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Ein Gasthaus

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Brogo brachte sie nachts bis in die Nähe einer Stadt nördlich der Westberge. Unbemerkt von anderen Menschen flog er wieder nach Süden, und Delia blieb alleine auf der Straße zurück. Entschlossen stapfte sie nach Norden. Aber je länger sie unterwegs war, umso mehr verschwand ihre Zuversicht. Immerhin war es stockdunkel und sie war nur ein kleines Mädchen. Wer konnte schon wissen, was für Gefahren hier in dieser einsamen Gegend auf sie lauerten?

Die Straße schlängelte sich durch ein kleines Wäldchen, das zwar bei Tageslicht harmlos erscheinen mochte, aber in der Dunkelheit schwarz und unheimlich war. Für Delia, die bisher noch nie nachts alleine gewesen war, barg der Wald alle Schrecken, die sich ein kindliches Gemüt nur vorstellen konnte. Als sie endlich Lichter vor sich sah, rannte sie erleichtert darauf zu.

Vor ihr erhob sich ein großes Gasthaus. Es sah zwar nicht unbedingt wie ein nobles Haus aus, aber zumindest schien es Gäste zu haben. Das Gebäude bildete zusammen mit dem angrenzenden Stall eine Hufeisenform, und auf dem halboffenen Hof standen zwei Reisewagen.

Zaghaft öffnete das Mädchen die Gasthaustür und spähte ins Innere. Die Luft war stickig und warm, und die meisten Gäste schienen zu schlafen. Nur noch eine Handvoll Männer hockte um einen der Tische und vergnügte sich mit zwei jungen Frauen, die kichernd ihre unverschämten Hände abwehrten.

Für Delia war das ein sehr ungewohntes Bild. Nicht nur, dass sie noch nie so lauten und ungehobelt wirkenden Männern begegnet war, auch diese Sorte Frauen war völlig neu für sie. Mit großen Augen betrachtete sie die Szene. Als eine grobe Hand sie im Nacken packte und hochhob, war sie vollkommen überrascht und schrie erschrocken auf. Ein feistes, rotes Gesicht schob sich in ihr Blickfeld.

„Na, was haben wir denn da? Eine kleine Herumtreiberin, hm?“

„Lass mich los“, rief Delia und fing an zu zappeln. „Ich bin keine Herumtreiberin. Lass mich los, du tust mir weh.“

„Soso, keine Herumtreiberin. Und was bist du dann, bitte schön?“

Er setzte sie mit Schwung auf einen der Tische. Delia blickte ängstlich zu ihm auf.

„Ich ... ich heiße Delia und bin die Tochter von Sandez von Trand“, stieß sie schließlich hervor. Der Mann lachte nur. Inzwischen waren auch die anderen Kerle auf sie aufmerksam geworden und umringten den Tisch. Ängstlich sah Delia in die grinsenden Gesichter. Die Frauen kamen ebenfalls neugierig näher.

„Ein hübsches Kind“, meinte die Größere, eine blonde, wohlproportionierte Frau. Der feiste Mann lachte wieder.

„Zilla, du findest doch alles hübsch, was klein und weiblich ist. - Aber ausnahmsweise muss ich dir Recht geben. Blonde Locken und strahlend blaue Augen. Das gefällt mir. - Tima, hol der Kleinen mal ein Glas Milch. Sie sieht ja richtig verhungert aus.“

Die andere Frau eilte sofort in die Küche.“

„Also, wo kommst du her, und wo willst du hin - Delia?“

„Ich ... ich komme von der Küste und will in die Stadt“, erwiderte Delia vorsichtig. Der Mann grinste.

„Soso, das ist ja wirklich spannend. Und wo stecken deine Eltern?“

„Die ... die sind tot“, stammelte Delia und schluckte schnell die aufkommenden Tränen hinunter.

„Soso“, wiederholte der Mann. „Und was willst du in der Stadt?“

„Ich weiß noch nicht. Ich dachte, vielleicht treffe ich da jemanden, der mich nach Trand zurückbringt?“ Unsicher blickte sie ihn wieder an. Der Mann strich ihr mit seiner Pranke sanft übers Gesicht.

„Du weißt noch nicht. - Nun, bis in die Stadt ist es noch ein weiter Weg. Viel zu weit für ein kleines hilfloses Mädchen.“

Tima erschien mit dem Glas Milch. Dankbar nahm Delia es entgegen.

„Ich bin übrigens Germer, der Besitzer dieses ehrenwerten Hauses. Dies sind Zilla und Tima, meine reizende Bedienung und die Kerle da meine geschätzten Mitarbeiter.“

Die Männer kicherten.

„Wie alt bist du?“ fragte Germer. Delia rechnete schnell nach.

„Zehn Jahre“, erwiderte sie dann. Germer legte freundschaftlich seinen dicken Arm um sie.

„Weißt du, kleine Delia. Ich glaube, der Weg in die Stadt ist wirklich zu weit und zu gefährlich für dich. Wie wäre es, wenn du vorerst bei uns bleibst und uns etwas zur Hand gehst? Und wenn einer von uns in die Stadt fährt, kann er dich dann mitnehmen.“

Delia fühlte sich alles andere als wohl in seinem Arm, aber sie traute sich nicht zu widersprechen. Irgendwie spürte sie, dass das nichts nützen würde, eher im Gegenteil.

„Was ... was soll ich denn machen“, piepste sie daher. Germer lachte wieder. Er schien das gerne und oft zu tun.

„Nun, das wird sich zeigen. Ich denke, wir werden dich erstmal in der Küche unterbringen, und alles andere wird sich finden.“

Also blieb Delia bei Germer und seinen Freunden.

Germer war zufrieden mit ihr. Delia war fleißig und fix im Denken und entpuppte sich tatsächlich als eine wertvolle Hilfe. Aber das hatte auch seine Nachteile. Das Mädchen merkte schnell, dass ihr „Gastgeber“ sie immer mehr vereinnahmte und nicht gewillt war, sie gehen zu lassen. Schließlich war sie eine gute und billige Arbeitskraft, denn Lohn erhielt sie natürlich keinen. Zwar bekam sie eine winzige Kammer zum Schlafen zugewiesen und auch genügend zu Essen, aber dafür musste sie auch kräftig mit anpacken, sowohl in der Küche, als auch im Stall und bei der restlichen Hausarbeit. Und Germer scherte sich wenig darum, dass sie nur ein kleines Mädchen war. Tag und Nacht scheuchte er sie durch die Gegend und ließ sie auch harte Arbeiten verrichten wie Wasserschleppen und Holzhacken.

Delia verlor nach und nach jede Hoffnung aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Einmal versuchte sie zu fliehen, doch das scheiterte jämmerlich. Germers Männer fingen sie schnell wieder ein, und sie erhielt eine kräftige Tracht Prügel. An die Reisegäste traute sie sich nicht heranzutreten, da immer jemand ein wachsames Auge auf sie hatte.

Nach und nach bekam sie auch heraus, dass Germer alles andere als ein lauterer Gastwirt war. An manchen Tagen war das Gasthaus nur wenig besucht und nur ein oder zwei Gäste blieben über Nacht. Und dann konnte es durchaus sein, dass diese Gäste über Nacht spurlos verschwanden - nur ihre Pferde standen noch im Stall, die dann prompt geschlachtet wurden.

Delia war nicht dumm und konnte sich denken, was da passierte. Und das förderte nicht nur ihre Angst vor diesen Leuten, sondern auch vor Flucht. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie Brogo zu Hilfe rufen würde, aber es kam ihr irgendwie nicht richtig vor. Zwar fürchtete sie sich vor Germer und seinen Männern, aber eigentlich ging es ihr nicht allzu schlecht. Sie wurde nur sehr selten geschlagen, da Germer ihre eifrigen Hände schätzte und nicht daran interessiert war, sie zu verlieren.

Trotzdem wartete Delia von Tag zu Tag mehr auf eine günstige Gelegenheit ihm zu entwischen.

Drachenkind

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