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Drachenkind
ОглавлениеAls Delia erwachte, schaukelte das Brett langsam auf den Wellen. Das Wasser hatte eine tiefgrüne Farbe und der Himmel war von leuchtendem Blau. Als sie einen Blick nach Süden warf, schloss sie geblendet die Augen.
Vor ihr lag die Küste der Frostwüste in einem strahlenden Weiß. Keuchend stieß Delia den Atem aus, der sich als weiße Wolke erhob und gegen den Himmel schwebte.
„Wie schön“, flüsterte Delia. Langsam wurde sie die Küste entlang getrieben und konnte sich kaum an der gleißenden Schönheit satt sehen.
Nachdem sie ihr erstes Staunen überwunden hatte, spürte sie die durchdringende Kälte. Sie trug zwar einen dicken Wintermantel, doch er war nass und schwer und Delia hatte das Gefühl nackt zu sein.
Mit der Kälte kam auch die Erinnerung. Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht und wimmerte leise in sich hinein. Immer wieder sah sie den hellen Kopf ihres Vaters in den Wellen und erblickte die gebrochenen Augen ihrer Mutter.
Ein kleiner Ruck stieß sie aus ihrer Verzweiflung. Das kleine Floß war gegen eine Eisplatte gestoßen und lag für kurze Zeit still.
Delia reckte den Hals und erkannte, dass die Eisplatte mit dem Festland verbunden schien. Hastig versuchte sie die Knoten des Seiles zu lösen. Aber das Tau war steifgefroren, und Delia rieb sich die Finger blutig. Verzweifelt merkte sie, wie sie an der Platte vorbeigetrieben wurde. Trotzdem mühte sie sich weiter ab.
Als sie endlich frei war, schwamm sie wieder über eine größere Wasserfläche. Delia unterdrückte ein Weinen.
´Du musst jetzt tapfer sein´, hatte ihr Vager gesagt; und das würde sie sein, das nahm sie sich fest vor. Sie wollte ganz schrecklich tapfer sein.
Doch nicht nur die nagende Kälte war unangenehm. Langsam spürte sie großen Durst, und ein Hungergefühl bohrte sich penetrant in ihre Eingeweide. Es blieb ihr trotzdem nichts anderes übrig, als auf eine weitere günstige Gelegenheit zu warten.
Was sie an Land erwartete, wusste sie nicht. In den Erzählungen, die sie kannte, wurde berichtet, dass keine Menschen in der Frostwüste lebten, und auch Tiere gab es nur wenige. Delia hatte vom gefährlichen Schneetiger und den harmlosen Robben gehört. Auch Vögel fanden keinen Lebensraum hier im Süden. Der Name Frostwüste hatte schon seine Berechtigung.
Delia stellte fest, dass sie immer weiter auf einige Eisberge zugetrieben wurde, doch es dauerte noch eine endlos lange Zeit, bis sie eine weitere Gelegenheit an Land zu springen erhielt. Dabei hielt sie krampfhaft das Seil in den Händen, um mit dem Floß in Verbindung zu bleiben. Sie hatte zu große Angst ins Wasser zu fallen und sich nicht festhalten zu können. Aber sie landete unverletzt auf dem Eis.
Keuchend zog sie das Brett ein Stück hinter sich her. Dann blieb sie stehen und sah sich um.
Vor ihr erhob sich ein riesiger zerklüfteter Berg, welcher aber nicht ausschließlich aus Eis zu bestehen schien.
Delia überlegte, was sie tun sollte. Das dringendste was sie brauchte waren Nahrung und Wärme, und beides schien unerreichbar zu sein. Immerhin konnte sie ihren Durst an dem Schnee und Eis stillen. Doch wie sie hier Nahrung finden konnte, wusste sie nicht.
Schließlich beschloss sie, zuerst die Umgebung zu erkunden. Vorsichtig kletterte sie über ein paar Felsen und begann den Berg zu umrunden. Dabei musste sie die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenkneifen, da das Eis die Sonne grell reflektierte. Als sie auf der Landseite des Berges war, verschnaufte sie und blickte nach oben. Ihre Lungen brannten vor Kälte. Plötzlich entdeckte sie eine höher gelegene Stelle in den Felsen. Das war doch eine Höhle!
Aufgeregt fing sie an zu klettern, aber dann stockte sie. Wenn nun Schneetiger darin waren? Und sie hatte gar kein Licht! – Nach kurzem Zögern kletterte sie weiter. Sie hatte keine Wahl. Sie musste einen wärmeren Ort finden, sonst würde sie erfrieren.
Als Delia ihr Ziel erreichte, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Das Loch war viel größer, als sie gedacht hatte. Es war riesig. Aber sie konnte nicht weit hinein sehen. Innen war es stockdunkel.
Vorsichtig betrat sie die Höhle und tastete sich in die Dunkelheit hinein. Langsam, sehr langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit, und sie nahm schemenhafte Umrisse wahr. Furchtsam hörte sie auf ein tiefes Pfeifen und Rauschen, das die Höhle erfüllte. Es war sehr laut, aber noch erträglich. Das ist bestimmt der Wind, dachte sie und tastete sich weiter.
Delia stellte fest, dass die Höhle alles andere als geräumig war. Dauernd war sie gezwungen riesigen Felssäulen auszuweichen, und das unheimliche Raunen erfüllte sämtliche Höhlungen.
Schließlich blieb sie vor Angst zitternd stehen. Aller Mut schien aufgebraucht. Das Mädchen erwartete jederzeit, einem Schneetiger in den Rachen zu laufen.
Sei tapfer, dachte sie immer wieder, sei tapfer. Nach ein paar weiteren zaghaften Schritten stieß sie plötzlich gegen etwas Hartes, das raschelnd zur Seite kippte.
Delia blieb wie erstarrt stehen. Doch dann fasste sie sich ein Herz und bückte sich, um den Gegenstand zu ertasten. Es fühlte sich an wie ... wie Holz! Holz! Delia juchzte erfreut auf und schlug sich im gleichen Moment die Hand vor den Mund. War sie verrückt? Wenn hier nun wirklich ein Schneetiger war? Ihr war überhaupt nicht klar, dass, wenn wirklich ein Schneetiger dagewesen wäre, dieser sie schon längst entdeckt hätte.
Schnell stellte sie fest, dass sehr viel Holz den Boden bedeckte. Sie fragte sich nicht, wie es hierher gekommen war. Für sie zählte nur, dass es da war.
Sie trug einen riesigen Stapel zusammen und hockte sich dann vor ihm nieder. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, wie man mit einem Feuerstein Funken schlug. Er war ein weitgereister und erfahrener Mann gewesen, und Delia war ein wissbegieriges Kind, das bereitwillig alles gelernt hatte, was er bereit war zu zeigen.
Jetzt hockte sie vor dem Holzstoß und mühte sich mit steifen Fingern mit ihren kleinen Feuersteinen ab. Sie hatte die Steine vor einiger Zeit geschenkt bekommen und trug sie seitdem immer mit sich herum. Jetzt war sie froh und dankbar darüber.
Endlich gelang es ihr, ein paar kleine Ästchen zum brennen zu bringen, und nach kurzer Zeit fraß sich die Flamme immer weiter den Holzstoß empor.
Delia rückte nahe heran, um sich die Hände zu wärmen. An Schneetiger dachte sie im Moment überhaupt nicht.
Glücklich und stolz starrte sie in die Flammen. Aber sie hatte nicht mit dem restlichen Holz gerechnet, welches weit verstreut in der Höhle lag, und plötzlich sprang das Feuer über.
Delia sah fasziniert zu wie das Feuer sich in der Höhle ausbreitete. Als sie daran dachte, dass es ihr gefährlich werden könnte, war es schon zu spät. Erschrocken stellte sie fest, dass das Feuer ihr den Rückzug abgeschnitten hatte. Die Luft war trocken, heiß und raucherfüllt. Delia hustete und presste ängstlich den Rücken gegen den Felsen. Doch dann erstarrte sie. Der Felsen - er bewegte sich. Langsam, aber gewaltig schien er sich zu heben und zu senken. Delia stieß sich ab und sah an ihm hoch. Er war riesig, wie sie im Feuerschein bemerkte und er war oben gezackt, obwohl er insgesamt rund aber lang gestreckt war. Und da sah sie wie er sich bewegte, so als würde er - atmen.
Delia presste sich die Hand auf den Mund, als sie erkannte, wer vor ihr lag. Sie hatte ihn auf einigen Bildern gesehen, aber er war eine Legende. Schon tausend Jahre sei es her, dass der Letzte der Drachen gesehen wurde hieß es. Delia wich langsam zurück bis sie wieder Felsen im Rücken spürte. Das Feuer umzüngelte den Drachen, welcher offensichtlich im tiefen Schlaf lag.
Plötzlich schrie Delia und sprang wieder vor. Auch der andere Felsen bewegte sich!
Das Mädchen keuchte, es war einer Panik sehr nahe. Vorsichtig sah Delia sich um und durchschritt langsam das Feuer. Voller Angst erkannte sie, dass die Höhle riesengroß war. Das, was sie für Felsen und Korridore gehalten hatte, waren Drachen - lauter Drachen. Und der Wind war ihr Atem.
Der Rauch brannte in ihren Augen und Delia versuchte stolpernd den Ausgang zu erreichen. Irgendwann fiel sie auf die Knie. Als sie sich hoch rappelte und aufsah, erkannte sie, dass sie direkt vor einem riesigen Drachenkopf stand, und genau in diesem Moment öffneten sich langsam die Augen.
„Mutter, Vater, helft mir“, flüsterte Delia und wich zurück. Erneut stolperte sie und fiel auf ihr Hinterteil. Dabei verbrannte sie sich die Hand, als sie zum Abstützen auf einen brennenden Zweig fasste. Mit einem Schmerzenslaut riss sie die Hand hoch und lutschte am verbrannten Handballen.
Der Drache hielt seinen Blick unverwandt auf sie gerichtet.
„Tu mir nichts“, flüsterte Delia, „bitte tu mir nichts.“