überströmender Energie für sie fremdartiger, aber doch auf seltsame Weise vertraut ... ihr wurde ein wenig schwindelig, und sie schloss die Augen.
Aber sie bewegte sich ja gar nicht! Sonderbar ... sie hatte geglaubt, es müsse sich so anfühlen, als sei sie ein Falke, der durch die Lüfte flog. Etwas enttäuscht öffnete sie die Augen einen Spalt weit, und sie sah, dass in ihrer unmittelbaren Umgebung eine seltsame Veränderung vor sich ging. Sämtliche Farben – das Ockerbraun und Schiefergrau der Felsen, das Graugrün der Grasbüschel, das Gelb des Staubes – wurden von einer unsichtbaren Kraft aus den Dingen herausgesogen. Mit dem neben ihr stehenden Magister, der ihre Hand losgelassen hatte, geschah das gleiche. Und dann verblasste alles immer mehr; die Konturen begannen sich allmählich aufzulösen. Alles, was weiter als zehn Schritt entfernt war, verschwamm bereits, verwandelte sich in nebelhaftes, flimmerndes Grau.
Es wurde ganz still, als sei dieser Teil der Welt in nasses Heu verpackt.
Nur an sich selbst bemerkte das Mädchen keine Veränderung. Ihr Gauklerinnenkleid leuchtete so bunt wie eh und je, und auch die rotbraune Schmuckschatulle blieb plastisch, fest und farbig.
Sehr beruhigend, dachte Riyala, während um sie herum nur noch graue Streifen und Schlieren erkennbar waren. Nur kurze Zeit schien sie durch ein farbloses Nichts zu treiben, ohne einen Schritt zu tun – sie wagte auch kaum, sich zu bewegen, sondern umklammerte nur wie haltsuchend das Kästchen – dann war es vorüber, und der Verwandlungsprozess lief umgekehrt ab.
Riyala riss Mund und Augen weit auf vor Verblüffung. Ihr Wunsch, an den sie die ganze Zeit über so intensiv wie möglich gedacht hatte, hatte sie dorthin führen sollen, wo ihr Abenteuer begonnen hatte – und genau das hatte geklappt!
Langsam schälten sich die Umrisse der Stadtmauern und jenes Lagerhauses aus dem magischen Nebel heraus, die Farben und Geräusche kehrten zurück. Andere Co-Lhaner waren nirgends zu sehen, doch Riyala hatte ohnehin das sichere Gefühl, dass dieser Zauber von niemandem beobachtet werden konnte – der Edelstein-Magister war kein Mann, dem hierbei Missgeschicke unterlaufen würden.
Sie war wieder zu Hause ... und erst in diesem Moment fiel ihr urplötzlich, in eisigem Schrecken, das Gauklermädchen Sandirilia ein. Riyala konnte es selbst kaum fassen, dass sie nicht mehr an diese Begegnung und ihre Folgen gedacht hatte, obwohl damit doch tatsächlich alles angefangen hatte!
„ Oh, nein! Das ist doch nicht möglich“, murmelte sie entsetzt vor sich hin, und dann stolperte sie so schnell wie möglich zu dem Kellerraum hin. Ihre Gedanken rasten dabei wie in die Enge getriebene Tiere. Der Magister hatte doch noch ausdrücklich gefragt, ob da noch etwas wäre, was ... Nun war es zu spät.
Die beiden Balken, mit denen sie ihre Gefangene an der Flucht hatte hindern wollen, lagen am Boden, die Tür stand weit offen.
Riyala biss sich auf die Lippen. Sie hätte sich ohrfeigen können für ihre Dummheit und Vergesslichkeit ... und tief in ihrem Inneren spürte sie auch Scham – und ein Schuldgefühl.
Es war jetzt früher Nachmittag, und sie hatte Sandirilia doch versprochen, am Morgen wiederzukommen ... die junge Gauklerin hatte nichts zu essen gehabt in dem Kellerloch und keinen einzigen Tropfen Wasser ...
Auf dem stinkenden Boden des düsteren unterirdischen Raumes lag Riyalas zeremonielle Kleidung. Also war Sandirilia tatsächlich im Untergewand geflohen – oder hatte, was wahrscheinlicher war, einen Helfer und Befreier gehabt.
Nachdenklich kleidete Riyala sich wieder um. In ihren eigenen Sachen fühlte sie sich seltsam unbehaglich – als ob sie ihr nicht mehr recht passen würden. Sie wickelte das dreckige Gauklerinnengewand zu einem Bündel zusammen, in das sie ihr Edelsteinkästchen, den kleinen Glasflakon und auch das „Auge des Falken“ sorgfältig hineinknotete. Während ihre Hände mechanisch diese Bewegungen ausführten und sie daran dachte, das schmutzige Kleid Lania zum Waschen zu geben, reifte in ihr der Entschluss, die Sache mit Sandirilia zu verdrängen.
Es gibt sicher nichts, was der Magister nicht auch noch im Nachhinein in Ordnung bringen konnte ... wenn es denn notwendig werden sollte, ging es ihr noch durch den Sinn. Sie zuckte die Achseln und verließ dann den finsteren Keller, um zur Mondburg zurückzukehren.
Sie fühlte sich mehr als gut – alles war so unglaublich und doch war all das wirklich passiert! Nigel, der Edelstein-Magister, die magischen Kristalle ...
Diese Riyala, die jetzt selbstbewusst das Haupttor ansteuerte, hatte nichts mehr mit dem trotzigen Mädchen gemeinsam, das so gelangweilt und so erlebnishungrig gewesen war. Sie glaubte fest daran, dass es so war, dass sie sich verändert hatte – und plötzlich begrüßte sie aus dem blauen Himmel das helle durchdringende Krächzen ihres Falken.
Abermals klopfte Riyalas Herz schneller vor Stolz und Freude. Sie hatte ihn geheilt! Er kreiste eine Weile über ihr und entschwand dann hinter den Dächern der Burg.
Ein besseres Omen für ihre Heimkehr konnte es gar nicht geben.
Die erste Begegnung mit ihren Eltern und auch die mit Lania verlief tatsächlich vollkommen problemlos. Niemand fragte sie aus, keiner wollte etwas über ihre Pläne wissen. Erst einmal schien sie also frei zu sein ... Der Kristallhexer war wirklich ein mächtiger Verbündeter.
In der folgenden Nacht träumte Riyala sehr lebhaft; in einem ihrer Träume, an den sie sich später glasklar erinnerte, erschien der Edelstein-Magister, das Kinn auf den Türkisknauf seines Krückstockes gestützt.
„ Ruf mich, wenn du mich brauchst“, sagte er. Der blaugrüne Stein auf seinem Stock verwandelte sich in einen Blutstein, den der alte Mann bedächtig abnahm. Ebenso bedächtig ritzte er mit einem kleinen Dolch seinen Unterarm, so dass ein paar Tropfen Blut hervorquollen. Er drückte den blauschwarzen Stein leicht auf den Kratzer, und seine Augen blickten vielsagend.
Riyala verstand diese Nachricht sofort. Sie lächelte im Schlaf.