Читать книгу Lingua Mathematica - Armin Schneider - Страница 4
ОглавлениеDa ist noch so viel mehr
»Tut es sehr weh?« fragte Maria.
»Nur wenn ich lache«, sagte Juri, und zu seiner Überraschung musste er wirklich plötzlich lachen.
»Das war wirklich Klasse von dir, wie du dem Willi das Buch auf die Nase gehauen hast. Aua!«. Juri verzog das Gesicht und hielt sich seine Körpermitte.
Maria grinste. »Das war aber auch höchste Zeit, dass denen mal eine Lektion erteilt hat.«
»Danke, dass du mir geholfen hast.« Juri stand verlegen herum und nestelte mit seinen Fingern.
»Gern.« Maria strahlte ihn an, und ihre blauen Augen funkelten in der Sonne.
Juri überwand seine Scham und strahlte zurück. Ein paar Sekunden sagte keiner von beiden ein Wort. Sie schauten sich einfach nur lächelnd und schweigend in die Augen.
Dann begannen plötzlich Marias Schultern zu zucken und zu zittern. Juris Stirn legte sich in Falten des Nichtverstehens. Schließlich prustete Maria los. Aus einem Prusten wurde ein Kichern. Aus einem Kichern wurde ein Lachen. Aus einem Lachen wurde ein Sturm der Heiterkeit. Auch Juri ließ sich davon Anstecken und mitreißen. Die beiden Kinder lachten und lachten, bis sie sich die schmerzenden Seiten hielten und nach Luft rangen.
»Ich weiß nicht, wovon mir morgen der Bauch mehr wehtun wird«, keuchte Juri, »von der Prügelei oder vom Lachen.«
»Eine richtige Prügelei sieht aber anders aus«, kicherte Maria wieder los. »Da steckt einer nicht nur alles ein, sondern teilt auch mal etwas aus.«
»Aufhören, ich kann nicht mehr!« kicherte Juri und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Zusammen gingen sie hinüber zu den Fahrradständern, wo Maria ihr Fahrrad angeschlossen hatte.
Juri nahm all seinen Mut zusammen: »Sag‘ mal, Maria. Du bist doch so gut in Mathe und so. Kannst du mir nicht ein bisschen helfen?«
»Ja, gern. Kein Problem. Wir könnten heute gleich damit anfangen und unsere Schulaufgaben gemeinsam machen.«
»Das würdest du tun?«
»Natürlich. Ich muss die Aufgaben doch ohnehin machen.« Maria machte ihr Fahrradschloss auf und schob das Fahrrad vom Schulhof.
»Ohne mich bist du doch viel schneller.«
»Quatsch‘ nicht. Gehen wir zu dir? Meine Mama putzt heute die Wohnung, und da ist es bei uns nicht besonders gemütlich.«
»Ok«, strahlte Juri. »Meine Mama kann uns Blinis zum Abendessen machen. Und ich kann dir mein Teleskop zeigen.«
»Du hast ein Teleskop? Cool!«
Sie schlenderten durch die Gassen von Hyvelstörp und standen schließlich vor einem großen mit Reet gedeckten Haus inmitten eines wunderschönen Gartens dicht an der Steilküste, welches das Heim von Juri und seinen Eltern war. Maria staunte nicht schlecht über die wunderbare Aussicht und den gepflegten Garten. Das Haus musste sehr teuer gewesen sein, aber offenbar verdienten Juris Eltern viel Geld. Sie wusste, dass Juris Vater irgendetwas für die Regierung machte. Sie selbst wohnte im Ort in der Siedlung in einer kleinen Mietwohnung. Marias Vater arbeitete in einer Tankstelle, ihre Mutter in einer Steuerberatung. Viel Geld hatten sie nicht, aber zum Leben reichte es. Marias Vater wollte immer, dass sie es einmal besser haben sollte, und so unterstützte er ihren Wunsch, einmal Abitur machen zu wollen und zu studieren. Das war keinesfalls selbstverständlich.
Sie war genau wie Juri ein Einzelkind. Sie hatte sich immer schon einen Bruder gewünscht, doch ihre Eltern hatten offenbar andere Pläne gehabt. Und nun war da auf einmal Juri.
Juri hatte ein total schickes, großes Zimmer unter dem Dach. Die gesamte Zimmerdecke stellte ein Bild einer Galaxie dar, wobei die großen Fixsterne Deckenspots waren. Die kleineren Sterne konnten als kleine LEDs separat dazu geschaltet werden. Juri hatte neben dem Bett eine eigene kleine Sitzecke mit einer gemütlichen Couch und einem schwingenden Sessel, der mit einem Strick an der Decke befestigt war. Auf dem Schreibtisch hatte er einen eigenen top-modernen Computer, und an der Wand hing über der Stereoanlage ein großer Flachbild-Fernseher, der selbstverständlich auch 3D-Filme darstellen konnte. Juri hatte so ziemlich alles, was sich ein Zwölfjähriger wünschen könnte. Juri hatte sogar einen eigenen Balkon mit Blick zur Ostsee. Dafür sah er seinen Vater so gut wie nie.
Maria schaukelte in Juris Sessel und schob sich gerade den letzten Blini in den Mund, den Juris Mutter den Kindern aufs Zimmer gebracht hatte.
»Wirklich lecker, diese Blinis.«
»Waren das deine ersten Blinis?«
»Ja. Ich wusste gar nicht, dass die russische - ich meine - die ukrainische Küche so gut ist.«
»Mach‘ dir nichts draus. Da gibt es ganz viele Gemeinsamkeiten«, winkte Juri ab.
»Zeigst du mir jetzt Dein Teleskop?«
»Klar.«
Das Teleskop stand auf Juris Balkon. An einem klaren Tag konnte er damit sogar gerade noch die Forschungsplattform seines Vaters erkennen. Nach Westen konnte man sehr gut den alten Leuchtturm an der Steilküste betrachten.
»Ich habe eine Idee«, platzte Maria heraus. »Ich frage meine Mama, ob ich heute länger wegbleiben kann, und dann können wir uns gemeinsam die Sterne ansehen. Bis es dunkel wird, haben wir auch unsere Hausaufgaben erledigt.«
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Ein paar Stunden später saßen Maria und Juri gemeinsam unter einer Wolldecke auf Juris Balkon. Die Nacht war sternenklar aber auch sehr kühl hier an der Küste. Der Mond war kurz davor, in einer vollen Scheibe zu erstrahlen. Juri hatte Maria begeistert alle Sterne und Galaxien gezeigt und erklärt. Sie war sehr wissbegierig gewesen, und dass er alle ihre Fragen beantworten konnte, erfüllte ihn mit Stolz und einem Selbstwertgefühl, das er bisher nicht gekannt hatte. Nun waren sie schon müde, und ihre Augen brannten vom angestrengten Starren durch die Linsen des Teleskops. Sie saßen mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt und blickten hinaus in den Himmel.
»Meinst du, man kann das alles berechnen?« fragte Juri nach einem langen Schweigen.
»Was meinst du?«
»Na, die Sterne. Wo die Sterne heute sind, wie sie sich bewegen, wo sie sein werden. Sowas eben.«
»Ich weiß nicht. Ich hoffe es.«
»Warum hoffst du das?«
»Weil das Ganze damit einen Sinn ergäbe. Es würde dann einer bestimmten Logik folgen. Damit hätte das Universum einen erklärbaren Zusammenhang.«
»Möchtest du denn alles erklären können?«
»Nein. Aber es wäre schön, wenn man wüsste, dass es prinzipiell ginge. Wenn die Dinge nicht dem Zufall überlassen wären. Es wäre für mich sehr beruhigend. Es hätte eine bestimmte Schönheit. Das wäre so, als ob du ein Bild betrachten und nach einer Weile erkennen würdest, dass der Künstler nicht nur Kleckse nach Gutdünken und Zufall auf die Leinwand gebracht, sondern sich etwas dabei gedacht hatte, was sogar bestimmten Regeln folgt.«
»Malen nach Zahlen?«
»Weißt du«, sagte Maria, »ich glaube, dass ganz Vieles von unserem Leben ein bisschen so ist.« Sie knipste die Taschenlampe von ihrem Handy an, holte das dicke Mathematikbuch hervor und schlug es auf. »Auf der einen Seite gibt es bestimmte Regeln, denen alles folgt und die wir berechnen können. Alles hängt durch Formeln miteinander zusammen. Auf der anderen Seite können wir mit unserem freien Willen Entscheidungen treffen, was diese Regeln durchbrechen kann, dann aber auch möglicherweise wieder logischen Regeln folgt.«
»Ich glaube, jetzt hast du mich abgehängt.«
Maria gähnte. »Ich will nur sagen: Da ist noch so viel mehr…. Aber es ist schon nach 22 Uhr.« Sie klappte das Buch zusammen und steckte ihr Smartphone ein. »Meine Mama wird mich jetzt gleich abholen. Es war schön, Juri. Sehen wir uns am Wochenende?«
Juri lief wieder knallrot an, aber diesmal, weil er sich so freute.