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Ein demokratiepolitischer Skandal und eine Vorschau auf das Buch

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Der 4. Mai 2011. Ein frühsommerlicher Himmel spannte sich über Wien, auch über das Parlament mit der im Wind flatternden rotweiß-roten Flagge. Um die Mittagszeit schritten zahlreiche Männer und Frauen zu dessen Eingang, dazwischen auch Personen in religiösen Gewändern, besonders auffallend zwei Priester der koptischorthodoxen Kirche in einem knöchellangen schwarzen Zostikon. Auch sie waren unterwegs zu der um 13 Uhr beginnenden parlamentarischen Enquete, nicht etwa über Kirchen oder Religionen, sondern über Werteerziehung an den staatlichen österreichischen Schulen, insbesondere den Ethikunterricht, mit dem 1997 als Schulversuch begonnen wurde und der aktuell (Schuljahr 2012/13) an 234 Standorten geführt wird.

Im Nationalratssaal begannen sich die Reihen zu füllen: 28 Repräsentanten der 14 staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften, Abgeordnete der Parlamentsparteien und der Landesschulräte, zwölf Bundesräte, Vertreter von Gewerkschaft und Kammern, Familienbünden, Schülerorganisationen. Aufmerksam und kopfnickend registriert wurde der Eintritt des Wiener Kardinals Christoph Schönborn an der Seite von Frau Dr. Christine Mann, die verantwortlich ist für die ReligionslehrerInnen in Wien. Auch die Regierungsbank füllte sich: Unterrichtsministerin Claudia Schmied, neben ihr Karlheinz Töchterle, Wissenschaftsminister, die Impuls- und Koreferenten, sechs Männer und eine Frau.

Dieser Enquete vorausgegangen war eine mehrfache Berichterstattung, allerdings weniger über die an Österreichs Schulen faktisch praktizierte oder wünschenswerte Werteerziehung. Am meisten schrieben die Journalisten darüber, was als ein demokratiepolitisch bedenklicher Skandal in der endlosen Geschichte der (Noch-nicht-)Einführung von Ethikunterricht bewertet werden muss. Am 31. März 2011 konstatierte die „Standard“-Journalistin Lisa Nimmervoll unter der Überschrift „In Gottes Namen Ethik“ einen „Affront“.1 Und zwar gegenüber dem österreichischen Zentralrat der Konfessionsfreien, der – eigenen Angaben zufolge – mehr als zwei Millionen MitbürgerInnen repräsentiert.2 Gerade deren Kinder müssten ein verpflichtendes Alternativfach Ethik besuchen. Aber auf der offiziellen Einladungsliste suchten sie einen Vertreter vergebens. „Alle dürfen mitreden, nur die Betroffenen müssen schweigen“, beschwerte sich, aus verständlichen Gründen, der pensionierte Physikprofessor Heinz Oberhumer, Vorsitzender des Zentralrats der Konfessionsfreien.3 Dafür aber standen bspw. zwei Repräsentanten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) auf der Liste, die im Hohen Hause für 5000 Mitglieder reden durften. Offiziell bereinigt wurde diese eklatante Ungleichbehandlung nicht. Doch der Bildungssprecher der Grünen, Harald Walser, ermöglichte Oberhumer, als ein von seiner Partei nominierter Experte zu sprechen: „Kirchenkritischer Professor darf doch über den Ethikunterricht mitreden.“4 Ein Konfessionsfreier saß in der Nationalratsbank für zwei Millionen Mitbürger, ein Mormone für 2500.

Mittlerweile hatte die Präsidentin des Nationalrats, Barbara Prammer, vor dem fast bis auf den letzten Platz besetzten Nationalratssaal die Enquete eröffnet.5 Als Erste sprach Unterrichtsministerin Claudia Schmied und betonte, einen der größten Ethiker des 20. Jahrhunderts, Albert Schweitzer, zitierend, wie wichtig Ethik sei. Ohne eine solche gerate die Gesellschaft ins Wanken. Auch stellte sie die zentrale – strittige – Frage: „Soll Ethik ein Ersatzfach für den Religionsunterricht werden oder ein eigener Gegenstand, der für alle Schülerinnen und Schüler verbindlich ist, oder ist es ein Querschnittsthema, das in vielen Fächern erarbeitet werden kann?“6 Sodann ergriff Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle das Wort, den im Plenum sitzenden Kardinal eigens als „Exzellenz“ begrüßend, und plädierte für ein „Miteinander von Religions- und Ethikunterricht“, wobei letzterer ein „Ersatz“ sein soll für die religiöse Unterweisung, wenn Schüler diese nicht zu brauchen meinen.

Im Anschluss hatte der Verfasser dieses Buches zehn Minuten Zeit, wesentliche Ergebnisse der offiziellen, ministeriell beauftragten Evaluation des Schulversuches auszubreiten, die anderthalb Jahre in Anspruch nahm. Abgeschlossen wurde sie vor mehr als zehn Jahren mit einem 330 Seiten umfassenden Bericht.7 Dieser gipfelte in der dringenden Empfehlung, Ethikunterricht, weil er sich bewährte und wünschenswerte Effekte zeitigte (bspw. weniger Ausländerfeindlichkeit), ins Regelschulwesen zu überführen. Wie unterschiedlich die folgenden RednerInnen auch argumentierten – Ethikunterricht für jene, die nicht in Religion sind (so mittlerweile auch die ÖVP), oder verpflichtend für alle (Grüne, Aktion kritische Schüler, Arbeiterkammer, Teile der SPÖ) –, ein weitgehender Konsens bestand und wurde von der Grünen Abgeordneten Alev Korun prägnant auf den Punkt gebracht: „Umso mehr kann ich mich den Forderungen der vorangegangenen Redner anschließen, dass 14 Jahre Schulversuch … genug sind und dass der Ethikunterricht endlich in das Regelschulwesen übernommen werden sollte.“8 Mehr als zwei Jahre sind vergangen. Ethik ist noch immer „Schulversuch mit open end“,9 mit 16 Jahren längst aus den Kinderschuhen raus, schon bald aus der Pubertät.

Dieses Buch will eine „Bildungsgeschichte“ erzählen, die in vielem ein Skandal ist, allein deswegen, weil sie schon so lange dauert: die Noch-nicht-Einführung von Ethikunterricht an den österreichischen Schulen.10 Skandalös ist zudem, dass die meisten Gruppierungen, die an diesem Diskurs beteiligt waren und sind, in hehrer Rhetorik die Notwendigkeit ethischer Bildung beschwören – aber faktisch Eigeninteressen verfolgen. Geht es wirklich „nur“‘ um einen zweistündigen Unterrichtsgegenstand? Oder nicht um Grundlegenderes – das Verhältnis von Staat und Kirche? Dies umso mehr, weil Ethikunterricht nahezu ausschließlich in Relation zu Religionsunterricht diskutiert wurde und wird. Skandalös ist auch, dass eine Bundesministerin eine Evaluation in Auftrag gab, vor der Presse längst fällige Absichten kundtat11 – einen verbindlichen Lehrplan erstellen zu lassen, bevor Unterrichtsbücher auf den Markt kommen sollten (die dann doch publiziert wurden, ohne bundesweiten Lehrplan) –, aber hernach alles in die Schublade legte und nicht einmal offene Briefe beantwortete.12 Die Nachfolgerin Claudia Schmied wurde über die Existenz von Ethikunterricht und seine Evaluation nicht offiziell in Kenntnis gesetzt. Am skandalösesten ist, dass die ethische Bildung aller österreichischen SchülerInnen nicht Vorrang hat. Viele Potenziale von Ethikunterricht, die empirisch hinreichend belegt sind, wurden brach liegengelassen. Dafür sah sich eine mitregierende Partei veranlasst, für ihre Funktionäre „Ethikkurse statt Jagden“ einzufordern – so Vizekanzler Michael Spindelegger im Mai 2012.13

Da eine Geschichte zu erzählen ist, fließen biographische Reminiszenzen ein und wird chronologisch verfahren, aber auch eine Gesamtschau des österreichischen Ethikunterrichts versucht.

1.Zu Beginn die Vorgeschichte: wie in den Siebzigerjahren auch auf der „Insel der Seligen“ – so glorifizierte Papst Paul VI. die Alpenrepublik bei einem Besuch von Bundespräsident Jonas im November 1971 – die Forderung nach profanem Ethikunterricht erhoben wurde, und wie die Kirche diesbezüglich in den nächsten Jahrzehnten auf die Bremse trat, worauf der Staat, zu ethischer Bildung verpflichtet, in Untätigkeit verharrte.

2.Erzählt wird sodann, wie LehrerInnen an der Basis aktiv wurden und ab dem Jahre 1997 die ersten Schulversuche lancierten, schwerpunktmäßig im Westen: Vorarlberg und Tirol. Welche Inhalte sehen Lehrpläne vor? Wie erlebten die SchülerInnen das neue Fach, das in den meisten EU-Staaten längst etabliert ist?

3.Die offizielle Evaluation, vorgestellt am 15. November 2001 bei einem Pressefrühstück, gipfelte in der Empfehlung, Ethik ins Regelschulwesen zu überführen. Erstaunlich und nachdenklich stimmend, wie sehr Positionierungen des Unterrichtsministeriums von den Ergebnissen der Evaluation abwichen, die dieses selber in Auftrag gab.

4.Obschon Ministerin Elisabeth Gehrer ausdrücklich weitere Schritte in Aussicht stellte (Lehrplan etc.), geschah vonseiten des Ministeriums nichts, aber viel Engagement an der Basis: kontinuierliche Zunahme der Schulstandorte mit Ethik bei gleichzeitiger Verunsicherung, ob die Versuche nicht doch eingestellt werden.

5.Ein neuer Abschnitt in dieser unendlichen Geschichte begann mit dem offiziellen kirchlichen Placet zu Ethikunterricht als Alternative zu Religion, aber erst, nachdem die neue Unterrichtsministerin Schmied die Rute eines Ethikunterrichts für alle SchülerInnen ins Fenster gestellt hatte, was Religionsunterricht ausdünnen würde. Nach mehrfachen Ankündigungen wurde im Mai 2011 die parlamentarische Enquete durchgeführt, mit dem primären Ziel, die Relation Ethik- und Religionsunterricht zu bestimmen, und nicht grundsätzlich über ethische Bildung am Beginn des 21. Jahrhunderts nachzudenken.

6.Konfessioneller Religionsunterricht gilt als Bestandteil der österreichischen Identität, fast ebenso unantastbar wie Walzer oder Berge. Aber ist er so konfessionell? Oder nicht schon längst ein Religionen- und Ethikunterricht (zumal in der gymnasialen Oberstufe), sodass grundsätzlich zu überlegen wäre, ob die rechtlichen Bestimmungen für dieses Fach nicht anachronistisch geworden sind.

7.Kurz erzählt wird auch, wie im Frühjahr 2013 mehr als 1800 SchülerInnen Ethikunterricht erlebten, wie sie ihn benoteten, was sie in ihm taten und von ihm zu profitieren glauben: Mehr als erwartet!

8.Abgeschlossen wird das Buch mit der Vision eines allgemein verpflichtenden Unterrichtsgegenstandes „Ethik und Religionen“, der idealiter in Kooperation zwischen Religionsgemeinschaften und Staat zu entwickeln wäre – eine gewaltige Herausforderung für Ökumene sowie dafür, ideologische Fixierungen in Richtung einer zukunftstauglichen ethischen Bildung aller jungen ÖsterreicherInnen zu transzendieren, wofür auch eine Neugestaltung des Konkordats in Kauf genommen werden könnte.

Der Ethikunterricht in Österreich

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