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Gelbes Absperrband

Juri und Maria waren erst zum Rathaus geradelt, um die öffentlichen Bekanntmachungen nach irgendeinem Hinweis auf die Vorkommnisse in der Grotte zu studieren. Danach hatten sie in Juris Zimmer stundenlang vergeblich im Internet verbracht. Es war weder eine Information über Sprengarbeiten zu finden gewesen, noch konnten sie einen Hinweis auf die Bedeutung des verschlungenen Haufens von Polyedern finden. Das Foto, das Juri mit seinem Handy gemacht hatte, deckte sich mit keiner anderen Figur. Sie hatten zwar ein paar Seiten über sogenannte Knotentheorie gefunden, die Maria gern ein bisschen länger studiert hätte, aber Juri fand die Inhalte zu abstrakt und langweilig, sodass Maria beschlossen hatte, die Internetadressen irgendwann allein aufzusuchen. Sie könnte ja in die Schulbibliothek gehen, wo sie ungestört wäre und den dortigen Computer benutzen könnte.

Nun brannten ihre Augen, und sie hatte Kopfschmerzen vom angestrengten Lesen und Nachdenken. Zwischendurch war Frau Petkov hereingekommen und hatte eine entsprechende Bemerkung über die schlechte Luft im Zimmer und das schöne Wetter draußen gemacht. Doch die Kinder waren viel zu vertieft gewesen, um ihr größere Beachtung zu schenken.

Schließlich schickten sie noch Juris Vater eine Mail, in der sie möglichst vage nach Information fragten, damit sie sich nicht gleich erklären müssten. Die Kinder hatten beschlossen, erst mehr in Erfahrung zu bringen, bevor sie sich einem Erwachsenen näher anvertrauen wollten. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Herr Petkov zurückgeschrieben hatte, auch mit negativem Ergebnis. Er hatte aber sehr zur Erleichterung der Kinder nicht nachgebohrt, warum sie die Information brauchten. Juri meinte, er hätte sicher viel mit seiner Forschung zu tun und wäre nur halb bei der Sache gewesen.

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Die Sonne war mittlerweile untergegangen. Juri und Maria hockten auf seinem Balkon und blickten nachdenklich in die Sterne. Maria dachte dabei an ihre Vision von den Planeten, Sternen und Galaxien. Sie hatte immer gewusst, dass noch so viel mehr da draußen war. Es überkam sie wieder diese tiefe Erregung und ein leuchtendes Glücksgefühl. Sie konnte die Augen schließen und erneut die kosmische Melodie hören. Als sie die Augen wieder aufschlug, war ihr, als könne sie einen Moment lang die goldenen Leuchtspuren der Sterne sehen und die sich verändernden Zahlen und Formeln daneben erkennen. Sie zwinkerte ein paarmal, und die Erscheinung verblasste. Sicherlich projizierte ihr Gehirn die Vision auf den echten Sternenhimmel. Schließlich fasste sie sich ein Herz und erzählte Juri mit vorsichtig gewählten Worten nun doch von ihrem Erlebnis in der Grotte, als sie die Gravur berührt hatte:

»Juri, erinnerst du dich, was ich dich fragte, als wir in der Grotte waren?«

»Ja, du wolltest wissen, wie lange du dort vor dem Einsturz gestanden bist und wie spät es war. Warum?«

»Für mich hatte es irgendwie alles viel länger gedauert.«

Dann kamen ihr die Worte viel einfacher und flüssiger. Sie beschrieb ihr Erlebnis in allen Einzelheiten und erzählte auch von der kosmischen Melodie und den Gefühlen, die sie in ihr ausgelöst hatten. Nachdem sie geendet hatte, herrschte ein paar Minuten lang Schweigen. Die Kinder blickten einhellig über die Ostsee, die im Licht der Sterne funkelte.

»Voll abgefahren!« war schließlich Juris Kommentar.

Wieder herrschte eine Weile Schweigen, jedes der Kinder in seine eigenen Gedanken versunken.

Juri: »Hast du eine Idee, was die Vision bedeuten könnte?«

»Es war genauso, wie ich es mir immer erhofft hatte: dass alles bestimmten Regeln folgt und einen Zusammenhang hat, einen Sinn ergibt.«, flüsterte Maria schließlich. »Glaubst du, ich bin verrückt?«

»Nicht verrückter, als ich dich ohnehin schon gehalten hatte.«

»Hey!« Maria spielte die Entrüstete und boxte Juri in die Seite. Dann grinste sie Juri mit einem verlegenen Lächeln an. »Danke.« Sie gab Juri einen schnellen Kuss auf die Wange, der prompt merkte, dass er wieder einmal knallrot anlief. Glücklicherweise konnte Maria das in der Dunkelheit nicht sehen.

Mit einem Kloß im Hals fragte er: »Was machen wir denn jetzt?«

Maria gähnte. »Es ist schon spät. Ich muss nach Hause. Vielleicht fällt uns morgen etwas ein. Ich weiß jedenfalls nicht, ob ich bei all der Aufregung heute schlafen kann. Todmüde bin ich auf jeden Fall, aber meine Gedanken hören nicht auf zu kreisen.«

Der kurze Trip mit dem Fahrrad nach Hause in der abgekühlten Sommerluft tat Maria gut. Entgegen Ihrer Erwartung war sie dann doch gleich eingeschlafen, sobald ihr Körper die Horizontale in ihrem Bett erreicht hatte.

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Das Zunfthaus von Hyvelstörp war ein ehrwürdiger Bau aus weißem Marmor, der einem griechischen Tempel nachempfunden worden war. Von einem kleinen, runden Vorplatz führten ein paar Stufen zu einem großen, geschnitzten Holz-Portal, das zwischen vier korinthischen Säulen eingelassen war, die das Giebeldreieck mit seinen Reliefs mit allerlei Figuren aus diversen Handelsszenen trugen. In der Mitte des Giebeldreiecks prangte eine große Uhr. Heute beherbergte das Zunfthaus das Heimatmuseum von Hyvelstörp, in dem es Exponate zur Vor- und Frühgeschichte des Ortes zu sehen gab.

Der kleine Vorplatz vor dem Zunfthaus bestand aus einer Rasenfläche, die von einer kniehohen Buchsbaumhecke eingefasst war. In der Mitte des Runds stand auf einem Steinsockel die Statue des Geometers. Der Geometer war eine zweieinhalb Meter hohe, mit einer grünen Patina überzogene Bronze-Statue eines Gelehrten in einem würdigen Talar. In seiner ausgestreckten linken Hand hielt er die Werkzeuge seiner Zunft: Zirkel und Lineal. Seine Rechte stützte sich auf einen zusammengeklappten Theodoliten, den dreibeinigen Winkelmesser, ohne den keine Vermessung denkbar ist. Zu Füßen des Geometers lag ein aufgeklapptes Buch, ebenfalls aus Bronze, in das er seine kartographischen Vermessungsdaten eintragen konnte.

Drei Straßen stießen genau von Norden, Süden und Westen auf den kleinen Platz und liefen in einem halben Kreis um das Rund herum. Auf der vierten Seite im Osten stand das Zunfthaus.

Es war fast schon Mitternacht. Das volle Mondlicht verwandelte den menschenleeren Platz in einen unwirklich kalten Ort mit scharf geschnittenen Schatten. Eine schwarze Katze kam durch die beschaulichen Vorgärten aus Richtung des Marktplatzes, schlich um einen Rosenbusch und zwängte sich unter einem Gartenzaun hindurch. Sie überwand lautlos die paar Schritte über die Straße zur Buchsbaumhecke. Im Schatten des Mondlichts kauerte sie sich dicht neben der Hecke auf ihre Hinterpfoten und blickte mehrere Minuten lang aufmerksam in die Gegend, wie es nur Katzen zu tun vermögen. Eine leichte Brise kam auf und ließ die Blätter der Alleebäume rascheln. Eine achtlos weggeworfene PET-Flasche holperte, vom Wind getrieben, ein kleines Stück über das Kopfsteinpflaster und kullerte unter ein parkendes Auto. Dann schlief der Wind wieder ein. Die Katze entspannte sich und begann, sich intensiv der Pflege ihrer Pfoten zu widmen.

Doch plötzlich hielt sie inne und fixierte mit großen Augen gebannt einen Punkt ein kleines Stück die Straße hinunter. Ihre Haare stellten sich auf; sie duckte sich nieder; der schwarze, buschige Schwanz begann, aufgeregt hin- und herzupeitschen. Die Katze legte die Ohren an. Ihre Nase zog sich in krause Falten. Scharfe weiße Zähne kamen zum Vorschein. Mit einem Fauchen drückte sie sich ab, überwand in einem Satz die Hecke, huschte quer über die Rasenfläche an der Statue des Geometers vorbei, sprang über die gegenüberliegende Hecke und schoss mit flinken Pfoten in die dahinter liegende Straße. Bald war sie verschwunden.

Von der anderen Seite kam ein kleines Männchen in einem Trenchcoat mit Hut und Flipflops angewatschelt. Über seine Schulter hatte es einen Stoffbeutel unbekannten Inhalts geworfen. Am Rand des kleinen Vorplatzes schaute sich das Männchen sorgfältig um. Dann nahm es den Beutel von der Schulter, stieg behände über die kleine Hecke und näherte sich der Statue des Geometers.

Die Luft erfüllte sich mit knisternder elektrischer Spannung.

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Am Sonntagmorgen erwachte Maria, als die Sonnenstrahlen unerbittlich in ihr Zimmer schienen und die Bettdecke zu einem Brutkasten aufheizten. Es war bereits nach zehn Uhr, und sie hatte sowohl einen Mordshunger als auch einen total trockenen Mund. Im Schlafanzug schlurfte sie mit ungekämmten Haaren ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern nach dem Frühstück noch beisammen saßen. Herr Stevens, ihr Vater, war in die Sonntagszeitung vertieft und nippte dabei gelegentlich an seiner zweiten Tasse Kaffee. Frau Stevens, ihre Mutter, saß ihm im Morgenmantel gegenüber und löste Sudoku Rätsel. Als Maria eintrat, blickte sie hoch.

»Na, Kind. Es ist ja gestern wieder spät geworden. Morgen ist Schule. Deshalb wirst du heute mal wieder um neun ins Bett gehen.«

Maria gähnte. »Ist gut.«

Sie rutschte in einen freien Stuhl und griff nach der Tüte Cornflakes und der Milch.

»Kann ich nachher nochmal mit Juri zum Strand?«

»Hast du denn schon alle Schulaufgaben für Morgen gemacht?«

»Nee, aber ich weiß, dass Juri bestimmt wieder Hilfe in Mathe braucht. Deswegen dachte ich, wir könnten anschließend die Hausaufgaben gemeinsam machen.«

»Also, eigentlich finde ich es nicht so gut, wenn du die Sache bis zum Nachmittag oder Abend aufschiebst. Du weißt ja: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Und wie schon gesagt, ist heute frühes Schlafengehen angesagt, Fräulein.«

Maria hasste es, wenn ihre Mutter sie »Fräulein« nannte.

»Ach, Mama, chill mal. Du weißt doch, dass bisher immer auf mich Verlass war!« maulte sie.

»Nichts ist. Ich will, dass du morgen fit und vorbereitet bist. In drei Wochen schreibt ihr eure Klassenarbeiten. Danach ist Projektwoche und dann Sommerferien. Dann kannst du meinetwegen wieder den ganzen Tag herumstromern.«

»Manno!«

»Aber ich mache dir einen Vorschlag: Lade deinen Juri doch zu uns ein. Dann lernen wir ihn auch mal kennen. Und wenn ihr gemeinsam etwas für die Schule gemacht habt, dürft ihr vielleicht nochmal kurz zum Strand.«

Damit war Maria notgedrungen einverstanden, wenngleich sie protestierte, dass es sich nicht um »ihren« Juri handelte. Nachdem sie ihre Cornflakes heruntergelöffelt hatte, rief sie Juri an und lud ihn ein rüberzukommen. Dann ging sie ins Bad, putzte sich die Zähne und machte sich auch sonst präsentabel. Als sie fertig und angezogen war, erschien kurze Zeit später Juri an der Haustür.

Da er von Haus aus eher schüchtern war, war ihm gar nicht wohl zumute, von Herrn und Frau Stevens erst einmal einer gehörigen Begutachtung unterzogen zu werden. Er musste viele Fragen über sich, seine Familie, wie lange er schon in Deutschland wohne, was sie als Familie hergebracht habe usw. beantworten. Er gab sich betont höflich, obwohl er kaum Blickkontakt halten konnte, mit seinen Fingern herumnestelte und fast im Flüsterton sprach. Schließlich schien er den Test aber irgendwie bestanden zu haben und durfte äußerst erleichtert mit Maria in ihrem Zimmer verschwinden.

»Ich glaube, meine Eltern finden dich sehr nett.«, sagte Maria, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Juri, der sichtlich schwitzte, erwiderte, »Ich weiß nicht. Die haben bestimmt gemerkt, dass ich mir fast in die Hosen gemacht habe.«

»Ach was, ich kenne meine Eltern. Wenn meine Mutter wie ein Wasserfall redet und dabei lächelt und mein Vater nichts sagt, dann ist alles OK. Gefährlich wird es, wenn meine Mutter schweigt und mein Vater mit der Stirn runzelt. Du siehst: Alles bestens gelaufen.«

Maria hatte ein relativ kleines, aber günstig geschnittenes Zimmer auf der Ostseite des Hauses. Links befand sich das Bett mit einem Bücherbord darüber. Geradezu vor dem Fenster mit Blick auf den Hof stand ihr Schreibtisch. Rechts befand sich Marias Kleiderschrank. Das Zimmer war wie Maria auf dem Weg von einem Kind zu einer jungen Erwachsenen. Die vorherrschenden Farben waren noch Rosa und Lila. Auf dem Bücherbord über dem Bett saßen in einer fein säuberlichen Reihe Puppen und Teddys, während an der gegenüber liegenden Wand und an den Schranktüren bereits die ersten Poster von Marias Lieblings-Popgruppen hingen. Das Bett war fein säuberlich gemacht und mit einer Tagesdecke mit Rüschen abgedeckt, aber auf dem Schreibtisch türmten sich Papiere und Bücher, sodass man die Tischplatte kaum erkennen konnte. Maria war in der Schule immer so ordentlich, doch zu Hause ließ sie gern mal ihre Kleidungsstücke auf ihrem Bürostuhl, über den Schranktüren oder - was leider immer häufiger vorkam - auf dem Fußboden herumliegen.

Maria setzte sich aufs Bett, nachdem sie ihre Klamotten von der Stuhllehne entfernt und eine Schneise in die Unordnung auf dem Schreibtisch gegraben hatte, sodass Juri steif auf dem Schreibtischstuhl Platz nehmen konnte. Eine Weile lang sahen sich die beiden Kinder nur an. Dann fragte Maria:

»Ist dir noch etwas zu gestern eingefallen?«

»Nun ja, ich würde einfach nochmal runter zur Grotte gehen wollen und sehen, ob sich etwas verändert hat.«

»Hm. Ein bisschen unheimlich ist mir schon noch zumute. Aber neugierig bin ich ja auch.«

»Ich habe jedenfalls lange nicht einschlafen können«, meinte Juri, »weil ich die Dinge einfach nicht zusammenbringen kann. Ich meine: der Einsturz, das Symbol, deine merkwürdige Erfahrung. So richtig natürlich kann das nicht sein. Und dann waren da ja noch die Dinge, die auf der Plattform passiert sind und von denen mein Vater in seiner Mail Andeutungen gemacht hatte. Mysteriöse Hochenergie-Phänomene. Wer verfügt über die notwendigen Kenntnisse und Technologien, falls sie nicht natürlichen Ursprungs sein sollten? Ich frage mich, ob das alles zusammenhängt.«

Marias Augen wurden groß. »Meinst Du etwa, dass wir von irgendwelchen Aliens heimgesucht werden, die hier am Freitagabend gelandet sind und nun eine geheime Basis in Hyvelstörp aufbauen?«

»Was?« Juri war von Marias Schlussfolgerung ganz perplex.

Dann prusteten beide Kinder gleichzeitig los.

»Na gut.«, sagte Maria. »Jetzt lass‘ uns aber schnell unsere Schulaufgaben machen, damit wir nochmal los- und auf Alien-Jagd gehen können.« Bei »Alien-Jagd« malte sie mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.

Da Maria Juri so allerhand erklären musste, dauerten die Schulaufgaben leider wesentlich länger, als Maria es erhofft hatte. Immer wieder sah sie sehnsüchtig nach draußen auf den schönen Sonnenschein und die langsam wandernden Schatten der Bäume im Hinterhof, während Juri auf dem Ende seines Stifts kaute und versuchte, alles das nachzuvollziehen, was Maria ihm erklärte. Mit Blick auf die fortschreitende Zeit wurde sie immer ungeduldiger mit dem armen Juri, der wirklich sein Bestes gab, schnell zu verstehen. Unter dem Druck von Marias Ungeduld wurde der aber nur immer nervöser, machte dumme Fehler und schien schließlich selbst die einfachsten Dinge vergessen zu haben. Am Schluss war Maria schon fast patzig geworden.

»Entschuldige, Juri«, sagte Maria, als sie endlich ihre Hefte nach getaner Arbeit zuklappen konnten. »Ich wollte dich nicht so triezen, aber ich kann jetzt echt nicht mehr still sitzen. Lass‘ uns zusehen, dass wir loskommen. Ich denke, dass meine Eltern mich nur noch maximal zwei Stunden gehen lassen werden.«

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Und so war es dann auch. Mit der festen Zeitbeschränkung im Nacken schwangen sich die Kinder auf ihre Fahrräder und strampelten los Richtung Leuchtturm. Sie traten kräftig in die Pedale. Marias blonde Haare flatterten im Wind, während Juri neben ihr her raste und die Sommerluft genoss.

Als sie über den Marktplatz schossen, sahen Sie Klaus und seine Gang an der Eisdiele stehen. Diese hatten Maria und Juri auch gleich gesehen und pfiffen und johlten Verhöhnungen hinter den beiden her.

»Lass‘ die Idioten nur schreien.«, brüllte Maria Juri über ihre Schulter zu. Ihm schienen die Lästerungen sehr nah zu gehen, da er immer ein willkommenes Mobbing-Opfer gewesen war.

Gerade als sie den Marktplatz an seinem nordwestlichen Ende verlassen wollten, erblickte Juri aus dem Augenwinkel in einer der Nebenstraßen eine kleine Menschenmenge, die sich vor dem Schreibwarenladen von Hyvelstörp drängte. Zwischen den Schaulustigen leuchtete die Uniform von Kommissar Björn, der im Gespräch mit einem wild gestikulierenden hageren Mann war und sich dabei eifrig Notizen auf einen kleinen Block machte. Juri pfiff laut durch die Finger, um Marias Aufmerksamkeit zu gewinnen, und lenkte dann, von Neugier getrieben, sein Fahrrad in die Gasse auf den Menschenauflauf zu.

In der Menge erkannte Juri auch Frau Klein, die Bäckerin aus dem benachbarten Laden, und Herrn Wesenstein, den Dachdeckermeister, der mit seinen zwei Lehrlingen offenbar eine Sonntagsschicht auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses hatte beginnen wollen. Darüber hinaus waren zwei Vertreter der Lokalpresse in der Menge, die sich ihrerseits Notizen über eine eventuelle sonntägliche Sensationsmeldung in diesem verschlafenen Städtchen machten. Die Kinder lehnten schnell ihre Fahrräder an eine Hauswand und drängelten sich durch die Menge, um etwas von dem Spektakel mitzubekommen.

In den Schreibwarenladen war offenbar eingebrochen worden. Die große Schaufensterscheibe war eingeschlagen. Überall lagen Scherben zwischen den Auslagen, und das mittlere Schaufenster-Regal war komplett abgeräumt worden. Vor dem Loch war gelbes Absperrband gespannt. Herr Jansen, der hagere Besitzer des Ladens, war außer sich, als er auf den Polizisten einredete.

»Sowas habe ich noch nie erlebt! Und das in unserem friedlichen Hyvelstörp! Wer bricht denn bitte in einen Schreibwarenladen ein?!?«

»Herr Jansen, ich kann Ihre Entrüstung verstehen.«, entgegnete Kommissar Björn, in dem Versuch, den Schreibwarenhändler zu beschwichtigen. »Aber bitte nun der Reihe nach. Wer hat den Einbruch entdeckt?«

»Das war ich.« Frau Klein drängelte sich nach vorn. Sie war eine rundliche Person Anfang sechzig mit rosigen Bäckchen. Heute war ihr aber vor Schreck die Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Ich wollte gerade den Laden aufschließen, da dachte ich, mich trifft der Schlag. ‚Jesses‘, habe ich zur Bärbel gesagt. (Bärbel ist unsere Auszubildende.) ‚Jesses‘, sagte ich, ‚das ist doch eine Ungeheuerlichkeit! Und das dem armen Herrn Jansen, der doch nun wirklich niemandem etwas getan hat. Wo kommen wir denn da noch hin?‘ Mein seliger Walter hat immer gesagt, dass wir bald in unseren eigenen Betten nicht mehr sicher sind. Na, ich habe dann sofort den armen Herrn Jansen angerufen und die Polizei alarmiert. Natürlich gleich nachdem ich meiner Schwester Anna in Rostock davon berichtet hatte....«

Der Wortschwall von Frau Klein ging eine ganze Weile so weiter, während sich Juri und Maria fragend ansahen.

»... und die Kinder, die den ganzen Tag nur auf Ihre Handys starren. Die können einen gar nicht mehr richtig grüßen, wenn die in den Laden kommen. Ich sage ihnen, dieses Land rutscht in ein ganz schwarzes Loch. Ein ganz schwarzes Loch, sage ich Ihnen. Das hatte auch immer mein seliger Walter gesagt. Bestimmt waren das irgendwelche Bengels, die nur noch diese Ballerspiele am Computer spielen. Da ist es ja nicht verwunderlich, wenn die aggressiv werden und nur noch Unsinn anstellen. Und diese Filme, die sich die Kinder heutzutage ansehen ...«

Kommissar Björn versuchte, irgendwie dazwischenzukommen: »Ist denn etwas gestohlen worden?«

Herr Jansen bekundete: »Geld habe ich nie in der Kasse. Das Geld bringe ich abends immer gleich zur Bank. Nein, es sind eigenartigerweise nur ein paar Formelsammlungen, Taschenrechner und Kurvenlineale gestohlen worden.«

»Nichts wirklich Wertvolles? Seltsam.« Kommissar Björn machte sich weiter Notizen auf seinem Block.

»Das Teuerste, was ich in meinem Laden habe, sind die Füller und Kugelschreiber von den bekannten Edelmarken. Sonst gibt es da nur Schreibblöcke, Briefpapier, Ordner, Locher und anderes Büromaterial.«

Nun meldete sich Dachdeckermeister Wesenstein zu Wort: »Wir waren ungefähr zur gleichen Zeit wie die Frau Klein hier. Da war das Absperrband schon angebracht.«

»Nanu?« Der Polizist hob die Brauen. »Diebe, die eine Scheibe einschlagen, nichts ersichtlich Wertvolles stehlen und dann die Einbruchstelle mit Absperrband absichern? Wo gibt’s denn sowas?«

Das erschien auch Juri und Maria sehr merkwürdig. Da sich aber nichts weiter ereignete, als dass zwischen den anwesenden Erwachsenen allerhand Theorien ausgetauscht und wild gemutmaßt wurde, zupfte Maria schließlich ihren Freund am Ärmel und beschied ihm mit einem Nicken, dass es Zeit wurde, weiterzufahren.

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Fünfzehn Minuten später standen die beiden Kinder am Strand vor der Grotte. Jemand hatte zu ihrem Erstaunen auch hier gelbes Absperrband quer über den Eingang gespannt. Daran baumelte in der Mitte ein weißes dreieckiges Schild mit rotem Rand und schwarzem Ausrufungszeichen, dem internationalen Zeichen für Gefahr.

»Nanu?« sagte Juri. »Ist hier vielleicht doch eine größere Sache im Gange?«

»Eigentlich sieht es genau aus wie das Band vom Schreibwarenladen.« Maria betastete das Plastik nachdenklich. »Das könnten wir der Polizei als Tipp geben. Die können bestimmt herausfinden, ob es dasselbe Band ist. Aber was hat ein Einbruch im Schreibwarenladen mit der Blockade in der Grotte zu tun?«

»Ich weiß nicht. Solch ein Band kann man doch in jedem Baumarkt bekommen.«

Sie spähten in den Eingang der Grotte, konnten aber nur bis zum kleinen Tunnel am Ende der Grotte sehen. Niemand war zu erkennen, doch der Boden war von vielen kleinen Füßen, die hin- und herliefen, aufgewühlt worden. Kurzerhand duckte sich Juri unter dem Absperrband hindurch und tauchte in die Grotte ein.

»Was tust du denn da, Juri?« wisperte Maria aufgeregt. Sie schaute nervös in alle Richtungen, ob jemand kam oder sie beobachtete.

»Na, ich will sehen, ob sich seit gestern etwas verändert hat.«

»Du kannst mich doch nicht hier draußen allein stehen lassen.«

»Dann komm‘ halt auch rein.«

»Und wenn jemand kommt?«

»Ach, wir sind doch gleich wieder weg.«

Mit klopfendem Herzen unterwand auch Maria das Absperrband und trat in die Kühle des Höhleneingangs.

Juri war bereits zum kleinen Tunnel vorgelaufen und spähte vorsichtig in den dunklen Schlund. Als er nichts Ungewöhnliches erkennen konnte, schaltete er seine Taschenlampe an, die er seit dem Vortag immer dabei hatte, und leuchtete in den Gang. Der Strahl fiel auf die eingestürzte Stelle und auf das chaotisch anmutende Symbol. Es war wirklich noch alles so wie am Vortag.

Plötzlich verspürte Juri einen warmen Luftzug in seinem Nacken, und er zuckte so heftig zusammen, dass er sich an dem niedrigen Höhlendach den Kopf stieß.

»Maria!« zischte er, »Du kannst dich doch nicht einfach so lautlos heranschleichen und in meinen Nacken atmen!« Er rieb sich seinen schmerzenden Kopf. »Das wird bestimmt eine Mordsbeule.«

»Entschuldige«, brachte Maria hervor, die dicht hinter ihm stand. »Ich wollte doch nur auch etwas sehen.«

Juri bemerkte jetzt erst, wie dicht sich Maria an seinen Rücken gepresst und seinen Arm umklammert hatte.

»Du kannst mich jetzt loslassen.«, sagte er. »Es ist keiner da.«

Maria starrte an ihnen beiden herab und sah, dass sich ihre Fingernägel in das Fleisch von Juris Oberarm gegraben hatten. Nun war es einmal an ihr, rot anzulaufen. Sie ließ den Arm verlegen sinken und trat einen halben Schritt zurück.

»Halt, warte, was ist das?« Juri hielt sie zurück, gerade als sie rückwärts auf einen kleinen Gegenstand treten wollte, der halb vergraben im Sand lag. Schnell bückte er sich und hob ihn auf. Es handelte sich um eine Plastikkarte wie eine Scheck- oder Bankkarte.

»Das ist ja ein Büchereiausweis!« brachte Juri hervor.

»Genau genommen ist es Willis Büchereiausweis!« staunte Maria, die den Namen auf der Karte im Licht von Juris Taschenlampe las. »Wie kommt der denn hierher? Dann stecken also vielleicht Klaus und seine Kumpane hinter all diesen merkwürdigen Vorgängen? Würden die denn so weit gehen, einen Einbruch zu machen?«

»Na, jedenfalls beweist das, dass Willi kürzlich hier war.«

»Aber was ist mit all den Spuren im Sand und mit dem kleinen Mann, den ich gesehen habe? Das war unter Garantie keiner von Klaus‘ Leuten. Und vor allem hat der Willi Füße wie Lastkähne.«

»Hm, da magst du Recht haben. Vielleicht haben wir die Möglichkeit, Willi unauffällig zu beschatten und herauszubekommen, was er weiß. Wir müssen es aber so anstellen, dass wir nicht in die Hände der Gang geraten.«

»OK, lass uns zu dir nach Hause fahren und Pläne schmieden. Wir waren bestimmt schon viel zu lange hier. So langsam finde ich den Ort echt gruselig.«

Damit verließen die Kinder die Grotte, kletterten die Klippe zum Leuchtturm empor und radelten los.

Als sie am Zunfthaus vorbeifuhren, brachte Maria ihr Fahrrad so abrupt zum Stehen, dass ihr Juri fast hinten aufgefahren wäre.

»Hey, was ist denn los?« rief Juri. »Du hast keine Bremslichter, weißt du?«

Doch dann sah er es auch: Die Statue des Geometers, die vor dem Zunfthaus in wehendem langen Talar auf einem Steinsockel stand, war komplett mit gelbem Absperrband umwickelt. Seine ausgestreckte Bronze-Hand, die normalerweise Zirkel und Lineal hielt, war leer. Und auch das aufgeschlagene große Buch mit kartographischen Vermessungsdaten, welches normalerweise zu Füßen der Statue lag, war verschwunden. Stattdessen zeigte sich dort ein hässliches Loch, das wie hineingeschmolzen aussah. Die Menschen, die vorübergingen oder ins Museum wollten, musterten die Statue jedoch nur mit mäßigem Interesse. Einige Passanten schüttelten nur verständnislos den Kopf oder murmelten etwas von furchtbarem Vandalismus und schlimmen Zeiten, bevor sie weitereilten. Mit Graffiti oder Sachschäden konnte man nun leider wirklich keinen mehr aus der Reserve locken, selbst in Hyvelstörp nicht.

»Was ist denn hier passiert?« flüsterte Maria.

»Schon wieder gelbes Absperrband.«

»Hier sind offenbar irgendwelche bizarren Vandalen unterwegs. Erst der Schreibwaren- und Bücherladen, dann die Grotte und nun auch noch die Statue des Geometers.«

Wie die Kinder so überlegten, hörten sie vom Dach des Zunfthauses ein Geräusch von abbröckelndem Mauerwerk. Als sie hochblickten, sahen sie, wie sich zwei Dachziegel vom Vorbau des Bauwerks lösten und direkt neben ihnen auf den Bürgersteig polterten. Juri konnte gerade noch einen Schritt zurückspringen.

»Achtung!« schrie Maria.

»Heee!« entrüstete sich Juri empört.

Hinter dem griechischen Fries lugten einen Moment lang ein paar grüne schlitzartige Augen hervor. Dann huschte eine kleine geduckte Gestalt über das Dach des Zunfthauses wie ein schwarzer Schatten davon.

»Hast du das auch gesehen?« fragte Maria. »Was war das?«

»Eine Katze, glaube ich. Mistvieh. Fast hätten mich die Ziegel getroffen.«

»Komm, lass uns schnell nach Hause fahren. Dann können wir überlegen, wie es weitergehen soll.«

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