Читать книгу Fantasy Sammelband Riyala - Tochter der Edelsteinwelt Band 1 bis 5 - Antje Ippensen - Страница 8
2. Kapitel: Nigel
ОглавлениеDie Umrisse der ersten strohgedeckten, dunklen Hütten von Arjenez schimmerten matt im Mondlicht, und Riyala steuerte geradewegs auf ein halb verrottetes Eingangsgatter zu – als sie plötzlich etwas Entsetzliches entdeckte.
Um ein Haar wäre sie über ihren grausigen Fund gestolpert, und es fehlte nicht viel, und sie hätte laut aufgekreischt. Wie angewurzelt stand Riyala da, eine Hand auf die Brust gepresst.
Verkrümmt am Boden lag eine Frau in Lumpen – eine ihrer abgezehrten Hände hing in flehender Gebärde steif in der Luft.
Die Frau musste schon seit mehreren Stunden tot sein. Riyalas Grauen bei diesem Anblick steigerte sich noch, als sie den Inhalt des Bündels sah, das die Tote mit der anderen Hand an sich drückte: es war ein ebenfalls totes Baby.
Verhungert. Kurz vor dem rettenden Dorf, deren Bewohner ihr und dem Kind doch wohl in irgendeiner Weise hätten helfen können ... Die Kräfte verließen sie, so dass sie nicht einmal mehr schreien konnte.
Solche furchtbaren Gedanken wirbelten durch Riyalas Hirn ... und dies waren die ersten Leichen, die sie überhaupt in ihrem Leben sah.
Es schien ein noch schlechteres Omen zu sein als das Verschwinden ihres Falken, und nur unter großen Mühen gelang es dem Mädchen, zu ihrem alten Zaubertrick zu greifen: Sie verdrängte das Gesehene so tief es ging und schritt dann weiter, in das stille, düstere Dorf hinein.
Ob wirklich alle Dorfbewohner schliefen? Riyala wusste nicht warum, aber sie glaubte es nicht. Etwas Sonderbares lag hier in der nach Armut riechenden Luft und schien auf einen bestimmten Ort hinzudeuten, der etwas erhöht am Dorfrand lag.
Als Riyala dieser Stimmung nachging, hörte sie bald tatsächlich gedämpft murmelnde Stimmen, ab und zu sogar abgerissene Satzfetzen. Und bald darauf tauchte die Ruine eines Tempels vor ihr auf – von dort kamen die Stimmen ... und bald waren auch ein paar flackernde Lichter zu erkennen.
Vorsichtig schlich Riyala näher an das halb verfallene Gebäude heran, von dessen Kuppel nur noch traurige Reste standen.
Ja, hinter diesen Mauern hatten sich offenbar ein Dutzend oder mehr Dorfbewohner versammelt – aber weshalb? Neugierig umkreiste Riyala die Tempelruine, bis sie schließlich einen Riss im Mauerwerk fand, durch den sie hindurchspähen konnte. Vom Eingang mit seinem schief in den Angeln hängenden Holztor hatte sie sich lieber ferngehalten.
Das, was sie sah, war zunächst nicht besonders beeindruckend, sondern eher enttäuschend: schmutzige, abgerissene und hohlwangige Dörfler hockten auf den Dielen, gestikulierten müde und sprachen miteinander: manchmal lauter, manchmal leiser. Riyala hatte sich etwas Aufregenderes gewünscht und wollte sich schon mit einem leisen Seufzer zurückziehen, als etwas geschah, was ihren Blick auf der Stelle fesselte:
Ein junger Bursche mit kühner Hakennase, flammenden schwarzen Augen und tief gebräunter Haut sprang plötzlich auf den einfachen Holztisch im Altarbereich des Tempelraumes. In einer Hand hielt er eine kleine Trommel.
Was Riyala jedoch am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass dieser Junge sein rotbraun-schwarzes Haar unbedeckt trug. Es war schulterlang und dicht und flatterte bei jeder Bewegung, die er machte. Jetzt strich er es sich schwungvoll aus der Stirn.
„ Meine Freunde, Brüder und Schwestern!“, rief er. „Lasst uns nicht länger hier herumhocken wie erloschene Kerzen, sondern Lasst uns Mut fassen und überlegen, was wir tun können! Die Zeit ist reif, um endlich eine Entscheidung zu fällen!“
Es war beinahe so, als schwinge Zauberkraft in seiner Stimme mit, denn die bislang lethargisch wirkenden Dörfler richteten sich allesamt auf.
Als ob ein Funke überspringt, dachte die heimliche Zuschauerin an ihrer Mauerspalte.
Dann jedoch sagte ein alter Mann: „Schön gesprochen, Nigel – aber sagst du uns auch, was genau wir tun sollen, junger Hitzkopf? Wir sind halb verhungert. Es bleibt uns kaum die Kraft, die alltäglichen Geschäfte zu besorgen. Die kleinsten Dinge fallen uns schwer ...“
„ Eben deshalb, Gratan, müssen wir diese Reste an Kraft sinnvoller einsetzen!“, entgegnete der junge Mann, der also den Namen Nigel trug. „Nicht für die ‚kleinsten Dinge‘, sondern für die Befreiung, die Rettung! Und wir werden sehen, dass viel mehr in uns steckt, als wir ahnten.“
Er blickte mit seinen feurigen Augen in die Runde und konzentrierte sich dann wieder auf den alten Gratan.
„ Ich mag jung sein, aber du brauchst mir gewiss nicht zu erklären, wie schlecht es um uns steht! Unsere Familien siechen dahin – in meiner Hütte liegt meine Mutter, gealtert vor ihrer Zeit, zu schwach, um sich von ihrem Lager zu erheben. Und meinen drei Schwestern geht es nicht viel besser. – Ich sage euch: Ich ertrage das nicht länger! Und tief in eurem Innern wisst ihr auch, dass wir diesen Zustand nicht länger hinnehmen können! Wir wissen es alle!“
Bei diesen leidenschaftlich hervorgestoßenen Worten klopfte Nigel sich mit der Faust gegen die Brust, und seine schlanke, aber kräftige Gestalt straffte sich noch mehr.
Riyala konnte ihren Blick nicht von ihm lösen. Sie war vollkommen fasziniert.
„ Ja, er hat ganz recht!“, krächzte die Stimme eines vielleicht fünfzigjährigen Bauern, dessen Hände den Griff einer schartigen Sense umklammerten. Er stieß sein Werkzeug heftig gegen den Boden.
„ Wir müssen uns endlich wehren!“, schrillte eine hagere Frau mit wirrem salzfarbigem Haar. Sie hielt einen leeren Kochtopf zwischen den Fingern und begann nun, mit einem Löffel rhythmisch dagegen zu schlagen.
Die anderen Dörfler fielen in den Lärm ein mit allem, was sie an kümmerlichem Gerät bei sich hatten; manche klapperten auch nur ohrenbetäubend mit ihren Holzpantinen.
Bis Nigel die Arme hob. Es wurde wieder ruhiger.
Als er abermals zu sprechen anfing, lief es Riyala heiß und kalt über den Rücken, ihr Herz begann zu klopfen; Furcht und Empörung schnürten ihr die Kehle zu. Der Bursche rief ja zum offenen Aufruhr auf!
„ Co-Lha hat uns im Stich gelassen!“, rief der junge Bauernsohn mit seiner klangvollen Stimme. „Die Matriarchin und ihr Heros verschanzen sich im Inneren der Stadt und scheren sich nicht darum, ob wir verrecken! Wir sind ihnen egal! Und in Co-Lha gibt es alles, was wir brauchen – warum also gehen wir nicht dorthin und holen es uns?“
Zustimmendes Gebrüll aus vielen Kehlen antwortete ihm. Nigel griff nach seiner Trommel und entlockte dem Instrument dunkle, dröhnende Töne, die unmittelbar ins Blut gingen.
Wie erstarrt stand Riyala da, klebte förmlich an ihrer Mauerspalte. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Hals über Kopf davonzurennen und dem heftigen Verlangen, weiterhin dem Trommelschlag zu lauschen und den jungen Nigel mit ihren Blicken zu verschlingen.
Die Dörfler im Inneren der Tempelruine nahmen den Rhythmus auf, den der Trommler vorgab ... und mit all ihren Geräten und Gegenständen erzeugten sie nun keinen dissonanten Lärm mehr, sondern eine wilde, primitive und erregende Musik, die zu Taten und Abenteuern rief ... Und alle, halbverhungert und zerlumpt, wie sie waren, begannen zu tanzen.
Als Tanz und Klänge ihren ekstatischen Höhepunkt erreichten, gelang es Riyala, sich loszureißen. Hastig stolperte sie fort vom Ort des Geschehens, fiel mehrmals über die Falten ihres langen, bunten Gewandes, raffte sich wieder auf und rannte weiter, wieder ins Dorf hinein.
In einer schmutzigen, engen Gasse blieb sie erschöpft stehen. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie strich sich ein paar schweißnasse Haarsträhnen aus der Stirn. Heftiges Seitenstechen zwang sie dazu, vornübergebeugt stehenzubleiben, eine Hand gegen die Rippen, die andere auf einen Oberschenkel gestützt.
Was sollte sie jetzt tun? Zu ihrem alten „Zaubertrick“ greifen und das Ganze verdrängen? – Doch für sie bestand kein Zweifel daran, dass dieser Nigel jedes seiner Worte bitterernst gemeint hatte und einen Sturm auf Co-Lha plante. Sie, Riyala, war in dieser Nacht sozusagen zur Spionin wider Willen geworden, und wer wusste, wie viele Anhänger der junge Feuerkopf schon besaß und wie viele er noch sammeln mochte?
War es nicht ihre Pflicht, augenblicklich in die Stadt zurückzukehren und ihre Eltern zu warnen? Wenn dieser Aufstand im Keim erstickt und Nigel in den Kerker geworfen wurde, war alles gut. Man würde ihr dann zweifellos auch ihren kleinen „Ausflug“ verzeihen, ja sie sogar belohnen, weil sie Co-Lha gerettet hätte ...
Nachdenklich lehnte Riyala sich an einen windschiefen Holzpfosten. Gedanken, Pläne und Ideen flatterten wie verrückte Vögel durch ihr Hirn. Störenderweise schob sich immer wieder das Bild Nigels mit seinem offenen Haar und den wild leuchtenden Augen dazwischen, so dass sie nicht einen einzigen dieser Gedanken klar zu fassen bekam.
Musste sie sich denn überhaupt sofort entscheiden?
Der Mond sank bereits, und sein glänzender Schein begann sich zu trüben. Nur noch spärlich sickerte sein Licht in die verdreckte Gasse, die nach Dung und Urin stank.
Plötzlich nahm Riyala aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr – und noch ehe sie schreien oder sonstwie reagieren konnte, sprang eine schattenhafte Gestalt von hinten auf sie zu und packte sie. Eine schmierige Hand hielt ihr den Mund zu, so dass ihre Lippen gegen die Zähne gedrückt wurden. Dürre, aber harte Finger bohrten sich in ihren Oberarm.
„ Na, wen haben wir denn da?“, flüsterte die raue, gierige Stimme eines Mannes in ihr Ohr.
Riyala war vollkommen überrumpelt und zitterte vor Angst. Ihre Beine waren eiskalt bis zu den Knien. Reflexhaft versuchte sie ein wenig zu zappeln, doch der Angreifer griff sofort fester zu.
„ Wag es nicht zu schreien, sonst bring ich dich um!“, zischte er; dann glitt seine Hand von ihrem Mund und durchsuchte mit geübten Bewegungen ihr Gewand. Seine andere Hand verdrehte ihr nach wie vor auf schmerzhafte Weise den Arm.
Die eingeschüchterte Riyala brachte tatsächlich keinen Ton hervor. Sie nahm den fauligen Mundgeruch des Mannes wahr und seine ebenfalls üblen Körperausdünstungen. Grelle Furcht und Ekel überwältigten sie fast.
Was hoffte der Mann zu finden? Geld, Schmuck, Essen? Und was würde geschehen, wenn er ... Sie dachte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende.
In demselben Moment, da der Finsterling in der Tat ein enttäuschtes Grunzen ausstieß, bestimmt deshalb, weil Riyalas Gewand so leer war wie sein Magen, rief eine angenehm klingende Stimme vom Ende der Gasse: „He! Bei den Göttern, was ist da los? – Nimm sofort deine Hände von dem Mädchen, du Mistkerl!“
Es war eine Stimme, die Riyala kannte – noch vor wenigen Minuten hatte sie ihr gebannt gelauscht.
Das Geräusch schnell näherkommender Füße in Holzpantinen. Der unbekannte Mann, dessen Gesicht Riyala nie sehen sollte, stieß sein Opfer in eine Kotpfütze und gab dann Fersengeld.
Nigel verfolgte ihn nicht, sondern kümmerte sich sogleich um das heftig schluchzende Mädchen. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber war, setzte bei Riyala verspätet der Schock ein; ihr war übel und eiskalt, und sie ergriff dankbar Nigels warme Hände, die sie aus dem pestilenzartig stinkenden Dreck zogen.
„ Seid Ihr in Ordnung?“, fragte der Bauernsohn besorgt. „Hat Euch dieser miese Abschaum etwa verletzt?“
Sie weinte nur noch mehr wegen der aufrichtigen Freundlichkeit in seinen Worten, und es kam ihr so vor, als würde sie nie mehr damit aufhören können. Es half gar nichts, dass die Stimme ihres Stolzes sie wütend ermahnte, sich gefälligst zusammenzureißen. Der Schreck und die durchlebte Angst waren einfach zu kräftig gewesen – sie, die wohlbehütete Tochter der Matriarchin und des Heros von Co-Lha hatte so etwas noch nie zuvor erleben müssen.
„ Schscht, schscht, ist ja schon gut“, murmelte Nigel und zog sie tröstend an sich. „Er ist weg ... verdammte menschliche Ratte. Ich weiß, wozu Hunger einen treiben kann, aber sich an einer wehrlosen jungen Frau zu vergreifen ...“
Zwischen mehreren heftigen Schluchzern gelang es Riyala endlich, etwas wie einen Dank hervorzustoßen und ihrem Retter zu versichern, dass wirklich alles in Ordnung sei, ihr fehle nichts.
Sie lösten sich voneinander. Im langsam verblassenden Licht des sinkenden Mondes sahen sie einander zum ersten Mal an. Aus dieser Nähe betrachtet, wirkte der junge Mann noch viel anziehender auf Riyala. Sie ihrerseits schien ihm offenbar auch zu gefallen ... verstohlen beobachtete sie seine bewundernden Blicke und schenkte ihm ein Lächeln, bei dem ihre hübschen Grübchen sichtbar wurden.
„ Ihr seid nicht von hier, oder?“, sagte Nigel nun und lächelte ebenfalls strahlend.
Sie schüttelte den Kopf.
„ Ja, das dachte ich mir – in letzter Zeit wird Arjenez von armen Flüchtlingen aus dem Süden förmlich überschwemmt. Früher kannte ich jede Menschenseele im Dorf, und die Gaukler kamen höchstens ein- oder zweimal im Jahr zu uns. Ihr seid doch ein Gauklerkind?“
Riyala nickte hastig. Erst jetzt fiel ihr auf, wie gewählt und geschliffen seine Sprache war; er musste außerhalb von Arjenez erzogen worden sein. Seiner Redeweise fehlten der bäuerliche, undeutliche Tonfall und auch die groben Worte, die das Landvolk gewöhnlich benutzte.
„ Oh, aber ich vergesse ganz, mich vorzustellen!“, rief ihr Beschützer aus. „Mein Name ist Nigel Dha-Na, zu Euren Diensten. Und wie heißt Ihr?“
Riyala öffnete den Mund und begann: „Za...“, sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig und ergänzte dann schnell: „...lana.“
Beim Mond und bei den Sternen – sie musste besser aufpassen! Sie durfte sich auf gar keinen Fall als Tochter des Regentenpaares von Co-Lha zu erkennen geben, und selbstverständlich kannte man im Umkreis von mehreren hundert Meilen den Namen Riyala.
Glücklicherweise hatte Nigel ihr Zögern und Stammeln gar nicht registriert oder beachtete es nicht; er fuhr fort zu sprechen mit seiner schönen Stimme, die wie Musik in ihren Ohren tönte.
„ Nun, Zalana – es freut mich, dass ich Euch behilflich sein konnte ... wenn Ihr erlaubt, dann lasst mich Euch zu meiner Hütte bringen. Dort könnt Ihr Euer Gewand ein wenig reinigen – Wasser haben wir zwar dafür nicht übrig, aber meine Mutter besitzt einen Vorrat an Fleckensalz und Sandseife.“ Ein flüchtiger Schatten zog über Nigels markantes Gesicht, und Riyala erinnerte sich wieder an das, was er in der Tempelruine über seine Familie gesagt hatte.
„ Ich nehme Eure Einladung gerne an, Nigel“, murmelte sie und stellte fest, dass er die Augen nicht von ihr wenden konnte. Blut stieg ihm in die Wangen, als ihm das bewusst wurde. Dann nahm er ihren Arm und schlug einen flotten Schritt an, die Gasse hinunter.
Riyala wusste, wie sie auf Männer wirkte, sogar oder gerade wenn sie geweint hatte. Oft genug hatte sie dies ja zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt ... Und Nigel benahm sich in der Tat ähnlich wie Kazolo, der junge Turmwächter. Aber etwas war anders diesmal – denn sie spürte, wie ihr eigenes Herz in einem angenehm raschen Wirbel pochte, und das war ihr zuvor noch nie passiert. Gewiss hatte sie zuvor schon ab und zu den einen oder anderen Burschen gut aussehend gefunden, doch noch nie hatte sie eine solche Anziehung gefühlt wie jetzt bei Nigel ...
Am östlichen Horizont erschien der erste fahle Schimmer der Morgendämmerung, doch Riyala hatte nur Augen – und Ohren – für ihren Begleiter und achtete auf nichts sonst.
So war sie ein wenig verdutzt, als Nigel plötzlich verstummte und stehenblieb.
„ Ich glaubte etwas zu hören ...“, flüsterte er, und es klang alarmiert.
Sie waren inzwischen beinahe am Rande des Dorfes angelangt. Zwischen den schäbigen Hütten nisteten noch immer die nur langsam schwindenden Schatten der Nacht. Doch Nigels Augen schienen die Düsternis zu durchdringen – er stieß zwischen den Zähnen hervor: „Nein! Nicht noch mehr von diesem Abschaum!“
Diesmal waren es zwei abgerissene, dürre Männer, die zudem auch noch Holzknüppel in den Händen hielten. Mit drohenden Gebärden traten sie aus ihrem Winkel zwischen einer verlassenen Hütte und einem leeren Heuschober hervor. Ob einer von ihnen Riyalas erster Angreifer gewesen war, konnte sie nicht erkennen, und es war ihr auch gleichgültig. Abermals spürte sie die Würgeschlinge der Furcht, die ihr die Kehle zuschnürte, und ihr wurde übel.
Nigel handelte blitzschnell. Er sprang auf die beiden los, ohne zu zögern oder ihnen Zeit für eine Attacke zu geben. Sein Bein schnellte in einer unglaublich gewandten Bewegung hoch und trat dem einen, größeren gegen den Arm, so dass der mit einem Aufschrei den Knüppel fallenließ – fast gleichzeitig, in einer gewandten halben Drehung schmetterte Nigel seine Faust gegen die Brust des zweiten Mannes. Dieser taumelte.
Der junge Bauernsohn war ein hervorragender Kämpfer! Riyala stand atemlos da und beobachtete das Geschehen, eine Hand an der Kehle.
Ihr neuer Freund konnte es wahrhaftig mit zwei Kerlen aufnehmen ... nur ein einziges Mal geriet er in ernsthafte Gefahr, als der kleinere Mann ihm von hinten eins über den Schädel ziehen wollte.
„ Vorsicht, Nigel, hinter Euch!“, gellte da Riyalas Schreckensschrei; im nächsten Moment, es war eine impulsive Handlung, hatte sie schon nach einer Handvoll Schlamm gegriffen und sie nach dem Angreifer geworfen. Sie traf ihn gut – mitten ins Gesicht.
Nigel, der den größeren mittlerweile zu Boden geworfen hatte und mit ihm rang, rollte sich auf Riyalas Warnruf hin elegant zur Seite, sprang hoch und wich dem nur noch schwächlich geführten Knüppelhieb aus. Mit seiner freien Hand wischte sich der Kerl wütend den Schlamm aus den Augen.
„ Verdammtes Flittchen!“, heulte er in Riyalas Richtung – nur eine Zehntelsekunde darauf erwischte ihn Nigels Faust an der Kinnspitze, so dass er ebenfalls zusammenbrach.
Schwer atmend, aber mit lachenden, blitzenden Augen kehrte der siegreiche junge Mann zu dem Mädchen zurück.
„ Gut gemacht!“, lobte er Riyala, und jetzt schien er sie vollends als Gauklerin, also als eine aus dem einfachen Volke, zu akzeptieren. Seine Anerkennung tat ihr wohl, wie ihr auch der Wurf gut getan hatte.
Nigel hatte eine kleine Beule über der Augenbraue davongetragen; sonst war er unverletzt.
„ Schmerzt Euch das?“, fragte Riyala mit sanfter Stimme und strich ihm sacht über die Stirn, wobei sie ein merkwürdiges Kribbeln fühlte, das durch ihren gesamten Körper rann.
„ Ist nur eine Kleinigkeit“, erwiderte er und legte ihr kameradschaftlich einen Arm um die Schultern. Seine Miene verdüsterte sich etwas, während er die beiden Bewusstlosen betrachtete.
„ Noch vor gar nicht langer Zeit wäre so etwas undenkbar gewesen“, murmelte er bitter. „Niemand brauchte zu fürchten, innerhalb seines eigenen Dorfes überfallen zu werden! – Aber man kann diesen armen Teufeln im Grunde keinen Vorwurf machen. Sie sind halb wahnsinnig vor Hunger und werden daher zu wilden Tieren ...“
„ Hat denn niemand sonst den Kampflärm gehört?“, wunderte sich Riyala. „Ich frage mich, weshalb uns keiner zu Hilfe gekommen ist.“
„ Sie sind ebenfalls zu geschwächt“, erklärte Nigel knapp, „sonst hätten sie es zweifellos getan. – Sieht es denn in der Gegend, die Ihr als letztes durchfahren habt, besser aus, Zalana?“
Er sah sie bei seinen Worten aufmerksam an, und Riyala merkte, dass sie schon wieder beinahe einen Fehler gemacht hatte.
„ Oh, nein“, beteuerte sie hastig. „Jedenfalls nicht viel. Nur an derart gesetzlose Zustände bin ich nicht gewöhnt. – Sagt, was geschieht jetzt mit diesen Kerlen? Gibt es im Dorf eine Art Gefängnis?“
„ Wo denkt Ihr hin? Früher war das nicht nötig, und jetzt wäre niemand fähig, sich um ein solches Problem zu kümmern.“ Nigels Miene und auch seine Stimme wurden immer finsterer und bitterer, und Riyala wollte ihn gern auf andere Gedanken bringen. Denn wenn er auch ihr gegenüber mit seinem Aufrührergerede anfing ... dabei fiel ihr ein, dass es ihr auch lieber war, er erfuhr nicht, dass sie das Treffen im Tempel belauscht hatte. Aber ihr schwindelte ein wenig vor so vielen Geheimnissen.
Flink schob sie ihr Unbehagen beiseite, lächelte den tapferen Kämpfer an ihrer Seite an und meinte, rasch das Thema wechselnd: „Jetzt wäre es wirklich schön, wenn ich mich etwas frisch machen könnte! Seht nur, meine Hände kleben vor Dreck.“
„ Und solch hübsche Hände wie die Euren möchten natürlich sauber sein“, neckte er sie, und auch ihr letztes aufregendes Erlebnis löste sich in ihrem Gelächter auf.
Die Hütte, die Nigels Familie gehörte, war recht groß und gut instand gehalten, ganz anders als die meisten Gebäude im Dorf. Wohl war das feste Flechtwerk der Wände an einigen Stellen etwas brüchig geworden, doch in der Regel hatte jemand – vermutlich der Sohn des Hauses – sie fachmännisch geflickt. Außerdem gab es hier mehr als einen Raum, so dass sie weder Nigels Mutter noch seine Schwestern störten, als sie eintraten. Er erzählte Riyala kurz von seiner Familie und ging dann zum Torffeuerplatz, über dem ein blankgescheuerter Kessel hing. Überhaupt war die Hütte sauber und aufgeräumt, gar kein Schweinestall, wie Riyala insgeheim befürchtet hatte. Wie oft hatte sie in Co-Lha gehört, dass die gesamte Landbevölkerung schmutzig sei und es überall stinke wie in einer Sickergrube ...? Hundert- oder tausendmal. Es war eins der vielen Vorurteile zwischen Stadt und Land, ein deutliches Zeichen der tiefen Kluft, die sich aufgetan hatte. Wenngleich meine Mutter behauptet, dies sei vor der Notzeit anders gewesen ... sinnierte Riyala.
Mit ungeschickten bürstenden Strichen benutzte sie das steinharte Stück Seife, das Nigel ihr sogleich gereicht hatte, und versuchte ihr buntes Gauklerinnengewand zu säubern, so gut es eben ging. Seltsam, wie vertraut ihr das Kleidungsstück schon war. Doch die getrockneten Flecken ließen sich nicht ganz aus dem Stoff entfernen. Nur ihre Hände waren bald wieder vom Dreck befreit. Wenn sie Nigel das nächste Mal sah, würde sie sich aber auf jeden Fall ein anderes Gewand anziehen ...
Riyalas Gedanken stockten. Ihn wiedersehen? Wie soll mir das gelingen? Ich muss doch ... ich werde nie ... oh Sterne und Mond, oh ihr Götter und Göttinnen, es wird ja draußen schon hell!
Sie musste augenblicklich zurück. In den Tunnel und dann heim nach Co-Lha – so sehr ihr auch davor graute. Spätestens ein, zwei Stunden nach Sonnenaufgang würden ihre Eltern Suchtrupps losschicken, und die Wächter der Burg würden sie in dieser Verkleidung auf jeden Fall erkennen. Sollte sie sich verstecken wie ein gejagtes Tier? Und dann?
Sie bemühte sich, ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten, während diese Ängste und Befürchtungen wie trockene, aufgewirbelte Blätter durch ihr Hirn stoben.
Nigel hatte einen Tee aufgesetzt und bot ihr davon an.
„ Er ist recht dünn, da wir Teekorn sparen, wo es nur geht“, sagte er entschuldigend. „Zumeist verwenden wir es mehrmals ... so wie Ihr es sicher auch tut. Lagert Eure Truppe in der Nähe des Dorfes, Zalana?“
Riyala bedankte sich zunächst höflich für den Tee und konzentrierte sich ganz darauf, die ersten glühheißen Schlucke zu trinken, um Zeit zu gewinnen. Sie musste sich eine plausible Geschichte ausdenken. Sicher fragte sich ihr neuer Freund schon die ganze Zeit, was sie denn allein in der Nacht in diesem Dorf zu suchen gehabt hatte. Womöglich hielt er sie auch für eine Gaunerin ...
„ Ja, unsere Karren sind nicht allzu weit von hier“, antwortete sie dann. „Wisst Ihr, unser bester Hund ist letzte Nacht entlaufen, und ich machte mich auf, ihn zu suchen. Ich hänge sehr an ihm. Meine Eltern wissen nichts davon, dass allein fortgegangen bin – sie hätten es mir auch bestimmt nicht erlaubt.“ Dieser letzte Teil wenigstens, dachte sie, entspricht voll und ganz der Wahrheit.
Nigel lächelte verständnisvoll. Damit er nicht auf die Idee kam, sie weiter auszufragen, stellte sie ihm ihrerseits rasch eine Frage: „Und sagt, wie kommt es, dass Ihr so tief in der Nacht draußen unterwegs wart? Es war für mich ein großes Glück – so konntet Ihr mein Retter in der Not sein, wofür ich sehr dankbar bin. Aber hättet Ihr nicht lieber hierbleiben und auf Eure Mutter und Eure Schwestern aufpassen sollen? Wenn es doch so unsicher in Arjenez geworden ist?“
Nigel zögerte einen Moment; dann erwiderte er fest: „Nun, das Haus ist, im Gegensatz zu vielen anderen, recht solide und gut gesichert. Nicht gerade leicht für halb verhungerte, kraftlose Banditen, hier einzubrechen ... Außerdem habe ich nur einen kleinen nächtlichen Gang gemacht, was ich häufig zu tun pflege.“
Aha, dachte Riyala mit einer seltsamen Mischung aus Enttäuschung und Triumphgefühl. So sehr vertraust du mir also nicht; auch du bewahrst deine kleinen Geheimnisse!
Sie sah ihn wohl sehr eindringlich an, denn er fügte fast verlegen hinzu: „Zudem weiß jeder, dass dies meine Hütte ist. Mein Ruf verbreitet sich schnell; wie Ihr gesehen habt, bin ich recht gut im Kampf.“
Ja, das hatte Riyala in der Tat gesehen – das Spiel seiner Muskeln und seine geschmeidigen Bewegungen waren überaus beeindruckend gewesen. Wieder überlief sie ein rätselhaftes, schauerartiges Gefühl.
„ Ich muss jetzt gehen“, sagte sie hastig und recht abrupt. „Habt nochmals Dank für alles und auch für den Tee.“
Er reagierte nicht sofort. Erst als sie aufstand, erhob er sich gleichfalls und kam auf sie zu.
„ Wisst Ihr, was mich vorhin am meisten in Wut versetzt hat?“, murmelte er halblaut. „Als Euch der eine Bastard ‚Flittchen‘ nannte ... dass er Euch beleidigte, konnte ich nicht ertragen. Wann sehen wir uns wieder, Zalana? Morgen Abend?“
Es klang drängend, leidenschaftlich.
Überrumpelt stammelte Riyala: „Ich ... ich weiß nicht, ob ...“
„ Sagt ja! Sagt, dass Ihr es versucht. Ich möchte Euch wiedersehen!“
Röte überflutete ihr Gesicht. „Und ich Euch ...“, flüsterte sie.
„ Morgen abend bei Sonnenuntergang. Unter der Perlenbrücke am Co, einverstanden?“
Sie nickte, und er atmete tief durch. Dann umarmte er sie, zunächst scheu, dann selbstbewusster, und ihre Gesichter näherten sich immer mehr ... Ihr Kuss war beinahe keusch, und doch spürte Riyala deutlich Nigels Leidenschaft. Es war ein wunderbares Gefühl.
„ Ihr seid so schön wie ein Traum, Zalana“, sagte Nigel leise.
Diese Worte klangen ihr noch im Ohr, als sie durch das Dorf lief. Sie hatte Nigels Angebot, sie bis zu dem angeblichen Lagerplatz ihrer Truppe zu begleiten, energisch abgelehnt und versuchte nun einen klaren Gedanken zu fassen, während sie Arjenez hinter sich ließ.
Ein grauer Morgen war heraufgedämmert, aber für sie leuchtete er silberfarben.