Читать книгу Drachenkind - Antje Marschinke - Страница 3
Ein Sturm
ОглавлениеMagie,
ob schwarz oder weiß,
nur Eine zahlt keinen Preis.
Der Sturm wütete mit einem Zorn und einer Kraft, wie sie Kaufherr Sandez von Trand noch nie erlebt hatte. Verzweifelt klammerte er sich an die Schiffsreling und starrte hoffnungsvoll in den Wind. Er sandte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel.
Warum musste dieser Sturm ausgerechnet jetzt ausbrechen? Gerade auf dieser Fahrt hatte er seine Familie mitgenommen, um sie zum ersten Mal von der Insel Trand ans große Festland zu bringen.
Wie sehr hatten die beiden ihn gedrängt sie mitzunehmen. Und wie sehr hatten sie sich gefreut, als er endlich zugestimmt hatte.
Bei allen Göttern, es wäre so ungerecht, wenn ausgerechnet auf dieser Fahrt etwas passieren würde.
Unruhig warf er einen Blick zu den Kajüten. In einem kleinen Zimmer saßen seine Frau Leona und seine neunjährige Tochter Delia und klammerten sich aneinander. Beide waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf dem Meer und standen Todesängste aus.
Ein Warnschrei ertönte, und gleichzeitig hörte Sandez ein fürchterliches Knirschen. Der Mast brach und donnerte mit einem gewaltigen Krachen nach vorne.
Sandez hatte Glück, dass er nicht getroffen wurde, aber zu seinem Entsetzen sah er, dass der Mast auf die Kajüten geschlagen war.
„Nein“, schrie er und arbeitete sich durch das Chaos hin zu den Trümmern. Die Matrosen kümmerten sich nicht um ihn. Sie versuchten mit all ihren verbliebenen Kräften das Schiff manövrierfähig zu halten, doch es war unschwer zu erkennen, dass alle Mühen umsonst waren. Besorgt warf der Kapitän einen Blick in den Süden. Der Orkan hatte sie während der letzten Tage immer näher an die Frostwüste getrieben, und es war empfindlich kalt geworden.
Trotzdem, die einzige Möglichkeit zur Rettung bildeten wohl nur die Rettungsboote, da das Schiff leckte und es sich nur noch um eine kurze Zeit handeln konnte bis es sank.
Er gab die entsprechenden Befehle.
Unterdessen wühlte Sandez verzweifelt in den Trümmern und suchte nach seiner Familie. Er bekam gar nicht mit, wie die Beiboote ins Wasser gelassen wurden.
Ein Matrose wurde beauftragt, die überlebenden Passagiere zu holen. Er fand lediglich Sandez, welcher wie wahnsinnig Holzbalken und Trümmer beiseite schleppte.
„Geben Sie auf“, schrie der Seemann gegen den Sturm. „Da ist niemand mehr am Leben. Kommen Sie ins Beiboot.“
Sandez sah ihn mit glühenden Augen an. „Das sind meine Frau und mein Kind“, brüllte er, „Ich glaube erst an ihren Tod, wenn ich ihre Leichen sehe.“
„Sie sind verrückt“, schrie der Matrose, „wir können nicht auf Sie warten. Die Frostwüste rückt immer näher, und bald wird das Schiff sinken.“
Er versuchte Sandez fortzuziehen, aber dieser riss sich los und wandte sich wieder seiner Suche zu.
Der Matrose stieß einen Fluch aus, aber er hatte kein Interesse weiter auf Sandez einzureden. Sollte dieser Kaufherr doch verrecken. Er hatte sein Möglichstes getan. Weiter fluchend eilte er zu den Beibooten.
Sandez ächzte unter dem Gewicht der Trümmer. Erst als die Beiboote schon längst wie verirrte Nussschalen weit fort auf den Wellen tanzten, wurde er fündig.
Das blaue Kleid seiner Frau leuchtete zwischen zwei Balken hervor und spornte ihn erneut an. Keuchend stemmte er das Holz zur Seite und drehte seine Geliebte vorsichtig auf den Rücken.
Sie war tot. Ein Balken hatte ihr das Rückgrat gebrochen und ihre toten blauen Augen starrten ihm voll Entsetzen entgegen.
Unter ihr lag zusammengekauert und bebend die kleine Delia. Ihre Mutter hatte sich schützend über sie geworfen und sie damit wie durch ein Wunder gerettet.
Sandez war schon zu erschöpft, um zu weinen oder gar zu schreien. Innerlich zerriss es ihn, doch er schob mit aller Macht die Trauer beiseite. Zärtlich schloss er mit der Hand die Augen der Toten.
„Leb wohl, Geliebte, Leona, mein Herz“, hauchte er. Dann zog er das verängstigte Kind hoch und trug es an Deck.
Das Schiff schlingerte heftig und konnte jeden Moment auseinander brechen.
Sandez drückte Delia an sich und murmelte beruhigende Worte. Dabei ließ er seinen Blick über das Chaos schweifen. Schließlich sah er eine breite Planke. Er raffte mit einer Hand Seilwerk an sich und trug Delia zu dem Brett. Vorsichtig setzte er sie darauf und schnürte das Mädchen fest. Delia sah ihn mit großen blauen Augen an. Sandez kniete sich nieder und blickte ihr ernst ins Gesicht.
„Du musst jetzt tapfer sein“, sagte er. „Mutter ist tot, und vielleicht werden auch wir sterben. Aber ich werde alles tun, damit du lebst. Ich werde dich gleich ins Wasser bringen, das muss sein. Doch werde ich so lange wie möglich bei dir bleiben. Hast du verstanden?“
Delia nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Du bist ein mutiges Mädchen“, murmelte Sandez und streichelte ihr ein letztes Mal durch die blonden Locken, die so sehr den Haaren seiner Frau ähnelten. „Ich liebe dich.“
Dann schleifte er das Brett mit Delia zum Bootsrand und stieß es vorsichtig ins Wasser. Glücklicherweise landete es auf der richtigen Seite. Sandez sprang seiner Tochter nach.
Die Kälte raubte ihm den Atem, als er in die Fluten eintauchte. Das Meer war eisig. Sandez versuchte verzweifelt das Brett zu erreichen, welches mit seiner Tochter immer weiter abtrieb.
„Vater“, schrie Delia panisch und streckte die Arme nach ihm aus
„Delia“, keuchte Sandez und spuckte sofort Salzwasser. Das aufgewühlte eiskalte Wasser schien sämtliche Lebenskräfte aus ihm zu ziehen. Der Kaufherr spürte wie seine Bewegungen immer langsamer wurden.
„Delia“, flüsterte er. „Mögen die Götter dich schützen.“
Delia schrie, als sie sah wie ihr Vater immer weiter zurückblieb und schließlich versank. Dann raubte das Entsetzen ihr jegliche Sinne.
Sie sah nicht die zarten, durchsichtigen Leiber, die den Körper ihres Vaters tief hinunter zogen, um ihn dort zu seiner letzten Ruhe zu betten. Und sie sah nicht den schwebenden Tanz der Nyrphiden um die zerborstenen Reste des Schiffes. Durchscheinende Augen betrachteten das kleine Mädchen, traurig und mitleidig.
Ein Menschenwesen. - So klein, so allein. - Es wird sterben, so wie die anderen. - Was scheren uns die Erdverbundenen? - So klein, so allein. - Es ist nur ein unbedeutendes Geschöpf. - Nein, es ist anders, fühlt ihr das nicht? - So klein, so allein. - Es braucht Erde. - So viele Tote, lasst es genug sein. - Bringt es zur Erde. - Ja, bringt es nach Süden.