Читать книгу Lingua Mathematica - Armin Schneider - Страница 10
ОглавлениеForschung bis zum Äußersten
Für Tschaikowski, Pardon, Herrn Petkov, war es alles andere als der erholsame Sonntag geworden, den er eigentlich mit seiner Familie geplant hatte. Der Forschungsleiter der Plattform hatte schon am Samstag früh vor dem Frühstück alle Physiker und Ingenieure zu einer außerordentlichen Sitzung wegen der außergewöhnlichen Ereignisse, die die Sensoren auf allen Ebenen angezeigt hatten, einberufen. In der Nacht von Freitag auf Samstag hatten die elektrischen, magnetischen, photovoltaischen, mikroskopischen und makroskopischen Indikatoren verrückt gespielt. Ein großer Energiestrom war aus einer noch unbekannten Quelle mit noch unbekannter Beschaffenheit in die Umgebung der schwimmenden Forschungsplattform eingedrungen. In dem überfüllten Konferenzraum, in dem am frühen Morgen die führenden Wissenschaftler und genialsten Köpfe ihres Fachs übermüdet vor ihren Kaffee- und Teetassen saßen, teilweise noch im Morgenmantel und unrasiert, verbreitete sich ein gedämpftes Gemurmel, als die Kollegen in leisen Stimmen erste Theorien formulierten und sich miteinander austauschten. Sie nannten es alle nur »Das Event«. Es wurde spekuliert, theoretisiert, postuliert, widerlegt und wieder verworfen. Nur in einem Punkt waren sich alle einig. Ein großes Ereignis hatte stattgefunden, und wenn es jemandem gelänge, hinter das Phänomen des Events zu kommen, würde bestimmt ein Nobelpreis winken.
Nachdem jede Arbeitsgruppe kurz den anderen dargelegt hatte, wie man sich mit welchen Experimenten und Computermodellen der Aufklärung des Events nähern wolle, zogen sich die Teams zurück, um mit ihren geplanten Arbeiten zu beginnen. Karl Lundqvist und Pjotr Petkov begaben sich sofort in ihr Labor auf Ebene drei.
Die beiden nahmen sich als Erstes die Aufzeichnungen der Nacht vor, die jeder von ihnen in einem dicken Dossier ausgehändigt bekommen hatten. Sie luden sich zudem die digitale Version aus dem Rechenzentrum herunter und fütterten die Messdaten in ihren lokalen Computer. Ihre Software war darauf ausgelegt, Muster und Auffälligkeiten zu entdecken. Auf den ersten Blick bestand der Energiestrom allerdings aus einem kontinuierlichen Fluss mit verschieden stark ausgeprägten Amplituden. Nach einigen Versuchen konnten sie jedoch ermitteln, dass es sich um fünf verschiedene Ströme handelte, die ineinander verschlungen waren. Jeder Strang war, soweit sie das erkennen konnten, identisch. Also isolierten sie das Signal eines einzigen Strangs und ließen ihre Software erneut darüber laufen. Als sie einige Rauschfilter anwendeten und die maximalen Ausschläge der darin enthaltenen elektrischen und magnetischen Felder normierten, spuckte ihr Bildschirm eine endlose Zahlenkolonne aus:
3 1 4 1 5 9 2 6 5 3 5 8 9 7 9 3 2 3 8 4 6 2 6 4 3 3 8 3 2 7 9 5 0 2 8 8 4 1 9 7 1 6 9 3 9 9 3 7 5 1 0 5 8 2 0 9 7 4 9 4 4 5 9 2 3 0 7 8 1 6 4 0 6 2 8 6 2 0 8 9 9 8 6 2 8 0 3 4 8 2 5 3 4 2 1 1 7 0 6 7 9 8 2 1 4 8 0 8 6 5 1 3 2 8 2 3 0 6 6 4 7 0 9 3 8 4 4 6 0 9 5 5 0 5 8 2 2 3 1 7 2 5 3 5 9 4 0 8 1 2 8 4 8 1 1 1 7 4 5 0 2 8 4 1 0 2 7 0 1 9 3 8 5 2 1 1 0 5 5 5 9 6 4 4 6 2 2 9 4 8 9 5 4 9 3 0 3 8 1 9 6 4 4 2 8 8 1 0 9 7 5 6 6 5 9 3 3 4 4 6 1 2 8 4 7 5 6 4 8 2 3 3 7 8 6 7 8 3 1 6 5 2 7 1 2 0 1 9 0 9 1 4 5 6 4 8 5 6 6 9 2 3 4 6 0 3 4 8 6 1 0 4 5 4 3 2 6 6 4 8 2 1 3 3 9 3 6 0 7 2 6 0 2 4 9 1 4 1 2 7 3 7 2 4 5 8 7 0 0 6 6 0 6 3 1 5 5 8 8 1 7 4 8 8 1 5 2 0 9 2 0 9 6 2 8 2 9 2 5 4 0 9 1 7 1 5 3 6 4 3 6 7 8 9 2 5 9 0 3 6 0 0 1 1 3 3 0 5 3 0 5 4 8 8 2 0 4 6 6 5 2 1 3 8 4 1 4 6 9 5 1 9 4 1 5 1 1 6 0 9 4 3 3 0 5
Jede Zahl stellte den maximalen Ausschlag der elektromagnetischen Schwingungen auf einer Skala von 0 bis 9 dar.
»Kannst Du irgendetwas erkennen?« fragte Pjotr Karl?
»Nein. Das sind wohl alles zufällige Ausschläge. Lass uns mal das KI-Programm darüber laufen lassen.«
Auch mit KI – künstlicher Intelligenz – waren die Wissenschaftler auf der Forschungsplattform ausgestattet. Das System war der Liebling von Karl, der sich begeistert in die Materie eingearbeitet und der IT-Abteilung einige Wochen lang mehr oder weniger auf dem Schoß gesessen hatte. Karl gab die notwendigen Parameter ein und drückte abschließend die Enter-Taste. Dann reckte er sich.
»So, Tschaikowski, das wird jetzt eine Weile laufen. Wollen wir uns einen kleinen Imbiss holen? Es ist ja schon gleich Viertel vor Zwölf.«
»Oh ja, ich hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist.«
----- ∀∃∮∞∡∛⊗ -----
Am Nachmittag traf man sich wieder im großen Konferenzraum. Einige Arbeitsgruppen hatten zumindest interessante Ansätze zu berichten. Andere stocherten noch komplett im Nebel. Herrn Petkovs und Karls Isolation der fünf identischen Energiestränge fand allgemein Beachtung und Anerkennung. Derweil war das KI-Programm noch lange nicht durchgelaufen, sodass die beiden keine weiteren Ergebnisse vorweisen konnten.
Die Arbeitsgruppe rund um Professor Dr. Stolz, die sich mit dem Nachweis von kleinsten Elementarteilchen befasste und der die Bosonenfalle auf Ebene V zugeteilt war, stellte als nächstes ihren analytischen Fortschritt vor. Professor Dr. Stolz, ein kleiner untersetzter Mann mit wenigen Haaren und einer dicken Hornbrille auf der Nase, erhob sich und begann, in seiner ihm typischen staatstragenden Art zu referieren:
»Werte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie alle wissen, hat die Physik in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte beim Nachweis von immer kleineren und immer bemerkenswerteren Elementarteilchen gemacht. Dabei hat sich unser Verständnis von Raum und Zeit immer mehr geschärft und verändert. Je tiefer wir Gott in sein Geschäft blicken können – verzeihen Sie bitte diesen spirituellen Einschub – desto mehr erkennen wir, dass die Welt in ihren kleinsten Strukturen vollkommen anders geartet ist, als wir es bisher mit unseren fünf Sinnen quasi aus der Vogelperspektive heraus für möglich gehalten hatten. Als Newton damals der Apfel auf den Kopf fiel, dachten die Wissenschaftler noch, dass sich Materie im Großen wie im Kleinen immer gleich verhält, doch die moderne Physik, allen voran die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, hat unser Weltbild komplett auf den Kopf gestellt. Wir mussten erkennen, dass im Kleinen die Grenzen zwischen Teilchen und Wellen verschwimmen. So ist das Elektron z.B. nicht nur ein Teilchen, sondern auch eine Welle; und das Photon, das Lichtquant, verhält sich bisweilen wie ein Teilchen, obwohl wir Licht gemeinhin als elektromagnetische Welle wahrnehmen.«
Professor Dr. Stolz deutete mit einer ausschweifenden Geste nach vorn zur Leinwand.
»Als in der Nacht von Freitag auf Samstag um genau 22:03 und 14 Sekunden das Event eintrat, registrierten wir ein völlig neues energetisches Spektrum in unserer Bosonenfalle. Jansen, bitte die Messergebnisse.«
Jansen, ein Mitarbeiter aus Dr. Stolz‘ Team, verdunkelte den Raum und projizierte mittels des Konferenzraum-Beamers von seinem Laptop eine Energieverteilung an die Leinwand hinter Professor Dr. Stolz.
»Wie sie sehen können, weichen die Charakteristika von allen bisher bekannten Elementarteilchen ab. Hier sehen Sie z.B. Photonen aus einer Sonneneruption.«
Jansen drückte auf eine Taste an seinem Laptop, und die Energieverteilung der Photonen überlagerte die bisherige Grafik in Rot.
»Hier sehen Sie W- und Z-Bosonen beim radioaktiven Beta-Zerfall. Und hier die Charakteristika des Higgs-Bosons.«
Wieder drückte Jansen eine Taste, und eine neue Kurve erschien in Blau. Danach eine in Grün. Dann eine in Violett.
Professor Dr. Stolz neigte sich vor, blickte vielsagend in die Runde und stütze sich dabei auf die Rückenlehne seines vor ihm stehenden Stuhls.
»Meine werten Kolleginnen und Kollegen, es ist zwar noch sehr früh für eine derartige Postulation, aber es deutet alles nach unserem aktuellen Erkenntnisstand darauf hin, dass der Energiestrom im Kern ein Teilchenstrom aus völlig neuartigen Elementarteilchen war. Als Arbeitstitel gaben wir diesen hypothetischen Teilchen zunächst den Namen Pi-Teilchen. Damit tragen wir der Tatsache Rechnung, dass das Event drei Minuten und 14 Sekunden nach 22 Uhr eingetreten ist.«
Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er fortfuhr: »Nun muss ich Ihnen nicht erst die Bedeutung der Entdeckung eines weiteren Elementarteilchens jenseits des Gott-Teilchens[Fußnote 4] darlegen, meine Damen und Herren. Sie enthält sicherlich das Potential, unser Weltbild noch einmal drastisch zu erweitern, wenn wir mehr über seine Beschaffenheit und seine Ursache verstehen lernen. Vielleicht ist dies ja sogar der Schlüssel zur Weltformel, nach der überall in allen Laboren geforscht wird.«
Nachdem sich Professor Dr. Stolz selbstzufrieden über seinen Vortrag gesetzt hatte, herrschte noch einige Augenblicke lang Schweigen im Saal, während seine Worte in den Köpfen seiner Kolleginnen und Kollegen nachwirkten. Dann brach erregtes Gemurmel aus, das lauter und lauter aufbrandete. Zwischenrufe und Fragen wurden vernehmbar. Es wurde nach der Quelle des Events gefragt. Es wurde gemunkelt und theoretisiert.
Schließlich stand der Forschungsleiter der Plattform auf und hob beschwichtigend die Hände, bis allmählich wieder Ruhe einkehrte und alle wieder ihre Plätze eingenommen hatten.
»Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für Ihre sehr aufschlussreichen Beiträge. Über die Bedeutung des Events, denke ich, herrscht Einigkeit. Wir treffen uns am Mittwoch wieder hier um Punkt Drei. Oder sollte ich lieber sagen, um Punkt Drei und 14 Minuten?«
Allgemeines Lächeln.
»Ich wünsche Ihnen für Ihre weiteren Bemühungen viel Erfolg. Denken Sie daran: Ich erwarte Forschung bis zum Äußersten!«
Damit war die Sitzung geschlossen.
----- ∀∃∮∞∡∛⊗ -----
»Wie wollen wir jetzt weitermachen, Tschaikowski?« fragte Karl, als er und Pjotr Petkov wieder ihr Labor betraten.
»Nun, ich denke, wir schauen erstmal nach unserem KI-Programm.«
Sie prüften den Status und das bisherige Verlaufsprotokoll am Computer. Daran konnten sie erkennen, dass das Programm gerade eine Reihe von Standardtests über die Messwerte laufen ließ.
»Das wird noch eine ganze Weile laufen, denke ich«, mutmaßte Karl.
»Dann lass‘ uns nochmal zusammenfassen, was wir alles wissen: In der Nacht von Freitag auf Samstag, genau um 22:03:14 Uhr, registrieren alle unsere Sensoren einen gewaltigen Energiestrom, der aus fünf identischen miteinander verwobenen Teilströmen besteht. Höchstwahrscheinlich bilden noch unbekannte Elementarteilchen diese Energieströme. Und das war’s bisher.«
»Das ist noch nicht sehr viel«, meinte Karl.
»Ja, aber ich denke, da ist noch so viel mehr«, entgegnete Pjotr Petkov verschmitzt. Dabei zwinkerten seine Augen vergnügt und voller Tatendrang hinter seiner kleinen goldenen Brille.