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3. »Der Stapellauf«

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Jahrhundertsommer

Die vorhergegangenen Schilderungen sind lange her und mit den großen Zehen von erwachsenen Männern spielt Anna zwar immer noch gern, allerdings nur selten und unter ganz besonderen Umständen.


Herkules segelt seit Jahrzehnten mit seiner eigenen Familie auf selbstgebauten Segelyachten über die Ostsee und besucht die skandinavischen Länder und Inseln im ganzen Ost- und Nordseebereich. Zu seiner Familie gehört besonders Madam, die er auf dem »Kiek ut« kennen und lieben lernte. Sie haben geheiratet und ihre gemeinsamen Söhne sind schon lange erwachsen. Die Jungs haben die Segelleidenschaft ihrer Eltern bereits als kleine Buben übernommen und Sven begleitet seine Eltern, wann immer er Zeit hat auf ihren interessanten Reisen.

Herkules hat sich gleich nach der ersten Begegnung für seine damalige Freundin den respektablen Kosenamen »Madam« ausgesucht. Auch heute charakterisiert »Madam« ihre konsequente Entschlossenheit Problemsituationen zu bewältigen, ihr besonderes Organisationstalent, ihren Beschützerinstinkt und bestimmt somit ihre souveräne Stellung an Bord und im Leben. Madam ist außerdem in der Lage, auch körperlich ihre autarke Position beim Ineinandergreifen der Zahnräder zu unterstreichen. Die Laufgeschwindigkeit des Motors für den Lebensrhythmus und die Festlegung des einzulegenden Ganges unterliegen ihren Anweisungen. Madam ist für die Software eines funktionierenden Getriebes zuständig. Sie übernimmt die Überwachungsfunktion für allgemeine und weitläufige Netzwerke ihrer gesamten Umgebung.

Wer anders, als Madam übernimmt folglich die Organisation der jährlichen Sommertouren und Segeltörns? Sie managt diese Reisen für die Gesamtcrew, Chartergäste und Eigner: Sie bunkert Proviant, beläuft Zollformalien, chartert die Besatzungsmitglieder und ist verantwortlich für die umfangreiche Organisation des Crewwechsels. Jahrelange Erfahrungen helfen ihr dabei, nichts zu vergessen.

Der Skipper Herkules hingegen, kümmert sich mit seinem Sohn Sven um die Hardware, um alle Dinge, die das Schiff und die Route betreffen. Sie besorgen Kartenmaterial, Hafenhandbücher und bereiten das Schiff im Vorfeld auf den Sommer im Norden vor. Sie übernehmen Reparaturen und sorgen dafür, dass die »Brise« in ausgezeichnetem Zustand zu den Sommerabenteuern auslaufen kann.

Die Freundschaft zwischen Herkules und Madam mit Annas Eltern hat sich über mehr als sechs Jahrzehnte erhalten und jedes Jahr, bevor die Segler ihren Sommertörn antreten, besuchen sie tags zuvor das ältere Ehepaar. Sie besprechen mit ihnen die geplanten Segeltouren und verabschieden sich von ihnen für die nächsten Wochen.

So sitzen die Freunde am 4.Juli zusammen beim Kaffeetrinken im Garten und tauschen sich über das kommende Segelabenteuer aus.

Herkules und Madam wollen morgen mit Sven und Marina ihren vierwöchigen Sommerurlaub in Richtung Schwedens Ostküste beginnen. Sie berichten, dass nach vierzehn Tagen ein Crewwechsel erfolgen wird. Sven und Marina können nicht länger als zwei Wochen Urlaub nehmen und sie werden von Max und Krümel abgelöst. Die neue Crew wird sich mit Herkules und Madam auf weitere Segelabenteuer begeben und sie zurück bis in den Heimathafen begleiten. Alles ist bis ins Kleinste vorbereitet und abgesprochen.

Heute aber sitzen die Segler mit Annas Eltern schwatzend unter dem großen Fliederstrauch im Garten und genießen den lauen Sommerabend in der Heimat. Langsam verschwindet die Sonne hinter den angrenzenden Häusern, es ist spät geworden. Der gemütliche Snack hat sich erheblich in die Länge gezogen und Madam drängelt zum Aufbruch. Sie müssen vor dem morgigen Ablegen noch tausend Dinge erledigen, da ihnen die Zeit in den Vorbereitungswochen davongelaufen ist. Somit erhebt sich Madam etwas schwerfällig aus dem bequemen Gartenstuhl und nimmt ihre Tasche unter den Arm, als diese zu klingeln beginnt. Lachend sehen sich die Umstehenden an und Madam kramt umständlich ihr Handy hervor.

»Was ist geschehen? Wann? Wo? Wie ist das möglich?«, Madam wird blass und setzt sich auf die Hollywoodschaukel, »Wie geht es ihm? Können wir helfen?«

Die Umstehenden beobachten Madam ungeduldig, da etwas Schlimmes geschehen sein muss. Nach einigen weiteren Sätzen beendet sie nachdenklich das Gespräch: »Na, um uns macht euch mal keine Gedanken, wir kriegen das schon irgendwie in den Griff! Und wenn wir einen kürzeren Törn machen, dass ist nicht wichtig! Kümmere dich um Max, damit er im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine kommt!«

Herkules fährt sich ungehalten durch die grauen Haare und flucht lauter als gewollt: »Verdammte Scheiße, was ist denn da los?«

Madam lässt sich in die Hollywoodschaukel zurückfallen, stößt sich mit den Füßen vorsichtig ab und antwortet resigniert: »Das war Krümel. Max ist beim Joggen über einen Stein gestolpert und hat sich das Fußgelenk gebrochen. Er wird gerade operiert und für mindestens sechs Wochen nicht laufen können.«

»Schiet!«, bemerkt Herkules und schlägt mit seiner großen, wuchtigen Hand ein wenig unkontrolliert auf den Gartentisch, »heißt das, dass die Beiden nicht mitkommen können und wir für die zweite Urlaubshälfte keine Crew haben?«

»Ja, so ist das!«, bestätigt seine Frau.

Jetzt setzt sich Herkules wieder, beugt sich nach vorn und fährt sich erneut grübelnd durch seine Haarpracht: »Wir bekommen nie im Leben bis morgen neue Mitsegler. Wer kann so kurzfristig Urlaub nehmen und lässt sich dermaßen überhastet auf einen Segeltörn ein?«

In der Runde herrscht stumme Ratlosigkeit.

Da meldet sich Annas Vater zu Wort: »Ich wüsste da jemanden. Die neue Crew hätte ja zwei Wochen Zeit ihre Angelegenheiten zu ordnen, und als Selbstständige können sie eine Reise vielleicht einordnen und möglich machen.«

Vor Enttäuschung und Überraschung reagieren Herkules und Madam nicht. Sie überhören die Worte ihres Freundes und nehmen in Gedanken von ihren vier Wochen Urlaub Abschied. Die Segler versuchen, sich mit vierzehn Tagen Sonne und Meer zufriedenzugeben.

Annas Mutter hingegen überlegt nicht lange und ist auf dem Weg zum Telefon. Als sie mit dem Mobiltelefon zurückkommt, fragt sie aufgeregt in die Runde: »Würdet ihr Anna und Kay auf eure Reise mitnehmen wollen? Sie haben zwar keine große Ahnung vom Segeln, doch es würde ihnen sicher Spaß machen. Auf ihrem kleinen See bewegen sie sich mit ihrer Jolle geschickt und sicher!«

Herkules starrt auf einen kleinen bunten Schmetterling, der sich auf seinen Fuß setzt, und hebt ganz gemächlich seinen gesenkten Kopf: »Klar, warum nicht! Frag, ob sie mitmöchten!« Madam nickt zustimmend.

Schon hat die Mutter gewählt und nach Sekunden ist Anna am Telefon: »Ja, Lehmann!«

Die Mutter überlegt einen kurzen Augenblick und beschließt, mit der Tür ins Haus zu fallen: »Hallo Kindchen, hast du was für deinen Urlaub geplant?«

»Guten Tag, Mutti, was ist das für eine Frage? Ja, wir wollen auf der Müritz segeln, haben aber keine Zeit oder sonst was festgemacht. Das wird sich nach der Auftragslage richten.«

»Was hältst du von einer längeren Segeltour in den schwedischen Ostschären?«

»Mütterchen, hast du irgendwas genommen? Ist alles in Ordnung? Ist was mit Vati?«

Ungeduldig übernimmt der Vater den Telefonhörer und erklärt seiner Tochter kurz und sachlich die Zusammenhänge.

»He, Anna bist du noch da?«, fragt er verwundert, als er seine Schilderungen beendet hat und keine Antworten von der anderen Seite bekommt.

»Ja, ja ich hab dich verstanden, nur kann ich das nicht glauben. ... Ich weiß nicht, was ich denken soll und wann soll es losgehen und wohin? ... Mit Herkules und Madam? ... Und mit der »Brise« ? ... Und wie lange? ...?«

»Ganz ruhig Prinzessin!«, unterbricht der Vater, »Hol erstmal tief Luft und sprich mit Kay darüber, dann ruft ihr in einer Stunde zurück und wir sehen weiter. Ist das O.K.?«

Anna erscheint das Gespräch wie im Nebel, die Schilderungen ihres Vaters verwandeln sich in ein flimmerndes Fabelwesen, welches plötzlich vor ihr steht und sie mit süßen Worten und Versprechungen zu sich in die Ferne lockt. Anna erkennt nicht, ob sie

dieses Traumbild anfassen kann oder ob es bei einer Berührung im Nichts verschwindet. Verdattert legt sie den Hörer auf, ohne ihrem Vater zu antworten.

In diesem Moment betritt Kay das Zimmer und entdeckt seine Freundin völlig verwirrt auf dem Sofa. Sie hat ein Kissen im Arm und knüllt es nervös zusammen, als ob sie nicht weiß, wo sie ihre Arme und Hände lassen soll. Kay stutzt, ist erschrocken über ihren Anblick und erkundigt sich beunruhigt: »Anna ist alles gut? Du hast doch mit deinen Eltern telefoniert, ist bei ihnen was passiert? He, sprich bitte mit mir!«

Die junge Frau sieht ihm starr in die blauen Augen, streicht die eine helle Locke, die ihr immer wieder in die Stirn fällt ungeschickt hinters Ohr und winkt ab: »Meinen Eltern geht es gut! Nur Herkules und Madam nicht. Sie wollen morgen ihre diesjährige Sommertour beginnen und eben gerade ist ihnen durch einen Unfall die Crew ausgefallen.«

»Na, das ist ja wirklich blöd. Sie wollten doch nach Schweden bis hoch nach Stockholm, wenn ich mich richtig erinnere. Können sie jetzt gar nicht lossegeln?», erkundigt sich Kay mitfühlend.

»Die zweite Urlaubshälfte fällt sicherlich ins Wasser!«

Pause.

»Es sei denn, ... wir springen ein!«

Anna schaut ihren Freund herausfordernd an.

Stille!

Er hält ihrem Blick stand und wortlos begeben sie sich zusammen in die vor ihnen stehende, undurchsichtige Nebelwand. Keiner traut sich, das erste Wort zu sagen. Keiner möchte das Fabelwesen berühren, um für einen Augenblick die Möglichkeit der Realisierung festzuhalten. Ihre Gedanken fliegen durcheinander. So eine Tour ist schon seit Jahren ihr großer Traum: Schwedens Ostküste mit dem Segelboot erkunden! Nein, überhaupt auf der Ostsee segeln!

Als Erster versucht Kay aus dem Nebel zu rudern und kämpft um klare Sicht. Er sitzt neben Anna auf der Couch, legt seinen Arm um sie und erklärt: »Das geht nicht. ... Dieses Angebot kommt so plötzlich, so unerwartet, so unangemeldet und du weißt nicht, ob wir den Anforderungen gerecht werden können. ... Wir kennen das Boot nicht! Die Crew soll in Schweden ausgetauscht werden, wie soll das überhaupt bewerkstelligt werden? Wann? ... Wo? ... ?«

»Sag mal, was erzählst du da?«, Anna schiebt ihren Freund aufgebracht zur Seite, »so ein Angebot bekommt man nur e i n m a l im Leben! Einen O s t s e e t ö r n! Das ist einer meiner großen Lebenswünsche und nun wird mir die Erfüllung dieses Traumes vorgeschlagen und du kommst mir mit deinen ewigen Bedenken, tausend Mal WENN und ABER ...!« Sie ist wütend und außer sich.

»Nun reg’ dich nicht auf! Was weißt du denn? ... Wie soll die Tour aussehen? ... Wo soll es hingehen? ... Wie lange sind wir unterwegs? ... Wann geht es los? ... Wo geht es los? ... Welche Voraussetzungen müssen wir erfüllen? ... Wie kriegen wir unsere Termine koordiniert? ... Wer übernimmt in unserer Abwesenheit den Telefondienst in der Firma? ... Was müssen wir mitnehmen? ... Haben wir die nötige Ausrüstung? ... Wir haben für diese Gewässer keinen Segelschein! … Wo hast du eigentlich deine Gummistiefel gelassen?«

Anna steht ruckartig auf, wirft ihrem Gegenüber das Kissen an den Kopf und hält sich zornig die Ohren zu: »Scheiße, verdammte Scheiße! Du machst mir alles kaputt!«

Sie hat Tränen in den Augen, greift zum Telefon und wählt die Nummer ihrer Eltern. Sie kann kaum sprechen und schluchzend meldet sie sich: »Hallo Vati, ich bin es. Danke, dass ihr an uns gedacht habt, aber Kay scheint keine Lust auf so eine Reise zu haben!«

Daraufhin wird der Hals des jungen Mannes immer länger, er spitzt die Ohren und reißt seiner Freundin sehr abrupt den Telefonhörer aus der Hand. Bestürzt schüttelt er den Kopf und schreit protestierend ins Telefon: »So stimmt das nicht! Das habe ich SO nicht gesagt! Natürlich habe ich Lust auf einen Segelurlaub! So eine Segeltour wäre sogar das Allergrößte! Ein Traum!«

Bevor Kay sein ABER und die vielen Bedenken äußern kann, fällt ihm der Vater entschieden ins Wort: »Na, dann ist ja alles in bester Ordnung! Wir erwarten euch morgen gegen Mittag bei uns. Am frühen Nachmittag wollen Madam und Herkules aufbrechen und vorher solltet ihr euch mit ihnen unterhalten. Euer Einsatz beginnt in zwei Wochen. Bis morgen! Ich freue mich auf euch! Grüß meine Prinzessin, Tschüß!«

Kay hört das monotone Tuten des Telefons und sieht den Hörer verdutzt an. Dann legt er ihn auf, immer noch kopfschüttelnd.

Was war denn das? Bleich und fassungslos erklärt er: »Ich glaube es nicht! Das kann nicht sein! Wir fahren morgen Mittag nach Rostock, um mit Herkules und Madam über unser eventuelles Mitsegeln zu reden! Das ist unmöglich!«

Anna trocknet schnell die Tränen und grinst schweigend – ihr Papa ist der Allerbeste!

Am darauf folgenden Tag sitzt das überrumpelte Paar im Auto, fährt zu den Eltern und mit ihnen zusammen am Nachmittag zum Segelclub, um sich dort mit Herkules, Madam, Sven und Marina zu treffen. Nach kurzem Suchen finden sie die Anlegestelle der »Brise«. Madam und Herkules lassen den Seesack und die Verpflegungskiste auf dem Bootssteg stehen und freuen sich sehr, ihre neuen Mitsegler zu begrüßen.

Die Mannschaft bereitet gehetzt das Absegeln vor und hat ihre Vorbereitungen fast abgeschlossen. Beim Eintreffen der Freunde übernimmt Madam sofort das Kommando. Bevor die Neuen richtig Luft holen können, sind alle bedeutenden Absprachen getroffen. Als Erstes und Wichtigstes werden die Handynummern ausgetauscht und sie verabreden, in zwei Wochen die Zeit und den genauen Treffpunkt der Mannschaften über die Handys zu vereinbaren.

Dann übernimmt vorübergehend Sven die Erklärungen und erläutert in Kurzfassung das Gesamtvorhaben: »Euer erster größerer Törn auf einem Seekreuzer soll so aussehen: Ihr fahrt mit eurem Auto von Rostock nach Stockholm. Wir werden uns in den nächsten zwei Wochen mit dem S e g e l b o o t nach Stockholm bewegen. Wir treffen uns bei Stockholm und dort wird der Crewwechsel erfolgen. Wir steigen vom Schiff ab und ihr werdet aufsteigen. Wir werden das Schiff verlassen und mit eurem Auto die Heimreise antreten. Nach dem Mannschaftswechsel segelt ihr auf der »Brise« in nicht bekannte Fernen.

Zwei Wochen Erholung, Freiheit, neue Erfahrungen und Spaß. Zurück schippert ihr über den östlichen Schärengarten bis nach Rostock. Alle konkreten Entscheidungen über den einzuschlagenden Kurs werdet ihr zusammen mit Herkules und Madam »vor Ort« fällen und diese aufgeführten Alternativen sind wetter- als auch zeitabhängig. Außerdem wird eure Seetauglichkeit bei der Entscheidung der Eigner, welche Route sie wählen, eine wichtige, durchgreifende Rolle spielen. Madam träumt vage von einer Reise zu den Ålandinseln, die sie immer schon besuchen wollte. Dafür müsst ihr allerdings erst eure Fähigkeiten beweisen.«

Alles klar?

Ein Trip zu den Ålandinseln, von denen die Segelamateure noch nicht mal wissen, wo sie auf dem Atlas zu finden sind!

»Ah, haaa – zu den Ålandinseln!?«, Kay schüttelt vor Entsetzen energischer, als am Tag zuvor den Kopf. Annas grüne Augen hingegen funkeln bei dem Gedanken an ein Abenteuer voller romantischer Erwartungen.

Herkules und seine Mannschaft sehen dieses Kopfschütteln als eine Geste der Überraschung und Freude und widmen sich weiter dem Bunkern des Proviants und dem Verstauen der restlichen Segelutensilien. Sie haben es eilig.

Nach diesem Gespräch schauen sich alle unsicher an und Anna gibt zu: »Mich interessiert das Wohin im Augenblick nicht so richtig, denn ich habe Vertrauen in die langjährigen Erfahrungen des Skippers und bin bereit, mich auf ein Abenteuer einzulassen, egal wo der Wind uns hin wehen wird.«

Sie schaut bei ihren Worten auf Kays nicht enden wollendes Kopfschütteln und hofft ein wenig zynisch, dass diese Schwankungen, die seit dem gestrigen Tag zu einer Dauerbewegung geworden sind, nicht bleibende Schäden bei ihrem Freund hinterlassen. Ob da was zu retten ist? Sein Kommentar klingt allerdings wenig zuversichtlich: »Prinzessin, wir kennen das Schiff überhaupt nicht, ... haben keine Ahnung von Navigation ... und müssen charakterlich ein wenig zusammenpassen. Wir müssen zwei Wochen auf wenigen Quadratmetern miteinander auskommen. ... Da reicht es nicht, Interesse und Einsatzbereitschaft zu zeigen, dazu gehört Kenntnis der Materie. Vor allem in diesem Segelrevier!! ... Das Schärengebiet ist voller Felsen und Untiefen, wenn du da nicht aufpasst, bist du ganz schnell aufgelaufen. ... Ich glaube, du träumst mit offenen Augen. ...!«

Anna ist genervt: »Ja, völlig richtig! Von so einem Törn träume ich seit beinahe dreißig Jahren. Ich möchte einen ganzen Sommer auf der Ostsee verbringen, da sind zwei Wochen ein guter Anfang, oder?«

Wie so oft nimmt Anna den berechtigten Einspruch ihres Partners nicht ernst und sie hofft, ihn von dieser Tour überzeugen zu können. Sie vertraut darauf, dass die Liebe zur Natur und das Interesse am Segeln auch bei ihm stärker sind, als alle Bedenken. Unter ihren Lieblingsbüchern sind zahllose Geschichten über die Seefahrt. Unzählige Stunden ihrer Freizeit verbringen sie am Strand der Ostsee, in den mecklenburgischen Wäldern, auf dem Schweriner See und alles, was sich in der freien Natur abspielt, erweckt ihre Aufmerksamkeit.

Zu den beinahe unerreichbaren Träumen gehört die Vorstellung, auf einem richtigen Segelboot die Ostsee zu überqueren. Und jetzt ist dieser Traum zum Greifen nah! Kann es einen ernsthaften Grund geben, diesen Traum nicht zu verwirklichen? Außer einem gebrochenen Bein oder einer schweren Krankheit, fallen Anna keine Gründe ein!

Der Vater, der die Reaktionen der Beiden aufmerksam beobachtet, bemerkt die Unsicherheit des Paares und lädt sie zu einem kurzen Ausflug entlang des angrenzenden Spazierweges an der Warnow ein.

Er versucht sie mit einem kleinen Resümee zu dieser Reise zu ermuntern: »Ihr habt schon kurze Touren auf der Ostsee gemacht und ihr wisst, dass das Segeln mit einem Kielboot ganz andere Segelmanöver verlangt, als beim Segeln mit einem Schwertboot. Bedenken zu kentern, braucht ihr bei einem Kielboot nicht zu haben. »Umfallen« kann die »Brise« nicht, nur leckschlagen und versinken. Das sollte aber zu verhindern sein. Ihr habt vierzehn Tage Zeit, euch vorzubereiten. Was soll schief gehen? Ich finde, dass euch ein einmaliges Erlebnis angeboten wird. Ihr solltet diese Gelegenheit für neue Erfahrungen nutzen!«

Kay holt tief Luft, um frei denken zu können, und versucht die Situation sachlich zu betrachten, ohne überschwängliche, begeisterte Emotionen. Sein kritischer Verstand soll objektiv entscheiden und er will diese Beurteilung nicht romantischen und verträumten Fantasien überlassen. Bei diesen differenzierten Betrachtungen verstärken sich seine Zweifelt an der Richtigkeit des Vorhabens und er kann sich zu keiner Zusage durchringen: »Ich finde diese Idee ja prinzipiell toll, doch in meine Freude mischen sich Respekt, Unsicherheit und Verantwortung. Was ist, wenn Herkules als Skipper ausfällt? Mit einem Segelboot auf der großen Ostsee, der fremden Technik an Bord, in einem völlig fremden Segelgebiet und den nicht bekannten Bedingungen.«

Die beharrlichen Bedenken verunsichern auch Anna: »Immerhin ist es möglich, dass wir durch fehlendes Training und ohne notwendige technische Kenntnisse selbst für Havarien sorgen. ... Diese Bauchlandung könnte unter anderem mangelnde Erfahrung mit Navigationsbesteck und Seekarten verursachen sowie ungenügende Beherrschung der Takelage. Was ist, wenn Herkules uns nicht sagen kann, was zu tun ist? ... Wenn wir Entscheidungen treffen müssen?«

Lauter als gewollt mischt sich jetzt die Mutter in die Unterredung und kommentiert ungeduldig und verständnislos die Furcht der Beiden. Sie baut sich vor ihrer Tochter auf und schaut ihr herausfordernd ins Gesicht: »K i n d c h e n, du machst mich wahnsinnig! Wenn du diese Herausforderung nicht annimmst, wirst du dich ein Leben lang fragen, ob du es eventuell geschafft hättest? So zögerlich kenne ich dich nicht! Wenn dein Mann nicht mit möchte, soll er zuhause bleiben! Lass dich nicht runterziehen! Du kommst mir vor wie ein kleines Schulkind, was nicht weiß, ob es den Unfug der Anderen mitmachen darf«, die ältere Dame macht eine kleine Pause und legt abermals los, »Du bist erwachsen und ich finde keinen Grund, warum du die Reise nicht versuchen solltest! Ich garantiere dir, dass wir in den nächsten vierzehn Tagen jemanden finden, der dich begleitet! Dein Freund muss ja nicht mitkommen, aber du solltest trotzdem fahren!«

Erschrocken durchzuckt es Anna bei diesen Worten. Sie stutzt. Was ist mit ihr los? Warum überlegt sie so lange? Plötzlich ist sie sich sicher und verkündet mit fester Stimme: »Ja, ich segle mit! Ich wollte so eine Tour schon immer und wer weiß, ob mir die Gelegenheit noch einmal in meinem Leben geboten wird. I c h krieg’ das hin!«

Kay ist alarmiert und die letzte Farbe ist aus seinem Gesicht entwichen. Er schaut seine Frau von der Seite an, als er ungläubig fragt: »Du würdest tatsächlich ohne mich mitsegeln?«

»Ja, ich habe für mich die Entscheidung getroffen! Ich will dieses Abenteuer auf jeden Fall und unbedingt und sogar egal mit wem!«

Kay fehlen die Worte und er schluckt schwer. Wie kann seine Partnerin eine derart wichtige Entscheidung ohne sein Einverständnis treffen? Er dreht sich um und geht in Richtung Auto. Keiner hält ihn zurück. In seinem Kopf herrscht Chaos. Ihm ist übel, gleich wird er sich übergeben. Und tatsächlich, ein am Weg stehender Papierkorb übernimmt das köstliche Mittagessen. Anna ist sofort an seiner Seite und reicht ihm ein Taschentuch.

»Auch wenn du kotzt segle ich mit, ganz sicher!«, flüstert sie ihm leise ins Ohr. Diese Entschiedenheit gibt ihm den Rest.

Wo ist s e i n e Anna? Kreideweiß stützt er sich auf dem Korb ab und sieht dem blonden Lockenkopf in die Augen. Sie kneift die Lippen fest aufeinander und hebt leicht die Augenbrauen. Nun holt sie tief Luft und lächelt ihn mitleidvoll und entschlossen an. Das ist zu viel. Ein Stich ins Herz. Ihr Mitleid braucht er in diesem Moment nicht.

Kay öffnet seinen Mund, bewegt die Lippen. »Du lässt mir keine Wahl, ich lass dich nicht wochenlang allein auf der Ostsee herumschippern«, hört er seine eigenen Worte und ist sich sicher, sie niemals ausgesprochen zu haben.

»Doch, du hast eine Wahl und musst nicht mitkommen, wirklich nicht! Wenn du nicht von der Richtigkeit überzeugt bist, bleib hier«, versichert Anna energisch, »Ich bin dir nicht böse. Und ich werde ganz, ganz sicher nicht allein auf der Ostsee sein! Nur weil du mich nicht weglassen willst, will ich dich nicht dabei haben! Du musst die Reise schon selbst, und zwar für DICH, wollen!«

Kay wird lauter: »Ich will es ja!!! Für mich ist diese Reise auch ein Traum! ... Verdammt noch mal, das Angebot kommt so überraschend, ... ich kann unser Vorhaben nicht fassen und einordnen. Es gibt so viel zu bedenken. ...«

Entschlossen fällt Anna ihm ins Wort, sie will keine ABER mehr hören: »Na gut, zum Nachdenken hast du zwei Wochen Zeit. Also machen wir es gemeinsam?«

Kay nickt ein wenig zögerlich und zu viel zu leise, als mit seinen Worten überzeugen zu können, bemerkt er: »Ja, wir werden Schweden erobern! Es wird viel Neues auf uns zukommen, ich bin neugierig und ehrlich gesagt, freue mich auf die kommenden Manöver!«

Anna schaut ihn skeptisch an: »Selten haben sich Inhalt und Ausdruck so widersprochen. Euphorische Freude stelle ich mir anders vor!«

»Das kommt, wenn er sich an den Gedanken gewöhnt hat!«, beruhigt der Vater und klopft dem Freund seiner Tochter freundschaftlich auf die Schulter.

Kaum zu glauben, aber in den nächsten Minuten nimmt das Paar das Angebot von Herkules und Madam an. Sie lassen sich auf das Abenteuer ein!

Der Trupp steht am Bootssteg und hilft beim Ablegen der »Brise«. Sie winken den Seglern und wünschen eine gute Reise.

Kay schüttelt verständnislos den Kopf und sieht die Prinzessin fragend an.

Diese lächelt aufmunternd: »Ja, wir müssen uns blind auf die Organisation von Herkules und Madam verlassen. Ja, wir haben in den nächsten vierzehn Tagen viel zu tun! Ja, es wird spannend und ja, ich freue mich!«

Die Beiden haben keine Vorstellung davon, wie lange und wo sie unterwegs sein werden und was sie erwartet.

In den nächsten zwei Wochen träumt Anna tatsächlich - manchmal auch am Tag - von weißen Segeln, wochenlangem Sonnenschein, immer dem richtigen Wind, brauner Haut, kühlem Wasser, Seehunden, Adlern, Elchen, romantischen Sonnenuntergängen, Nordlichtern, kahlen Felsen, langen Spaziergängen am Strand mit anschließendem Lagerfeuer, den hellen Nächten des Nordens, Sturm, Regen und Gewitter, guter Laune und viel, viel Spaß!

Im Fernsehen, aus interessanter Literatur, herrlichen Bildbänden und aus spannenden Erzählungen haben die Segeltouristen viel von den schwedischen Schären gehört:

Also - keine Ahnung!


Prinzessin und Mehr

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