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DIE NATIONALE BÜHNE – HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER SCHWEIZ 1910–1950

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Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz als eine Zeit konstanten Fortschritts und Aufschwungs erlebt. «Als Parameter des Fortschritts galten der Grad der industriellen Durchdringung, der Verkehrserschliessung, des Ausbaus von Bildungsangeboten, das Zurückdrängen des Einflusses der Kirche und der Trend zur Stärkung der Zentren zu Lasten der Peripherie.»5 Als eine Periode grosser Transformationen umfasst die Zeit zwischen 1885 und 1914 beinahe alle Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens. Der Aufschwung neuer Industrien und eine generelle Tendenz zur Massenproduktion als Zeichen der wirtschaftlichen Prosperität vollzogen sich im Gleichschritt mit einem beschleunigten sozialen Wandel. «Eine vermehrte räumliche Mobilität der Menschen führte zu einem bisher nicht gekannten Urbanisierungsschub. Industriell geprägte Städte und Hauptorte verzeichneten ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum.»6 Nicht nur räumlich, sondern auch sozial geriet die bürgerliche Gesellschaft in Bewegung: «Ein Prozess des sozialen Auf- und Abstieges setzt ein. Berufsqualifikationen wie Erwerbs- und Mobilitätschancen werden geschlechtsspezifisch neu verteilt. Neben einer immer noch vorwiegend männlich-ländlich geprägten Industriearbeiterschaft entsteht eine neue städtische Unterschicht mit prekären Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnissen. [...] Auf politischer Ebene versuchen die bürgerlichen Eliten, aus der Schweiz einen zwar kleinen, aber vollwertigen und damit kriegsfähigen Nationalstaat zu machen.»7

Die vielfältigen Veränderungen führten in ihrer rasanten Entwicklung zu einer gewissen Überforderung und Orientierungslosigkeit, die sich an literarischen Werken dieser Zeit nachvollziehen lassen.8 Die Unübersichtlichkeit der Zeit mag einer der Gründe dafür sein, dass der Beginn des Ersten Weltkriegs die Bevölkerung nicht nur beängstigte, sondern zugleich eine unglaubliche und aufregende Veränderung bedeutete. Er wurde auch in der neutralen Schweiz von vielen begeistert als Beginn einer neuen Zeit und Erlösung aus dem Unbedeutenden empfunden.9 Am 3. August 1914 erteilte die ausserordentliche Bundesversammlung dem Bundesrat weit reichende Vollmachten, dies ebenfalls in einer Haltung von peinlich euphorischem Heroismus.10 Das tödliche Gesicht des Kriegs zeigte sich erst im Verlauf des ersten Kriegswinters und in den folgenden Jahren, welche zu einem Europa in Trümmern führten.

Die Kluft, die sich zwischen Deutschen und Franzosen während des Kriegs verstärkte, wirkte sich auch in der mehrsprachigen Schweiz spürbar aus. Die in der deutschsprachigen Schweiz vorherrschenden Sympathien für das Kaiserreich und die Sorgen der französischen Schweiz um die Stellung Frankreichs bedeuteten für den noch relativ jungen Bundesstaat eine Zerreissprobe. Die Wahl des geistig ganz auf der Seite Deutschlands stehenden Generals Ulrich Wille verschärfte diese Situation.11

Mit der Massenmobilisierung der Männer zu Beginn des Ersten Weltkriegs stieg auch in der Schweiz die wirtschaftliche Bedeutung der Frauen. «Sie wussten sich in ihrer angestammten Domäne durch gezieltes Sparen und Einteilen an die veränderte Marktlage anzupassen, die gezeichnet war durch Mangel an grundlegenden Importwaren, angefangen von Lebensmitteln über Textilien bis hin zur Kohle, sowie durch extreme Verteuerung auch der inländischen Agrarerzeugnisse.»12 Die wirtschaftlich prekäre Situation wirkte sich durch den Lohnausfall der Militärdienst leistenden Männer vor allem für städtische Arbeiterfamilien katastrophal aus. Die Soldaten der schweizerischen Milizarmee leisteten 1914 bis 1918 durchschnittlich 500 Diensttage. Es gab aber weder Verdienstausfallentschädigungen noch verbindliche Hilfen für allein gelassene Familien.13 Da der Bund keine Vorkehrungen getroffen hatte, um die sozialen Folgen des Kriegs aufzufangen, übernahmen Frauen der verschiedensten Vereinigungen die fehlenden Infrastrukturaufgaben.14 Das allgemeine Lob für diesen Einsatz bestärkte die Frauen in ihrer öffentlichen Arbeit und ermutigte sie in ihrer Forderung, den Schweizer Männern auch in ihren politischen Rechten gleichgestellt zu werden.

Durch den anhaltenden Krieg und die gestoppte Einfuhr von Rohstoffen und Nahrungsmitteln erfolgte eine starke Teuerung sowie eine Lebensmittelknappheit, die im Winter 1917/18 zu dramatischen Zuständen führte und vor allem in den Städten die Arbeiterschaft radikalisierte.15 Der vom Oltener Komitee und von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik im November 1918 wurde mit massivem Militäreinsatz niedergeschlagen.16 Die meisten Todesopfer forderte in der vom Krieg nur wirtschaftlich betroffenen Schweiz die so genannte Spanische Grippe, die vom Sommer 1918 bis im Winter 1918/19 etwa 20 000 Menschen, die meisten zwischen 20- und 40-jährig, dahingerafft hatte.17

Nach dem niedergeschlagenen Generalstreik wurden die Forderungen für eine sofortige Neuwahl des Nationalrats auf der Grundlage des Proporzes, für die Einführung des Frauenstimmrechts, einer Alters- und Hinterlassenenfürsorge sowie der 48-Stunden-Woche auf Eis gelegt. 1919 konnte – dank einer Revision des Arbeitsgesetzes – lediglich die Herabsetzung der maximalen Arbeitszeit in Industriebetrieben auf 48 Stunden pro Woche durchgesetzt werden.18

Der Zusammenbruch des europäischen Machtgefüges und die erschütternden. Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hatten eine grundlegende Desillusionierung zur Folge, von der auch die Schweiz nicht verschont blieb. Damit einher gingen «Nationalismus und Angst vor Fremden, tief greifende soziale Gegensätze, Furcht und Hass des Bürgertums angesichts einer sich radikalisierenden Arbeiterbewegung, dazu ein aggressiver werdender Antisemitismus, der die Juden für sämtliche Übel der Gesellschaft verantwortlich machte».19

Während die Frauen in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg das Stimmrecht erhielten, wurden sie in der Schweiz nach ihrem Einsatz in der Öffentlichkeit zurück an den Herd geschickt.20 Die verschiedenen Vorstösse zum politischen Stimm- und Wahlrecht der Frauen wurden während über 50 Jahren regelmässig abgelehnt.21 Zwar anerkannte man die Berufstätigkeit unverheirateter Frauen, Ausdruck dafür war die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) 1928.22 Gleichzeitig fand aber ein Rückzug der Frauen der Oberschicht in die private Häuslichkeit statt. Ihr Verhältnis zur Frauenöffentlichkeit blieb in der Regel eher distanziert.23

Die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre wirkte sich – wenn auch weniger als im Ausland – so doch spürbar aus. Am stärksten machte sich der Verlust von Arbeit und Einkommen der breiten Bevölkerungsschichten bemerkbar: Hohe Arbeitslosigkeit und Lohneinbussen von bis zu 10 Prozent kennzeichneten den Arbeitsmarkt der 1930er-Jahre in der Schweiz.24 Dabei waren bei den Lohnabbau-Plänen vor allem Ledige und Frauen betroffen.25

Die Frontstellung zwischen Bürgerblock und Sozialdemokratie, die das politische Klima der Schweiz in der Nachkriegszeit prägte, baute sich erst unter dem Eindruck der faschistischen Bedrohung etwas ab. Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen faschistischen Bewegungen, auch Frontistenbewegung genannt, die einen Anschluss an den deutschen Nationalsozialismus forderten, erfassten Anfang der 1930er-Jahre – dank der Weltwirtschaftskrise – selbst traditionelle Parteien und die Elite des politischen Systems.26 Dies bedeutete für Bürgerliche und Linke der verschiedensten Richtungen eine Bedrohung. Als Abwehr der faschistischen Strömungen und oft in Übereinstimmung mit einem konservativen Kultur- und Gesellschaftsverständnis entstand um 1932 die «Kultur der Geistigen Landesverteidigung».27 Die 1938 entworfene Kulturbotschaft des katholisch-konservativen Bundesrats Philipp Etter vermochte praktisch alle politischen Lager unter der Idee der «Geistigen Landesverteidigung» zu vereinen.28 So unklar der Begriff auch definiert war, so einig war man sich, dass dank dieser Bewegung die Schweiz in ihrer Eigenart erhalten und beschützt werden sollte.29 Ausdruck dieser Bewegung ist die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache. Die Schweizerische Landesausstellung, die ganz im Sinn der «Geistigen Landesverteidigung» stand, fiel mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 zusammen.

Lange nicht alle der hier erwähnten strukturellen Bewegungen werden in den Quellen direkt genannt. Jedoch waren sie den Geschwistern bekannt, oft wirkten sie sich bis in ihren Alltag aus.

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