Читать книгу Fantasy Sammelband Riyala - Tochter der Edelsteinwelt Band 1 bis 5 - Antje Ippensen - Страница 14

2. Kapitel: Tod

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In den ersten Stunden ihrer Gefangenschaft weinte sie viel und verlor dadurch kostbare Mineralien und Körperflüssigkeit. Schließlich fühlte sie sich wie ausgehöhlt und so kraftlos, dass ihr Kopf auf die Brust sank.

Ihre Lage war mehr als unbequem; sie konnte sich kaum bewegen ... Hunger und vor allem Durst peinigten sie, und Schlaf wollte sich nicht einstellen. Jeder Muskel und jeder Knochen im Leibe tat ihr weh. Ihre wirren Gedanken drehten sich nur im Kreis. Lange Zeit.

Ein einziges Mal kam ein Wächter und löste für zwei Minuten ihre Ketten, damit sie in einer Ecke der Zelle ihre Notdurft verrichten konnte. Er sprach kein Wort mit ihr. Riyala biss sich auf die Zunge, um stark zu wirken, und widerstand ihrem Verlangen, den Mann um einen Schluck Wasser anzuflehen.

Der Schwarze Turm hatte ein kleines, vergittertes Fenster unter dem Dach, und nach einer Ewigkeit – so schien es ihr jedenfalls – glaubte sie von draußen her Schlachtenlärm zu hören. Ja, kein Zweifel. Kampf- und Schmerzensschreie, Waffenlärm und das Trampeln schwerer Schuhe, übertönt von Befehlen.

War sie bereits so lange hier drin, oder hatte Nigel seinen Angriff früher angesetzt als geplant? In jedem Fall war das Heer der Stadt darauf vorbereitet – für das aufständische Landvolk gab es keinerlei Überraschungsvorteil mehr.

Riyalas Herz schlug wie ein Schmiedehammer. Sie musste hier raus, sie MUSSTE Nigel sehen, ihn um Verzeihung bitten, ihm sagen, dass sie ihn liebte ...! Alle ihre Rachegedanken ihm gegenüber waren ertrunken im Strom ihrer bitteren Tränen. Nichts war ihr noch wichtig außer einem Wiedersehen mit dem Geliebten, mochte es auch das letzte sein ...

Urplötzlich kamen Klarheit und Ruhe über sie. Ihre vier Edelsteine ... Oh ja, sie konnte das Falken-Auge nicht zum Reisen benutzen. Dafür hatte ihr alter Lehrmeister gesorgt.

Doch weshalb hatte er nicht auch zugestimmt, ihr sämtliche Steine einfach abzunehmen? Er hatte zwar ebenfalls veranlasst, dass man sie auf diese Weise ankettete, so dass sie keinen der vier Steine berühren konnte, aber ...

Auf einmal dachte sie ohne Hass an den seltsamen alten Mann, der sie verraten hatte. Sie erinnerte sich, wie er einmal zu ihr sagte: „Vieles kann verhindert, eingekerkert, in Bande gelegt werden – nicht aber die höhere Kraft in uns. Sie wird immer frei sein.“

Ich folge dieser Wahrheit, dachte sie und wurde noch ruhiger ... ihr Geist wanderte zu jenem stillen, mystischen „Ort der Energie“, der für jeden Menschen anders aussah. Für sie war es ein kleiner saphirblauer See, der von funkelnden Edelsteinen umgeben war – wie die Fassung eines Perlenringes. Aus dem klaren Wasser dieses imaginären Teiches konnte sie so viel kostbares Nass schöpfen, wie sie wollte.

Dann stellte sie sich so intensiv wie möglich – mit geschlossenen Augen – das Edelsteinkästchen in ihrer Jackentasche vor. In Gedanken öffnete sie es und berührte das Falken-Auge, hob es empor ...

Sie spürte, wie sich eine ganz neue, andersartige Kraft in ihr entfaltete – ja, sie konnte zaubern, trotz der Fesseln! Und wie zur Ermutigung hörte sie plötzlich den rauen, sehnsuchtsvollen Ruf ihres Falken. Er klang so nah, als ob er über dem Schwarzen Turm kreiste und genau wüsste, dass seine Herrin hier gefangen saß.

Lächelnd öffnete Riyala ihre Augen – und sah den goldenen Stein mit dem schwarzen Fleck direkt vor sich in der Luft schweben.

Habe wirklich ich das vollbracht?, dachte sie staunend.

Der Kristall zitterte leicht, wie eine Flaumfeder im Wind.

Ja, das ist meine Kraft!

Sie versuchte ihn allein durch ihre Gedanken näher heranzuziehen ... und auch das gelang. Er bewegte sich.

In diesem magischen Moment kam ihr die Erleuchtung, einem Geistesblitz gleich: Sie wusste jetzt, welchen verborgenen Zauber der Stein neben der Reisemagie noch in sich trug.

Ein weiterer Gedanke genügte, und sie umschloss das Falken-Auge mit ihrer linken Hand. Sofort spürte sie die Ketten nicht mehr ... prickelnde Energieströme erfüllten ihr ganzes Sein, und ihr Geist war frei.

Ihr Körper hing nach wie vor in Fesseln an der schwarzen Zellenwand, aber Riyala schoss durch die Turmwand hindurch, fand ihren Falken, schlüpfte in ihn hinein und flog jetzt mit ihm durch die Luft, wie sie es sich so oft erträumt hatte; sie war in ihm, sah durch seine Augen und fühlte sich ihm und seiner fremdartigen Falkenseele ganz nah.

Das Schlachtfeld vor den Toren der Stadt! Der Kampf war bereits in vollem Gange. Wenn es überhaupt Verhandlungen zwischen dem Heros und dem Bauernführer gegeben hatte, so waren sie rasch gescheitert.

Bei der Großen Göttin – wie hatte Nigel es nur geschafft, so viele Bauern um sich zu scharen?! Es mussten Zehntausende sein, eine einzige Flut von brüllenden Menschen, die zu allem entschlossen war. Ausgemergelte Leiber, aber zäh und vom Rausch des Angriffs beflügelt. Viele Männer waren nur mit Holzlatten oder Steinen bewaffnet, aber alle folgten dem jungen Bauernsohn, der zugleich ein Krieger war.

Mit den scharfen Raubvogelaugen machte Riyala seine schlanke Gestalt und seinen wild flatternden Haarschopf rasch aus und kreiste über ihm. Es bereitete ihrem Geist gar keine Mühe, ihren Falken zu lenken.

An Nigels Seite aber sah sie Sandirilia, wie eine Kriegerin gekleidet und mit Schwert und Schild bewaffnet. Sie schien die einzige Frau weit und breit zu sein; mit den geschärften Sinnen ihres Falken nahm Riyala wahr, dass ihr ein ähnlicher Respekt gezollt wurde wie Nigel ... Und nun wurde ihr bewusst, dass auch viele aus dem Fahrenden Volk Seite an Seite mit dem Landvolk kämpften.

Auch sämtliche Geräusche, Rufe, Worte erreichten kristallklar Riyalas Geist.

„ Die Katapulte zum Tor!“, schrie der junge Rebellenführer. Sein Gesicht mit der kühnen Hakennase war angespannt, ja verbissen; in seinen Augen brannte das wilde Feuer der Revolution. Dies war Nigels große Stunde.

Riyalas Falke schraubte sich wieder höher – sie wollte nicht, dass man auf den vermeintlichen Unglücksvogel aufmerksam wurde.

Überall war Chaos, Aufruhr, loderten Brände, quollen Rauchschwaden in den Himmel empor ... Bestürzt erkannte Riyala, dass auch innerhalb der Stadtmauern Kämpfe ausgebrochen waren – und es war kaum zu glauben, aber unter den Stadtbewohnern gab es immer noch Riyala-Anhänger, die ihrerseits die co-lhanischen Wachen angriffen und somit indirekt zu Verbündeten der Bauernrebellen wurden.

„ Freiheit für Riyala!“, schrien diese Menschen. „Die Tochter der Hoffnung darf nicht sterben!“ Sie glaubten offenbar, dass Riyala das Opfer einer Hof-Intrige geworden war. Einige von hnen stürzten sich auf das bereits halbfertig gezimmerte Schafott im Hof des Schwarzen Turms und zertrümmerten es.

Und dann liefen auch noch Teile der Truppen zu Nigels Aufständischen über! Sie lieferten sich wilde Gefechte mit den loyalen Soldaten des Regentenpaares und ließen sich dann an Seilen die Mauer hinab. Das waren zweifellos Männer, die außerhalb der Stadt Verwandte hatten. – Riyala frohlockte innerlich. Aus ihrer Vogelperspektive sah es bereits so aus, als würde die Verteidigungslinie ihres Vaters zusammenbrechen. Sie entdeckte den Heros auf einer Mauerzinne, gedeckt von Leibwächtern, scharfe Befehle erteilend. Die brenzlige Lage am Stadttor, wo ununterbrochen brennende Schwefelbrocken durch die Luft zischten, brachte ihn dazu, einen Ausfall mit seinen Elitekriegern zu riskieren – wohl in der Hoffnung, sich dadurch eine Atempause zu verschaffen.

Doch damit hatte Nigel gerechnet. Er zog seine Leute zusammen, und obwohl von den Tortürmen her unaufhörlich heißes Pech und kochender Schwefel geschüttet wurde, Pfeile und Speere hageldicht flogen, gelang es ihm, die Hundertschaft Elitesoldaten unmittelbar nach dem Ausfall abzufangen und zum Kampf zu stellen.

Riyala beeilte sich, wieder in Nigels Nähe zu kommen. Sie sah, wie er mit seiner Kampfgefährtin Sandirilia ein kurzes Lächeln tauschte – ein kameradschaftliches Lächeln, wie ihr schien, mehr nicht. Nach all den Fehlern, die sie gemacht hatte, wollte Riyala nun nicht auch noch Eifersucht auf sich laden – zudem bewunderte sie Sandirilias Mut. Woher nahm die unterernährte junge Gauklerin nur die Kraft, ein Schwert zu führen? Und sie machte ihre Sache sogar gut.

Binnen kurzem waren sie, Nigel und Dutzende von Bauern in heftige Nahkämpfe verwickelt. Jetzt würde die Schlacht möglicherweise eine entscheidende Wendung nehmen – denn das Tor stand offen, und immer mehr Aufständische strömten herbei.

Auch der Heros erkannte die Gefahr und zog noch mehr Verteidiger zusammen. Er selbst eilte auf der Mauer entlang in Richtung Haupttor; seine blutrote Helmfeder wehte, die Rüstung blitzte im grellen Sonnenlicht. Seine Hand wies in Nigels Richtung.

„ Tötet ihn!“

Riyalas Hass auf den Vater nahm ungeahnte Ausmaße an.

„ Nigel! Vorsicht!“, wollte sie unwillkürlich warnend schreien – doch statt dessen öffnete sich der Schnabel ihres Falken, und ein rauer, durchdringender Schrei brach hervor.

Nigel, der sich soeben durch mehrere wuchtige Attacken freigekämpft hatte, zuckte zusammen. Er war abgelenkt, legte den Kopf in den Nacken ... und griff nach Pfeil und Bogen. Sein zu dem Falken emporgewandtes Gesicht verfinsterte sich. Erinnerte er sich an das letzte Zusammensein mit der Geliebten, die ihn verraten hatte? Schoss ihm jetzt wieder sein eigenes Wort vom „Unglücksvogel“ durch den Kopf?

Entsetzt erkannte Riyala, wie sich ihre gute Absicht ins Gegenteil verkehrte.

Und dann überstürzten sich die Geschehnisse so rasend schnell, dass sie unaufhaltsam in tödliches Verderben führten.

Ein gut gezielter schwarzer Pfeil zischte in jenem Moment auf Nigel zu, in dem dieser sein Geschoss abschwirren ließ.

Auch Sandirilias Warnruf kam zu spät!

Die Welt explodierte in einem grässlichen, verdoppelten Todesschmerz – Riyala im Körper des Falken fühlte, wie Nigels Pfeil das silbergraue Federkleid durchdrang und das mutige Vogelherz durchbohrte – genau in dieser Sekunde brach auch Nigel zusammen, in die Brust getroffen.

Mein Falke fällt (ich falle) wie ein Stein ... das ist Sterben ... Riyala erlitt zwiefache Qual, obgleich ihr eigener Körper in Sicherheit war. Und dann lag der Vogel mit ausgebreiteten Schwingen auf der Brust des jungen Mannes, und ihrer beider Blut vermischte sich.

Ein dunkler Strom des Lebenssaftes brach aus Nigels Mund, und doch flüsterte er noch fast unhörbar einen Namen, während seine Hände im Todeskampf den Pfeilschaft umfassten und zugleich die Falkenfedern berührten.

Zwei Namen, die jedoch nur einer Frau galten.

„ Zalana ... Riyala ...“

Niemand sonst hörte es ...

Erst jetzt sprang Sandirilia mit einem wilden Schmerzensschrei an die Seite des Gefallenen, und ein Chor von Klagelauten erhob sich ringsum.

Wie es Riyalas Seele gelang, zurückzukehren in ihren eigenen Körper, der halb erkaltet in der Schwarzen Turmzelle hing, wusste die junge Frau niemals zu sagen.

Und wozu kehrte sie überhaupt zurück? Nigel war tot, und auch sie sah keinen Grund mehr zu leben.

Aus ihrer erstarrten linken Hand rieselte mattgoldener Quarzsand zu Boden. Das Auge des Falken war zerstört.

Riyalas Schmerz war zu tief, als dass sie hätte weinen können. Tränenlos stand sie an der Wand, und wären die Ketten nicht gewesen, so hätte sie sich keinen Augenblick länger auf den Beinen halten können.

Wenn es mein Schicksal ist, hier elendiglich zu verschmachten, anstatt schnell zu sterben durch das Schwert des Scharfrichters, so sei es. Ich habe keinen schnellen Tod verdient ...

Schwarze Wirbel flackerten durch ihr Gehirn, hüllten ihr Bewusstsein vollständig ein; Riyala – Tochter der Matriarchin und des Heros von Co-Lha, Edelstein-Magierin, Geliebte des gefallenen Bauernführers Nigel Dha-Na und Hochverräterin – fiel in Ohnmacht.

*

Als sie wieder zu sich kam, dämmerte der Abend, und in den wachsenden Schatten verschwammen die Konturen der Zelle.

Riyala war nicht überrascht, den Edelstein-Magister vor sich stehen zu sehen.

Mit stumpfen, trockenen Augen blickte sie ihn an. Ihre Kehle schmerzte vor Durst.

Ich wusste, dass Ihr kommen würdet, dachte sie teilnahmslos.

Er nickte, und dann zog er eine Lederflasche aus den Falten seines Kaftans und setzte sie ihr an die Lippen. Zuerst wollte sie dieses Geschenk des Lebens zurückweisen, aber dann regte sich leise eine Spur von Überlebenswillen in ihr, und sie schlürfte etwas von dem köstlichen Nass.

Obgleich der Magister seine vertraute Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte wie beinahe immer, meinte sie doch zu erkennen, dass seine Augen jetzt von noch größerem Verständnis erfüllt waren ...

Sie wartete darauf, dass er ein Wort sprach, aber er stand nur schweigend da.

„ Seid Ihr gekommen, um mich zur Hinrichtung zu führen?“, fragte sie endlich bitter, mit heiserer Stimme. Insgeheim hoffte sie geradezu, dass es so wäre. Dann fände sie endlich Erlösung von ihrer Qual ...

„ Nein.“

„ Ist die Schlacht vorüber?“

„ Ja, sie ist vorbei.“ Er sah sie noch eindringlicher an. „Doch ich fürchte, außer mir hat dich alle Welt vergessen, Riyala Falken. Deine verbliebenen Anhänger wurden allesamt niedergemetzelt, und auch deine Eltern sind tot.“

Riyala hatte nicht geglaubt, dass sie noch etwas berühren könnte, aber diese Nachricht erschütterte sie.

„ Meine Eltern? Sie sind beide tot?“, stieß sie hervor.

„ Dein Vater fiel in der Schlacht, und deine Mutter wählte den Freitod, nachdem sie mitansehen musste, wie ihre Priesterinnen am Altar der Göttin abgeschlachtet wurden.“

Riyala keuchte vor Entsetzen.

„ Die Rebellen haben gesiegt. Sie plündern und verwüsten nun die ganze Stadt“, fügte der Magister emotionslos hinzu.

„ Gesiegt? Aber ... wie – wie war das möglich? Ich habe doch selbst gesehen, wie Nigel starb, und er ...“, sie schluckte trocken, „er war das Herz und der Kopf des Aufstandes.“

„ Er wurde zum Märtyrer und sein Tod zu einem Fanal, das alle Bauern und Gaukler befähigte, noch leidenschaftlicher zu kämpfen – bis sie gleichsam zu einem einzigen, riesigen Arm wurden, der ein gigantisches Schwert schwang.“

„ Doch wer nahm Nigels Platz ein? Wer führte sie denn an?“

„ Sandirilia. Und sie ist immer noch die Führerin.“

Ungläubig starrte Riyala ihn an.

„ Ich habe durch meinen Wahrheitsstein einen Blick in das Herz dieses Gauklermädchens getan“, erklärte er. „Sandirilia ist wahnsinnig vor Zorn und Schmerz – gegen ihre Leidenschaft konnte sich dein Vater nicht zur Wehr setzen. Das alte Co-Lha musste untergehen ... doch mit Sandirilia droht nun das Land noch tiefer in Chaos und Zerstörung zu versinken. Auch jetzt noch wütet sie auf barbarische Weise und brennt alles nieder. Unversehrt ist von der ganzen Mondburg praktisch nur noch dieser Turm, und die halbe Stadt gleicht einer lodernden Fackel ...“

„ Und all das ist meine Schuld“, flüsterte Riyala wie betäubt. „ICH habe das alles ausgelöst.“ Ihre Verzweiflung und ihr Selbsthass wuchsen ins Unermessliche.

Der alte Mann trat näher zu ihr und löste beiläufig ihre Ketten. Fürsorglich stützte er ihre schwankende Gestalt und half ihr, sich zu setzen. Er selbst ließ sich ebenfalls im Hexersitz auf dem Boden nieder.

Abwesend rieb sich Riyala die tauben, zerschundenen Hände. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, wieder in Gleichgültigkeit zu versinken, dem frischen Schmerz der Schuld zu entfliehen – aber ein anderer Teil ihres Wesens rang nach Erkenntnis.

Zum ersten Mal in ihrem Leben sprach sie mit ruhiger Überlegung, als sie ihren alten Lehrmeister fragte: „In Wahrheit habt Ihr mich gar nicht verraten, oder?“

Mit einem leisen, schmerzlichen Lächeln antwortete er: „Ich tat nur das, was du im Grunde wirklich wolltest.“

Riyala nickte langsam. Ja, genau das entsprach ihrer tiefsten, innersten Wahrheit ... Sie hatte mit all ihren Lügen nicht mehr weiterleben können und diesen Weg gewählt, um sich auf schmerzhafteste Weise daraus zu befreien.

„ Und nun habe ich alles verloren. Selbst meinen Falken und sein Auge ...“

„ ... dessen geheime Kraft dir Erkenntnis schenkte“, ergänzte der Magister.

Sie schwiegen.

Schließlich sprach der weise alte Magier: „Qual, Tod und Verlust sind nur Zeichen des Wandels – du löst dich vom Alten, um etwas Neues zu beginnen. Doch ich kenne dich gut, Riyala Falken – du wirst dich noch eine Zeitlang in Selbstvorwürfen und Schuld verzehren, ehe diese Wahrheit dich erreicht. – Ich wählte dich zu meiner Nachfolgerin, und anfangs dachte ich, du könntest deine Fähigkeiten rasch genug entwickeln, um Co-Lha zu retten. Ich glaubte, dies sei deine Bestimmung. Aber selbst mir bleibt vieles verborgen. Und du warst – und bist – noch nicht bereit. Nun kann ich dir nicht länger helfen. Für verzweifelte Menschen wie dich eröffnen sich manchmal andere Wege des Schicksals ... Sag mir, hast du je vom Magischen Schatten gehört?“

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„ Die Legende erzählt, dass an diesem geheimnisvollen Ort ein Stein gewachsen ist, von dem alle magischen Kristalle unserer Welt abstammen. Vom Willen der Götter gelenkt, gebar der Urmutterstein diese wunderbaren Geschenke an uns ... Aber dieses heilige Artefakt ist noch mehr als das. Wer den Schattenstein findet, so heißt es, findet sich selbst und seine wahre Bestimmung.“

Ein schwacher Funke des Interesses glomm in Riyalas Augen auf.

„ Wo verbirgt sich dieses Artefakt?“, fragte sie.

„ In einer anderen Sphäre, die gleichsam der Spiegelschatten unserer eigenen Welt ist“, gab der Magister zur Antwort. „Und den Weg dorthin findest du nur, wenn du drei Prüfungen bestehst ...“

Riyala sagte nichts darauf. Sie fühlte sich wieder kräftig genug, um aufzustehen.

„ Bin ich dessen denn würdig?“, murmelte sie mehr zu sich, doch der Kristallhexer erwiderte mit klangvoller Stimme: „Das entscheidest allein du selbst. – Die erste dieser Prüfungen könnte bereits in den Tiefen der Unterwelt auf dich warten. In den STOLLEN.“ Mit diesen Worten ging er zum Mittelpunkt der Erde und drehte seinen Krückstock so, dass der Knauf nach unten wies. Er sammelte sich und beschrieb mit dem blaugrünen Stein einen Kreis auf dem Boden.

Riyala stellte sich an seine Seite – und starrte in einen runden, unergründlichen Schacht, der sich urplötzlich geöffnet hatte. Sei konnte auch eiserne Sprossen erkennen, die hinabführten.

„ Die Unterwelt ist bereit, dich zu empfangen, Riyala“, sagte der Magister. Wieder einmal glitt jenes rätselhafte Lächeln über seine zerfurchten Züge.

„ Doch sei auf der Hut vor den Höhlenschlangen. Sie sind zauberkundig und werden dich umschlingen und für immer bannen wollen. Aber auch du bist schließlich eine Magierin ...“

„ Bin ich das?“, sagte sie tonlos. Erneut rollte eine graue Woge der Mutlosigkeit durch sie hindurch.

Da packte er sie unerwartet fest an den Schultern. Sie spürte die Wärme seiner Hände.

„ Ja, das bist du!“, bekräftigte er. „Sieh her – als neuen vierten Stein gebe ich dir Chrysopal, den Meeresstein.“ Mühelos pflückte er den Kristall von seinem Krückstock, obwohl dieser soeben noch mit dem Stock verwachsen gewesen war; legte ihn in Riyalas Hand und bog sanft ihre Finger darum.

„ Mir brachte er die Leichtigkeit des Schrittes zurück und öffnete geheime Türen, wie zuletzt diese hier. Nun will er bei dir sein, das spüre ich. Welche Kräfte Chrysopal für dich bereithält, magst du selbst entdecken.“

Als sie noch immer unschlüssig blieb und wortlos dastand, erschien ein spöttischer Ausdruck in seinem Gesicht. Doch es war ein Spott, der nicht verletzte, sondern mit dem er sie nur aufrütteln wollte – seine schneidenden Worte kamen aus der Anteilnahme seines Herzens. Er zog beide Brauen hoch und meinte ironisch: „Du hast natürlich die freie Wahl. Du könntest auch hier dein Schicksal erwarten, dich ergeben – gewiss erinnert sich Sandirilia bald an dich und lässt dich suchen. Und sie wird dich hier ohne Zweifel finden. Wenn du also nur büßen willst für deine ‚Fehler‘, dein ‚Versagen‘ – nun, ihr wird es ein Vergnügen sein, ihrer Todfeindin die Kehle durchzuschneiden. Oder sie bietet den Bauern und Gauklern, die ebenfalls schwere Verluste erlitten haben, ein höchst befriedigendes Schauspiel der Rache und lässt dich öffentlich zu Tode foltern. Ist es das, was du willst? Wähle, Riyala Falken!“, wiederholte er.

„ Aber ... aber was wird aus Co-Lha?“, wandte sie ein. „Wie kann ich mein Land ein weiteres Mal ...“ Sie verstummte und schlug die Augen nieder.

„ Lass die Vergangenheit los. Das ist der letzte Rat, den ich dir gebe.“

Allmählich begann sich Riyalas Entschluss zu festigen. Sie blickte in das schwarze Loch, das ihre Zukunft bedeutete.

Zu gern hätte sie noch einen Hinweis auf die zwei anderen Prüfungen erhalten – doch da hörte sie das leise Einrasten der Zellentür. Sie wirbelte herum und schnappte nach Luft. Der Edelstein-Magister hatte sie verlassen, einfach so ... Sie fasste sich und rief: „Ich danke Euch!“ – und sie war sicher, dass er sie hören konnte. Und irgendetwas sagte ihr, dass dieser Abschied nicht für immer war. Eines Tages würde sie den weisen alten Mann wiedersehen ...

Ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie mit dem Abstieg in die Unterwelt begann.


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