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6. »Leinen los!«

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von Rostock nach Pellemond

Pünktlich um 5.45 Uhr küsst der Chauffeur seinen Passagier wach: »Aufstehen, du Faultier! Das Bad ist frei! Vati hat schon gestern Abend den Frühstückstisch gedeckt.

Sei leise, es schlafen noch alle.«

Verschlafen rollt sich ein tapsiges Etwas aus dem Bett und tastet sich ins Bad. Sie klatscht sich kaltes Wasser ins Gesicht, und versucht zu lächeln. Dabei zieht sie eine verkrampfte Fratze, über die sie tatsächlich lachen muss. Langsam wird Anna wach und der Kaffeeduft aus der Küche sorgt dafür, dass sich die Müdigkeit verflüchtigt. Gut gelaunt frühstückt das Paar und packt danach die Schlafsäcke und die tiefgekühlten Esssachen ins Auto. Anna zappelt den ganzen Morgen aufgedreht herum. Sie nimmt die Wasserflasche vom Tisch und will sie aufschrauben, was ihrer Meinung nach viel zu schwer geht. Beim lauten Fluchen über die blöden Verschlüsse und die instabilen Buddeln, rutscht ihr die Flasche durch die Hände und knallt in einem hohen Bogen auf den Steinfußboden. Das Wasser spritzt in alle Richtungen. Der Zappelphilipp steht wie versteinert daneben, schaut an sich herunter und fummelt eine lockige Haarsträhne, die lustig vor ihrer Nase auf und ab wippt, hinters Ohr. Mit zusammengekniffenen Lippen betrachtet sie die Wasserpfütze, in deren Mitte sie steht.

»AAAnnaaa, Prinzessin, aufwachen! Der Feudel und der Eimer stehen hinter dem Vorhang! A u f w i s c h e n!«

Mit gedämpfter, aber sehr bestimmter Stimme versucht Kay seine Freundin zu entkrampfen. Mechanisch beseitigt diese die angestellte Ferkelei. Auch ihre Sachen sind klitschnass. Kay hat in aller Eile eine trockene Hose aus dem Seesack geangelt und reicht ihr diese zum Umziehen. Er versucht ruhig zu bleiben, da Annas Nervosität für beide reicht. Gerade, als sie sich leise von Ben verabschieden will, steht dieser verschlafen vor ihr und nimmt seine Mama lieb in den Arm: »Eine gute Reise euch beiden und kommt gesund wieder!«

»Danke, und du sei artig und mache keinen Unfug. Wir werden oft an dich denken. Gib Küsschen auf Mutti und schlafe ein wenig weiter!« Anna drückt ihren Liebling fest an sich und ist traurig bei dem Gedanken, ihre Jungs einige Wochen nicht zusehen. Ob es ihnen ähnlich geht?

Vielleicht sollte hier erwähnen werden, dass Annas »kleines« Kind 18 Jahre alt ist, aber zu seinem Leidwesen für seine Mutter immer der ‚Kleine’ bleiben wird. Sie gibt offiziell zu, dass es ihr, trotz seiner Größe von 1,80 Meter, schwerfällt zu akzeptieren, dass er ein selbstständiger erwachsener Mann ist, der zielstrebig seinen eigenen Weg geht. Sie weiß, dass sie loslassen muss und dankt ihm insgeheim dafür, dass er ihre mütterlichen Beschützerattacken mit sehr viel Humor erträgt. Er grinst, als sie sich etwas traurig von ihm verabschiedet. Auch die Männer nehmen sich in den Arm und wünschen sich alles Gute.

Dann steigen die Abenteurer ins Auto und ihre große Reise beginnt. Ohne Stau und Verzögerungen kommen sie im Transithafen Rostock an. Viele große Fährschiffe liegen am Kai und werden beladen. Anna sitzt schmunzelnd auf dem Beifahrersitz. Ohne die Prinzessin anzusehen, fragt Kay: »Na, was gibt es Lustiges zusehen?«

»Ich glaube, dass du das nicht wissen möchtest!«, antwortet sie gelangweilt.

»Doch, doch, denn dieses Grinsen kenne ich nur zu gut!«, bemerkt der Fahrer und schaut sein Mädchen skeptisch von der Seite an.

Sie lacht laut auf und weist auf Folgendes hin: »Na ja, das dort vor uns ist auch Kai! Und wenn ich mir vorstelle, dass diese riesigen Schiffe bei einem nächtlichen Sturm am K a y befestigt sind und wie verrückt an deinen Armen und Beinen zerren und du sie auf keinen Fall loslassen darfst, dann sehe ich dein verkrampftes Gesicht. Na so, wie eben, als dir der kleine Polo die Vorfahrt genommen hat. Stell dir vor, all diese Lastkraftwagen fahren über Kays Bauch, um in die Fähre zu gelangen! Die Motorräder rasen geradewegs über deine Brustwarze und springen dabei einige Meter durch die Luft. Oder in der Nähe deines Bauchnabels ist die Zollstation und ein sicheres Leit- und Navigationssystem installiert. Jedes Fahrzeug muss eine Runde um deinen Bauchnabel drehen. Und ...?«

Mit einem langgezogenen: »Oh, oh, womit habe ich solche Fantasien verdient? Kennt deine Vorstellungskraft Grenzen?«, unterbricht der Beschriebene ihre reizvollen Schilderungen.

»Stimmt! Eigentlich hast du solche Schwärmereien nicht verdient, du bist viel zu sachlich!«, blubbert die Träumerin und damit ist ihre Mitteilungsbereitschaft beendet.

Durch ein übersichtliches Leitsystem geführt, steht das rote Auto um 7.30 Uhr in der Warteschlange zum Abfahrtsterminal der Scandlines. Große Lastkraftwagen, Wohnwagen, Transporter und Personenwagen werden, wie von Geisterhand zu ihren Plätzen in der Fähre geleitet. So gelangt das rote Auto in den Bauch der Fähre, zum Parkplatz.

»Ju huuu! Wir fahren als Glied einer langen, bunten und gefährlichen Schlange vom Kai über eine eiserne Gangway in den riesigen Bauch eines dunklen, engen Ungetüms! Freiwillig! Wir werden vom Scheusal gierig verschlungen und sind ohne Hoffnung, jemals wieder ans Tageslicht zu gelangen«, fliegen die Gedanken der Träumerin froh gelaunt, aber ganz leise durch die Luft.

Die Urlauber merken sich die Nummer der Parkebene auf der sie stehen, steigen angestrengt aus dem Wagen und drängeln sich durch die dicht an dicht stehenden Fahrzeuge an Deck.

Heute ist die Luft kühl und der Himmel bedeckt. Ein trüber Morgen. Trotzdem ist die Fahrt auf der Warnow aus hoher Sicht von der Fähre und die Ausfahrt aus Warnemünde ein tolles Erlebnis. Diese andere Perspektive beeindruckt die Fahrgäste. Die Mole, der Leuchtturm, der Teepott, das Neptunhotel und der neue Yachthafen sehen fremd und ungewohnt aus. Die Prinzessin versucht sich in die Gedankenwelt von Touristen zu versetzten, die aus New York kommen und Warnemünde zum ersten Mal in ihrem Leben besuchen. Dieser Anblick des kleinen Fischerdorfes vom Deck eines riesigen Luxusliners ist mit Sicherheit ein bleibendes Erlebnis.

Die Überfahrt von Deutschland nach Dänemark ist windig, aber ruhig. Um kurz vor elf Uhr kommt die Fähre in Gedser an. Anna und Kay bleiben solange wie möglich an Deck, um den Hafen und das Anlegen der Fähre beobachten zu können.

Dann gehen sie zu ihrem Auto. Besser gesagt, sie WOLLEN zu ihrem Auto gehen. Auf der Fähre gibt es viele gastronomische Einrichtungen, einen umfangreichen Verkaufsshop und mehrere Aufenthaltsgelegenheiten, die sie sich angesehen haben. Bei der Vielzahl der Decks und Aufzüge hat Anna schnell die Orientierung verloren, obwohl sie sich die Bezeichnung ihres Parkdecks genau gemerkt hat. Alle Auf- und Niedergänge sehen gleich aus. Sie hört die Motoren der ausfahrenden Wagen, wird unruhig und schaut sich suchend und kribbelig nach dem richtigen Weg um. Sie müssen so schnell wie möglich zum Auto, sonst blockieren sie die Abfertigung. Kay ist derweilen sehr gelassen, nimmt seine nervöse Frau resolut an die Hand und zieht sie in die entgegengesetzte Richtung: »Komm schon Prinzessin, das unfehlbare Navigationssystem um Kays Bauchnabel bringt dich zum Auto! Wir müssen uns beeilen, denn die Fähre hat angelegt und die ersten Autos verlassen das Schiff.«

Anna grinst, ihr Mann sucht den richtigen Aufzug und nach wenigen Augenblicken sind sie am roten Wagen. So verlassen sie die Fähre und fahren auf dänischem Boden immer geradeaus in Richtung Norden, vorbei an Kopenhagen nach Helsingör. Dort angekommen, um dreizehn Uhr, wartet die Fähre nach Schweden und ohne Stopp wird eingecheckt.

Als das Pärchen an Deck ist, hat die Fähre bereits abgelegt und sie können das Schloss von Helsingör sehen. Majestätisch liegt das gewaltige Bauwerk am Ufer der Hafenausfahrt. Das mächtige Renaissanceschloss Kronborg wurde von William Shakespeare zum Schauplatz seines »Hamlet« erkoren und ist eines der größten Touristenmagneten Dänemarks. Dieser Anblick ist von weiter See beeindruckend!


Nach dreißig Minuten Fährenfahrt landen sie in Schweden, in Helsingborg. Schon von weitem können sie das Wahrzeichen der Stadt, den Backsteinturm Kränan, erkennen. Seit dem 12. Jahrhundert wacht er darüber, dass nur, wer in günstiger Absicht kommt, passieren darf. Anna und Kay werden eingelassen und können ihre Fahrt auf der Europastraße 4 nach Jönkoping fortsetzen.

»Wir müssen jetzt immer am Westufer des großen Seens entlangfahren. Hast du das Ortseingangsschild von Jönkoping gesehen? Dieses Städtchen legt sich um den schmalen Vättern-Südzipfel.«

Kay hört seiner Beifahrerin nicht richtig zu, da er aufmerksam hinter einem langen Holztransporter herfährt: »Hast du jemals solche mächtigen Baumstämme gesehen? Die werden bestimmt zu den hohen Schornsteinen dort hinten in die Streichholzfabrik gebracht.«

Anna, die eine Landkarte von Schweden auf dem Schoß liegen hat, liest und erklärt weiter: »Der Vätternsee ist mit 1900 Quadratkilometern der zweitgrößte See Schwedens. Hier in Jönkoping wurden im Jahre 1848 die Streichhölzer erfunden.«

»Wie wohl aus dem riesigen Baumstamm ein Streichholz wird? Aber Streichhölzer werden sicherlich aus Restholz hergestellt und dazu werden nicht solche tollen, dicken Baumstämme verwendet. Ob es ein Streichholzmuseum gibt?«

Anna schiebt die Karte auf ihrem Schoß zur Seite, überlegt und antwortet sicher: »Keine Ahnung! Ich weiß nur, dass in Streichholzfabriken ganz viele, kleine zerknirschte Männchen angestellt sind, die in aufwendiger Kleinarbeit die Streichhölzer mit der Hand schnitzen, die Spitze in Schwefel tauchen und warten, bis dieser Zündkopf getrocknet ist. Dann legen sie die Stäbchen in die Streichholzschachteln. Das Schwierigste ist, sich dabei nicht zu verzählen und immer die gleiche Anzahl an Hölzern, in eine Schachtel zu legen. Was meinst du, wie viele Streichhölzer können diese Wichtel aus dem Baum vor uns herstellen?«

Diese Frage wird nicht beantwortet. Der Transporter biegt links ab und sie fahren auf der Westseite des Vättern bis nach Karlsborg.

Dort machen sie einen Zwischenstopp und besichtigen die große Garnison, die militärischen Zwecken dient. Bei ihrem Rundgang begegnen ihnen Männer in Uniformen und sie entdecken abseits die alten Kasernen. Prinzessin erklimmt die von einem Wehrgang begleitete Umfassungsmauer, die mit 678 Metern eine der längsten Wehrmauern in Europa ist. Von dort oben kann sie einsehen, dass die weitläufig angelegte Festung sich auf einer in den See ragenden Landspitze befindet. In der südwestlichen Festungsmauer ist die Garnisonskirche integriert, unter der sich ein wehrtechnisches Museum befindet. Am Eingang des Museums ist eine Zeittafel angebracht auf der sie erkennen kann, dass diese Anlage von 1819 bis 1909 erbaut wurde.


Der Fahrer wird ein wenig ungeduldig, als sich seine Begleiterin von den ehrwürdigen Gemäuern kaum trennen will. Sie haben für umfangreiche Besichtigungen keine hundert Jahre Zeit. Kaum hat sich Kay umgedreht, sitzt Anna auf dem Rohr einer großen Kanone, die vor dem Museum steht und bettelt: »Nun mach schon ein Foto, kannst dann immer behaupten, dass du deine Prinzessin vor dem Abschuss gerettet hast!«

Bei der Ausfahrt aus Karlsborg gerät das rote Auto in einen Verkehrsstau und nach einigen Minuten stellen sie fest, dass die Straßenbrücke, bei der der Göta-Kanal den Vättern verlässt, geöffnet ist. So haben sie einen Augenblick Zeit, sich die Durchfahrt der Schiffe auf dem Göta-Kanal anzuschauen. Anna liest in ihrem »Baedeker«: »Der Göta-Kanal verläuft von Stockholm bis zum Ostufer des Värner, dem größten See Schwedens. Und von dort gelangt man an die Westküste von Schweden. Der Kanal hat eine Länge von 190 Kilometern und an den 58 Schleusen wird ein Höhenunterschied von 92 Metern überwunden.«

»Dagegen ist der Störkanal zur Müritz ein kleiner Pups!«

Dann fahren sie weiter auf der Straße Nr. 49, die nach Aussage des Fremdenführers, eine der landschaftlich schönsten Straßen Schwedens ist. Beide Reisende staunen über Felsen und riesige, nicht enden wollende Wälder.

Aus heiterem Himmel stößt die Prinzessin Kay aufgeregt in die Seite und schnauzt ihn an: »Schau da, da ist die weiße Plastiktüte. Wir müssen links abbiegen! Pass doch auf!«

Kay, der sich die Wegskizze vom Vater genau eingeprägt hat, widerspricht: »Hast du bis jetzt geschlafen? Während der gesamten Fahrt sind uns überall am Straßenrand weiße

Plastiktüten begegnet. An fast jeder Abbiegung hängt so´n Ding. Wenn wir dieses Zeichen nicht als Wegmarkierung ausgemacht hätten, würde ich an der Ordnungsliebe und dem Umweltschutzgedanken bei den Schweden erheblich zweifeln.«

Anna stutzt verzagt: »Ja, stimmt. Ich komme mir vor, wie im Märchen von Alibaba und seinen vierzig Räubern. Das vereinbarte Zeichen von Alibabas Feinden ist ein Kreuz auf seiner Tür. Um seine Häscher zu täuschen, zeichnet Alibaba auf alle Türen ein Kreuz. Und genau so haben in Schweden alle Waldeinfahrten eine weiße Einkaufstüte als Erkennungszeichen. Vielleicht wollen die keinen Besuch! Die Einfahrten liegen zum Teil so versteckt im Gebüsch, dass sie ohne diese eigenartigen Wegweiser, kaum auszumachen sind. Wie sollen wir jemals die richtige Abfahrt finden?«

Der Chauffeur ist optimistisch. Nach wenigen Kilometern biegt er links ab und behauptet, die richtige Tüte zur beschriebenen Abfahrt nach Pellemond, dem Sommerdomizil von Herbert und Chris, ihrem Tagesziel, gefunden zu haben.

Anna ist skeptisch: »Ich weiß ja, dass Wegbeschreibungen von Vati genau und präzise sind, aber mit diesem undurchdringlichen Urwald habe ich nicht gerechnet. Es war zwar eine weiße Einkaufstüte an der Kreuzung ohne die wir den klitzekleinen Waldweg in den du eingebogen bist, bestimmt nicht gefunden hätten. Aber diese Einsamkeit? Bist du dir sicher, dass tatsächlich diese Tüte die richtige war? Hier wohnt kein Mensch. Vielleicht ein Elch?«

Kay schweigt, was bedeutet, dass er sich sehr sicher ist, den korrekten Weg gefunden zu haben. Die Fahrt führt einige Kilometer weiter durch Schwedens Wildnis. Keine befestigte Straße, nur ein festgefahrener Waldweg und ganz vereinzelt erkennen sie Zeichen der Zivilisation. Sie fahren durch diesen verlassenen Dschungel und entdecken gelegentlich eine Lichtung auf der ein einsames Häuschen steht. Auf dem Rasen vor diesem Wohnhaus liegen ein Kinderroller und ein Fahrrad im Gras, bestimmt schon seit Tagen oder sogar Wochen. Entgegen dieser scheinbaren Betriebsamkeit, ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Nach weiteren Kilometern herrlicher Verlassenheit ist dieser Weg zu Ende. Macht es Sinn, einen, wenn auch kleinen Weg zu befestigen, der im Nichts endet? Eine Sackgasse ohne Hinweisschild, ohne Vorwarnung und ohne Wendemöglichkeit? Kein »Nur für Anlieger«, kein »Gesperrt«. Wozu hat die Menschheit Straßenhinweisschilder erfunden?

Vor ihnen Büsche, hohes Gras und Gestrüpp. Kay sieht Anna fragend an, diese zuckt ratlos mit den Schultern. Sie steigen aus dem Wagen und versuchen zu Fuß, ein Haus oder einen Menschen ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Die Prinzessin ist trotzdem begeistert über alles, was sie sieht, diese einsame Natur, nur Felsen, Wald und Buschwerk, doch ihr Begleiter droht: »Pass auf, dass dich kein Elch aufs Geweih nimmt oder dich ein Wildschwein auf den nächsten Baum jagt! In dieser Abgeschiedenheit gibt es viele wilde Tiere. Schau hier sind ihre Spuren!«

Anna begibt sich zu der bezeichneten Lichtung und sieht sich den von Wildschweinen zerwühlten Rasen an. »Wieso diese Panik, bist du nicht in der Lage deine alte Frau vor kannibalischen Ebern zu beschützen?«, lautet ihre provozierende Frage.

Kays grienende Erwiderung: »In der Lage wäre ich schon, ich weiß allerdings nicht, ob mir das Wildschwein einen Gefallen täte!«, führt zu einer abrupten Kehrtwendung.

Die Prinzessin ist eingeschnappt und stampft durch das hohe Gras zurück zum Auto. Sie greift zur Wagentür, will diese öffnen und sich hinsetzen. Sie fasst nochmals zu und zieht energischer am Griff. Abgeschlossen! In diesem Moment ist ihre Wut verflogen und sie muss lachen: »Ich glaube du verriegelst deine Habseligkeiten auch, wenn du dich allein auf dem Mond befindest. Hast du davon gehört, dass Wildschweine besonders gern mit roten Autos fahren?«

Der Herr winkt ab, antwortet nicht, da er keine Lust auf solche Diskussionen, sondern kolossalen Hunger hat. Es ist halb sieben, sie sind erschöpft und ein ereignisreicher Tag liegt hinter ihnen. Der Fahrer ist mit seiner Geduld am Ende, greift zum Handy und ruft Herbert und Chris an. Diese lassen sich beschreiben, wo sich die Ausflügler aufhalten. Die ratlose Antwort: »Keine Ahnung! Im Wald! Auf einer Lichtung im Unterholz!«

Chris lacht auf der anderen Seite herzhaft. »Wartet zwei Minuten, wenn ihr die richtige Abfahrt genommen habt, dann finde ich euch!«, antwortet sie hoffnungsvoll.

Und tatsächlich, nach einigen Minuten taucht Chris wie aus dem Nichts zwischen Bäumen und Sträuchern auf, wird jubelnd begrüßt und führt die Verlorenen zu ihrem Sommerhäuschen. Kay stellt sachlich fest, dass sie mehrmals drum herum gelaufen sein müssen. Die Prinzessin glaubt allerdings mehr an einen dichten Zauberwald, so versteckt und idyllisch liegt das Wohngebäude auf einer kleinen Waldlichtung. Sie flüstert ihrem Freund zu: »Die Beiden haben nach deinem Anruf kurz an Aladins Lampe gerieben und sind aus der Versenkung zum Vorschein gekommen! Anders hätten sie uns niemals so schnell finden können. Schau, das Gras ist frisch gemäht und die Fackeln am Weg bis zum Haus sind gerade angezündet worden.«


Der junge Mann schaut sich flüchtig um und bemerkt ebenso leise: »Ja, wir hatten viel Glück, denn in diesem undurchschaubarem Dickicht konntest du dem Überfall der Wildschweine nur entgehen, weil vor uns die Häscher von Alibaba durch den Wald gestreift sind. Im Gegensatz zu uns haben sie die falsche weiße Plastiktüte als Wegweiser erwischt und wütend bei ihrer Suche nach Alibaba alle wilden Tiere vertrieben.«

»Ach, ja? Hast du neben den Wildschweinspuren auch Abdrücke von den Schergen des Kalifen im Dickicht entdeckt?«, lautet die schelmische Gegenfrage.

Chris hat bereits auf die Ankunft der Freunde gewartet und Abendbrot vorbereitet. Nach einer herzlichen Begrüßung und dem schmackhaften Essen machen alle zusammen einen netten Abendspaziergang und schauen sich die herrliche Umgebung des Sees

»Lange Birke« an. Ein steiler, schmaler Waldweg führt vom Haus hinab zum See. Mitten auf dem schmalen Trampelpfad entdecken sie ganze Kolonien von Pilzen.

Chris erzählt stolz: »Seit Wochen beobachte ich aufmerksam diese Pfifferlinge und beschütze ihr Wachstum. Aus diesen Pilzen werde ich ein schmackhaftes Mittagessen bereiten aber erst, wenn die Pilze groß genug sind, um geerntet werden zu können. Ich hoffe, dass niemand meine Pilzzucht entdeckt.«

Anna ist unsicher, ob diese Gegend tatsächlich so abgeschieden ist, dass die Wahrscheinlichkeit fremder Pilzsammler ausgeschlossen werden kann.

Leise flüstert Kay ihr ins Ohr: »Wildschweine fressen aus Verzweiflung sehr gern Pilze. Besonders, wenn ihr Lieblingsgericht, der Mensch, sich nicht in diese Wildnis verirrt!«

Anna stutzt. Zweifelnd schaut sie ihrem Freund in die Augen: »Irgendwie muss bei dir diese friedliche Abgeschiedenheit zoologische Wahnvorstellungen von Wildschweinen hervorrufen. Achte auf das Klopfen des Spechtes oder schau, da ist ein Eichhörnchen und da, die durch das Wasser flitzenden, stummen Fische!« Sie zeigt bei ihren Worten begeistert auf die malerische Umgebung.

Am Ufer des Sees stehen einige für Schweden typische Holzhäuser. Diese Häuschen sind in den meisten Fällen im »Schwedenrot« gestrichen. Hier sind sie in den Farben gelb und hellblau zu sehen. Es sind Wochenendhäuser und heute ist Donnerstag und niemand ist Zuhause. Am Ufer des menschenleeren Sees gibt es überall Zaubereien und Märchen, man muss sie nur sehen und entdecken.

Anna schleicht sich bei einem dieser Häuschen auf die übers Wasser gebaute Terrasse und setzt sich gemütlich auf die bereitgestellte Bank: »Ich stelle mir vor, wie mich der Besitzer einlädt, bei einem Glas Wein den Sonnenuntergang zu beobachten und dem Vogelgezwitscher zu lauschen. Idyllisch!«

Herbert erzählt, dass in diesem Haus Freunde von ihnen wohnen und sich die Vorstellungen sicher bewahrheiten würden, wenn die Eigentümer anwesend wären. Kay hingegen hat einige Meter weiter, im Dickicht unter den Bäumen eine Tränke der Wildschweine entdeckt und ruft Anna, um ihr die umgepflügte Wiese und die Wildschweinspuren zu zeigen. Er stellt sich vor, wie die Wildschweinhorde an der Badestelle zur Tränke kommt und die Borstentiere sich im Schlamm sielen. Große, massige Keiler mit scharfen Hauern und die kleinen, tapsigen Frischlinge wühlen genüsslich im Matsch! Annas Kommentar: »Männerfantasien!«

Auf dem Weg zurück zum Sommerhaus erzählen sie von Annas Eltern und von ihren gemeinsamen Freunden. Müde und aufmerksam lauscht das Paar den Berichten von Herbert und Chris über ihre Erlebnisse in Schweden. Während der Unterhaltung vergeht die Zeit wie im Fluge.

Plötzlich klingelt das Handy von Kay. Es ist Madam und sie erklärt, dass die »Brise« am Freitag gegen sechzehn Uhr in Stockholm – »Djurgården« im Hafen »Navishamn« festmachen wird. Der Freund notiert sich die Angaben genau. Sie sind ein wenig erstaunt über diesen Treffpunkt. Direkt Stockholm? Heimlich hatten sie gehofft, dass sie sich außerhalb Stockholms treffen würden, da sie annahmen, den Hafen dann leichter finden zu können, als in der Großstadt. Auch die eventuell zu erwartende Betriebsamkeit in den Häfen der Hauptstadt Schwedens verunsichert die Neuankömmlinge. Aber solche Gedanken und Bedenken haben bis morgen Zeit.

An diesem schönen Abend sitzen die Freunde zusammen auf der Veranda des Sommerhäuschens und breiten auf dem großen Esstisch Karten von Schweden, Pläne und den »Baedeker« aus. Die Karten werden hin und her gewendet, gelesen und alle versuchen, »Djurgården« zu finden, um zu bestimmen, welches die günstigste Zufahrt nach Stockholm sei. Es herrscht ein wenig Aufregung und Durcheinander, da weder ein ordentlicher Stadtplan von Stockholm, noch sonstige Hinweise auf diesen Ort, zu finden sind. Was ist Djurgården? Ein Stadtteil? Eine Insel? Ein Vorort? In diesem Wirrwarr wird klar, dass bessere Vorbereitung viele Nerven gespart hätte und Anna entscheidet: »Schluss jetzt! Es war ein langer Tag und morgen früh sieht alles weniger problematisch aus, dann finden wir in Ruhe die notwendigen Karten und Anhaltspunkte. Jetzt machen wir uns verrückt!«

Es ist vierundzwanzig Uhr bevor sie schlafen gehen und beschließen, am nächsten, späten Vormittag nach Stockholm aufzubrechen.

Anna übernachtet bequem in einem kleinen Anbau des Hauses, der mit Dusche und Sauna ausgestattet ist und der Chauffeur verbringt die Nacht auf den heruntergeklappten Sitzen des roten Autos. Anna begleitet ihn zu seiner Schlafstätte und verabschiedet sich: »Gute Nacht, mein Schatz und verriegele die Türen gut von innen, denn du weißt ja, dass die Wildschweine rote Autos lieben - besonders mit leckeren Insassen, die sie ja sooo selten in dieser Wildnis finden.«

Prinzessin und Mehr

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