Читать книгу Drachenkind - Antje Marschinke - Страница 5
Das Drachental
ОглавлениеDelia traute sich nicht, sich zu bewegen. Vielleicht würde sie ihn dadurch nur reizen. Ängstlich beobachtete sie die schlitzförmigen Pupillen des Drachen. Nach endlos langer Zeit hob der Drachen den Kopf von den Klauen und blickte sich um.
Delia hätte beschwören können, dass er lautlos lachte, als er die anderen Drachen sah. Schließlich erhob er sich auf die Füße, wodurch er mit seinem Rücken fast an die Höhlendecke stieß.
Delia machte sich ganz klein. Der Drache schien keine Notiz von ihr zu nehmen. Er reckte und streckte sich, und sein Atem fauchte pfeifend durch die Höhle. Vorsichtig trat er zu dem nächsten schlafenden Drachen und betrachtete ihn. Dann begann er die brennenden Zweige mit einer seiner krallenbewehrten Klaue näher an die anderen Drachen zu schieben.
Delia entschloss sich, jetzt doch eine Flucht zu wagen. Der Drache schien sehr beschäftigt zu sein.
Auf allen Vieren krabbelte sie so leise wie möglich weiter zum Ausgang. Sie schrie auf, als ein riesiger Schatten vor ihr niederging. Delia prallte zurück und erkannte, dass ihr ein Drachenschwanz den Weg versperrte.
Ängstlich wendete sie den Kopf und blickte direkt in das Drachengesicht.
Delia wimmerte. „Tu mir nichts, bitte, bitte.“ Sie hob flehend die Hände, aber der Drache rührte sich nicht. Er starrte sie einfach nur nachdenklich an.
Vielleicht ist er ja intelligent, dachte Delia plötzlich und erinnerte sich an die alten Geschichten, in denen von magischen Drachen die Rede war, welche zurückgezogen lebten und nur selten mit Menschen zusammenkamen. In diesen Geschichten hieß es, dass die alten Drachen sehr intelligent und weise waren. Vielleicht war dieser hier gar nicht böse.
Vorsichtig richtete sie sich auf und erwiderte ängstlich, aber auch neugierig den Blick. Schließlich streckte sie zögernd die Hand aus und berührte seine Schnauze.
Die riesigen Augen verengten sich erst, aber plötzlich schienen sie zu lachen und der Drache gab einen tiefen Laut von sich.
Die Luft, die dabei aus seinem Rachen fauchte, warf das Mädchen prompt von den Füßen. Sie kugelte nach hinten und wurde erst von dem großen Schwanz gestoppt. Als sie sich wieder hochgerappelt hatte, gab der Drache weitere Laute von sich.
Delia lauschte verwirrt. Sprach er mit ihr? Sie glaubte Worte zu verstehen, aber sie erkannte nicht deren Bedeutung. Hilflos hob sie die Schultern und schüttelte den Kopf.
Der Drache brach seine Laute sofort ab und wendete sich wieder seinen Artgenossen zu.
Delia hörte, wie sich immer mehr Drachen bewegten. Die ganze Höhle war von ihrem Fauchen und Scharren erfüllt. Ehrfurchtsvoll sah sie, wie sich die riesigen Leiber durch die Höhle schoben und dabei das Feuer austraten. Einer nach dem anderen hockte sich vor dem ersten Drachen nieder. Schließlich begann dieser wieder zu reden.
Als sich sämtliche Drachenaugen auf Delia richteten, machte sich diese so klein wie möglich und traute sich nicht, ihre Blicke zu erwidern. Da spürte sie wie der Drachenschwanz sie nach vorne drückte. Der Drache schob sie direkt an seinen Körper, und Delia war gezwungen auf seinen Fuß zu klettern. Der Drache schob seine Schnauze unter sie und hob sie auf seinen Rücken. Das Mädchen begriff und hockte sich aufgeregt zwischen den Schuppen nieder. Sie konnte es fast nicht glauben: Sie ritt auf einem riesigen Drachen.
Dieser strebte unverzüglich dem Ausgang zu, und als Delia einen Blick zurückwarf, sah sie, dass sämtlich Drachen folgten.
Ehe sie sich’s versah, waren sie draußen, und der Drache stieß einen donnernden Schrei aus. Dann entfaltete er seine Flügel und erhob sich in die Luft. Delia hielt unwillkürlich den Atem an und klammerte sich an seinen Schuppen fest. Die Drachen flogen mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit und schienen trotzdem noch ausgelassen hin und her zu toben.
Sie müssen sehr lange geschlafen haben, dachte Delia und freute sich, dass die riesigen Reptilien wieder fliegen konnten. Fröhlich jauchzte sie und betrachtete die Landschaft unter sich.
Die Frostwüste erstreckte sich noch weit vor ihnen. Das Mädchen erkannte, was es für ein Glück gehabt hatte. Niemals hätte sie die Frostwüste durchqueren können. Sie wäre elendig gestorben.
Die Drachen flogen unermüdlich nach Norden. Delia zählte 27 Tiere offensichtlich unterschiedlichen Alters. Ihr Drache schien der größte und älteste zu sein.
Einen Tag dauerte der Flug, und dabei überquerten sie die Wasserstraße, welche die Frostwüste vom Westgebirge trennte. Schließlich hatten sie das Westgebirge erreicht und wurden langsamer. Sie schienen etwas zu suchen.
Endlich landeten sie in einem kleinen Tal, das von hohen Bergen abgeschlossen wurde. Es war ein schönes, grünes Tal, und die Luft war würzig und frisch. Der Drache ließ Delia von seinem Rücken klettern und flog sogleich weiter. Die meisten folgten ihm. Nur zwei blieben zurück und wälzten sich behaglich im Gras.
Delia fand in dem Tal Wasser und Früchte, so dass sie ihre Bedürfnisse endlich stillen konnte.
Vor den Drachen hatte sie keine Angst mehr. Sie schienen ihr nichts tun zu wollen, eher im Gegenteil. Einer von ihnen zeigte ihr sogar eine Stelle an der sehr schmackhafte Früchte wuchsen.
Irgendwann kehrten die anderen Drachen mit zufriedenen Augen zurück und die zwei Zurückgebliebenen erhoben sich in die Lüfte, um ihrerseits auf Futtersuche zu gehen.
Der alte Drache baute sich vor ihr auf und stieß einen Laut hervor. Delia lauschte gespannt.
„Was meinst du“, fragte sie. Der Drache wiederholte den Laut und hob die Klaue, um sie sich auf die Brust zu drücken. Delia verstand.
„Dein Name“, lachte sie und versuchte den Laut zu wiederholen. Es klang wie Brogo. Nach einigen Versuchen schien Brogo zufrieden und deutete auf sie.
„Delia“, sagte sie langsam und Brogo wiederholte ihren Namen. Delia klatschte vor Freude in die Hände. Die erste Verständigung hatte begonnen.
Ungefähr ein Jahr lang blieb Delia im Drachental und lernte die Drachensprache. Es fiel ihr nicht leicht, aber Brogo ließ nicht nach. Da es dem alten Drachen sehr wichtig zu sein schien, gab sie sich alle Mühe. Zudem fand sie es unglaublich spannend, dass sie sich mit einem Drachen unterhalten konnte. Nebenbei erfuhr sie dabei auch die traurige Geschichte des Drachenvolks.
Vor tausend Jahren wurde das Drachengeschlecht durch Kämpfe der Menschen und durch mächtige Zauberer im Norden fast ausgerottet. Schließlich hatten sie sich müde in die Frostwüste zurückgezogen, um dort den langen Kälteschlaf zu schlafen, der ihnen schon Jahrhunderte vorher prophezeit worden war. Es hieß, dass ein Mensch sie durch Feuer wecken würden, wenn die Zeit es verlangte, und dieser Mensch war offensichtlich Delia, was sie mit Stolz, aber auch mit Traurigkeit erfüllte. Immerhin war die Erweckung der Drachen mit dem Tod ihrer Eltern verbunden, und sie sollte noch lange brauchen, bis sie darüber hinwegkam.
Das Mädchen wurde von den Drachen aus verständlichen Gründen freundlich und fürsorglich behandelt. Doch trotz dieser Aufmerksamkeit spürte Delia schnell, dass sie anders waren. Ihre Gedanken und Gefühle schienen so grundverschieden und fremd, dass immer ein Abstand zwischen ihnen blieb. Erst war das Mädchen enttäuscht, aber nach und nach akzeptierte sie diese Distanz. Sie lernte, dass Drachen sich tatsächlich kaum für das Geschick der Menschen oder der anderen Geschöpfe Ruans interessierten. Nur Weniges schien ihrer Aufmerksamkeit wert und Delia war natürlich stolz darauf, dass sie zu den wenigen Personen gehörte, mit denen diese riesigen Geschöpfe redeten.
Aber die Faszination, die diese Bekanntschaft ausstrahlte, verblasste schnell. Obwohl sie ständig von Drachen umgeben war, fühlte sie sich bald einsam. Ihre neuen Freunde waren keine Gesprächspartner für ein kleines Mädchen. Sie waren ernst und redeten über seltsame Dinge, die Delia oft genug nicht verstand. Als sie darum bat, zu den Menschen zurückkehren zu dürfen, war sie erleichtert, dass Brogo zustimmte. Der alte Drache sah ihr ernst in die Augen.
„Wir werden dich zu deinem Geschlecht bringen, doch du darfst ihnen nichts von uns erzählen. Noch sind wir nicht stark genug und unsere Weibchen noch nicht trächtig. Aber wenn du Hilfe brauchst, dringende Hilfe, dann stoße den Drachenruf aus, den ich dich gelehrt habe.“
„Aber ihr seid so weit weg“, sagte Delia. „Ihr könnt mich doch niemals hören.“
Brogo lachte sein lautloses Lachen. „Den Drachenruf hören wir immer, egal wo er ausgestoßen wird. Wir werden dir helfen! – Immer!“