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Maria macht eine Entdeckung

Auf der Landseite erhob sich ein grüner mit Gras bewachsener Hügel, der ganz plötzlich schroff und steil zur Ostsee hin abstürzte. Auf seinem Gipfel stand seit vielen Jahrzehnten der alte Leuchtturm mit dem angeschlossenen kleinen Leuchtturmwärter-Häuschen. In seiner Glanzzeit strahlte sein Leuchtfeuer über hundert Kilometer hinaus auf das Meer und wies einsamen und vom Sturm gepeitschten Seeleuten den Weg nach Hause. Er trotze allen Winden, und auch im dicksten Nebel konnte man damals seine Laterne von Ferne hoch und stolz circa 30 Meter über der Klippe ausmachen. Doch das war alles schon lange her.

Heute fanden nur noch die Möwen auf der Balustrade unter dem überhängenden Dach eine Zuflucht. Die rote und weiße Farbe löste sich an vielen Stellen in großen Fladen von den gekrümmten Wänden, die gläserne Kuppel war getrübt und an einigen Stellen gesprungen, und an der verschlossenen Eingangstür im Erdgeschoss prangte ein großes, fleckiges Warnschild »Unbefugten ist das Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder.« Es war einer der einsamsten Orte in der Gegend.

Und damit auch einer der aufregendsten Orte, wenn man ein Kind ist und in einer Kleinstadt an der Küste wohnt. Maria war, als sie jünger war, schon oft mit klopfendem Herzen um den Leuchtturm herumgeschlichen. Hier hatte sie als Schmugglerin so manches Abenteuer bestanden. Sie hatte immer schon nachts mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelegen und Geschichten über Piraten, Schmuggler, versteckte Schätze und tollkühne Helden gelesen. Nach der Schule und auch an Wochenenden war sie immer hinaus zum Leuchtturm gegangen und hatte alle diese Geschichten stundenlang nachgespielt. Sie war Hauptmann der Schmuggler, edler Kaufmann und schöne Prinzessin zugleich und im Wechsel.

In gerader Verlängerung des Leuchtturms nach unten, dort, wo der Strand die steil aufragenden Klippen traf, gab es eine Grotte mit einem Eingang, der wie ein doppelt mannshohes »A« aussah. Das war ihr geheimer Unterschlupf. Na, nicht wirklich geheim. Die anderen Kinder im Ort kannten die Grotte natürlich auch gut. Als sie noch kleiner gewesen waren, hatten sie auch oft gemeinsam hier gespielt. Natürlich wollten die Mädchen immer »Vater, Mutter, Kind« spielen. Aber Maria war immer schon lieber Pirat gewesen und hatte mit den Jungen spielen wollen. Als sie dann auch noch in der Schule immer besser geworden war und ihr merkwürdiges Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften entwickelt hatte, hatten sich die anderen Mädchen allmählich von Maria zurückgezogen und sich von Barbie Puppen über Smartphones und Make-up zu Jungs-Fragen vorgearbeitet. Nur Maria kam noch hierher. Die Jugendlichen und Erwachsenen im Ort orientierten sich derweil auch eher nach Osten und Westen zu den großen bewachten Stränden, die allerlei Abwechslungen, Buden, Läden und Restaurants an den Promenaden boten.

Es war der folgende Samstagmorgen, und Marias Eltern hatten beschlossen, in die Stadt zum Einkaufen zu fahren. Maria hatte sich nach dem Frühstück ein paar Brote geschmiert und einen Apfel, ein Buch und ein Handtuch eingepackt und war auf ihr Fahrrad gesprungen, um zum Leuchtturm zu fahren. Es würde ein heißer Sommertag werden. Der Himmel war makellos blau, und die Sonne schickte bereits ihre wärmenden Strahlen herab. Der Weg zum Leuchtturm führte Maria über den Marktplatz mit seinem Neptun-Brunnen in der Mitte, an der »Statue des Geometers« vor dem Zunfthaus vorbei und dann nach Nordwesten aus dem Örtchen heraus. Am Ortsausgangsschild bog sie rechts auf einen kleinen Feldweg ein, der sie erst an ein paar Weizenfeldern und dann an einem Wäldchen vorbeiführte. Schließlich machte der Weg eine weite Biegung zurück nach rechts und führte parallel der Küste entlang über eine Wiese, bis er vor dem Hügel mit dem Leuchtturm endete und sich in einen Trampelpfad verwandelte, der sich in mehreren Serpentinen zum Eingang des Leuchtturms hochwand.

Maria warf ihr Fahrrad einfach ins hohe Gras, schulterte ihre Tasche und ging links am Leuchtturmhügel vorbei. Dort befand sich am Rand der Klippe eine Treppe hinab zum Strand, die aber schon nach wenigen Metern endete, sodass man sich von dort an selbst einen Weg durch die zerklüfteten Klippen suchen musste, wenn man nach unten wollte. Maria kannte ihren Weg blind und sprang behände von Stein zu Stein und Vorsprung zu Vorsprung, bis sie auf dem weichen Sand des Strandes landete. Er war noch von der Nacht ein wenig kühl und feucht, aber das würde die Sonne bald ändern, wenn sie an diesem schönen Sommertag höher stieg.

Aus Gewohnheit wandte sich Maria nach rechts und steuerte auf die Grotte zu. Dort wollte sie ihr Handtuch ausrollen und ein bisschen lesen. Doch wie sie bei dem großen »A« im Felsen ankam, blieb sie plötzlich stehen. Direkt vor ihren Füßen entdeckte sie eine Reihe von kleinen Fußspuren im Sand. Sie könnten von kleinen Kindern mit nackten Füßen stammen, und sie verschwanden in der Grotte. Es gab keine Fußspuren, die sich wieder heraus bewegt hätten, d.h. die Kinder müssten noch in der Höhle sein. Marias Blick folgte den Fußspuren in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und stellte überrascht fest, dass sie aus dem Wasser gekommen waren. Ein Boot konnte sie nirgends sehen. Als sie den Strand hinauf- und hinuntersah, konnte Maria auch keine weiteren Fußspuren erkennen. Es gab nur diese eine offenbar frische Fährte vom Wasser zur Grotte.

Neugierig und vorsichtig näherte sich Maria von der Seite dem Eingang zur Grotte. Sie wollte sehen, wer die Kinder waren und was sie hier trieben, bevor sie sich eventuell zu erkennen geben wollte. Sie lauschte angestrengt ein paar Atemzüge lang. Ihr war, als ob sie von innen das Wispern leiser Stimmen hörte und das sanfte Klackern von Steinen aufeinander. Die Stimmen klangen ganz und gar nicht wie Kinderstimmen, eher wie die von Erwachsenen, aber das konnte Maria nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Vorsichtig spähte sie um die Ecke.

Die Grotte hatte einen circa zehn Meter langen Eingangsbereich, der grob der Form des »A« entsprach und sich rasch nach hinten verjüngte. Niemand war zu sehen, aber die Fußspuren setzten sich durch den Sand auf dem Boden weiter nach hinten fort. Maria wusste, dass sich am Ende ein kleiner Gang weiter in den Fels erstreckte. Diesen Gang konnte ein Erwachsener nur gebeugt betreten. Er beschrieb ein sanftes »S« und endete nach einigen Schritten in einer Sackgasse, die vom Eingangsbereich aus nicht einzusehen war. Wer auch immer in der Grotte war, musste im Gang stecken und bald feststellen, dass es dort nicht weiterging.

Maria huschte leise voran und presste sich grinsend neben den Eingang zum kleinen Gang. Der Schalk hatte sie gepackt. Wenn die Kinder herauskämen, würde sie ihnen einen gehörigen Schrecken einjagen.

Sie konnte jetzt die Stimmen deutlicher hören. Zu dem Klappern von Steinen aufeinander kam jetzt noch ein schabendes Geräusch, so als ob jemand eine Hacke oder Schaufel über die Felswand zog. Je länger Maria lauschte, desto sicherer wurde sie sich, dass es doch keine Kinder waren, die dort hinten im Gang tuschelten und werkelten. Ab und zu drangen ein kehliges Keuchen oder ein leiser derber Fluch an ihre Ohren. Einzelne Worte konnte Maria nicht ausmachen. Entweder waren die Stimmen zu leise, sodass sie nicht klar gegen die Nebengeräusche zu hören waren, oder es handelte sich um eine fremde Sprache, die Maria nicht erkannte. Je länger Maria dastand, desto unheimlicher wurde ihr dabei, und ihr Grinsen schmolz dahin. Ihr kamen die Geschichten von den Schmugglern wieder in den Sinn. Wer weiß, was dort im Gang passierte. Vielleicht vergrub eine Diebesbande gerade irgendwelche Schätze. Jedenfalls wurde ihr plötzlich klar, dass sie möglichst nicht entdeckt werden wollte. Ihr Herz begann, wild in ihrer Brust zu pochen. Leise entfernte sie sich rückwärts von dem Gang Richtung Ausgang, die Augen immer auf das dunkle Loch gerichtet. Sie malte sich aus, dass jeden Augenblick jemand aus dem Gang heraustreten und sie mit einem Schrei entdecken würde. Ihre Fantasie fing an, mir ihr durchzugehen. Sie bildete sich ein, blitzende Augen zu sehen, die aus der Dunkelheit auf sie gerichtet waren. Kalt lief es ihren Rücken herab. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf.

Und dann war da plötzlich noch ein elektrisches Kribbeln, das von ihren Haarwurzeln zu ihren Fußsohlen hinablief. Panik ergriff Marias Herz. Sie wandte sich um und rannte los. Wie sie gerade aus dem Mund der Höhle schoss, vernahm sie hinter sich einen lauten Ruf:

»Quod erat demonstrandum![Fußnote 1]«

Dann folgte ein Knall und gleichzeitig bekam sie von hinten einen Stoß von einer Druckwelle, die sie aus der Grotte herausschleuderte und ein paar Meter weiter auf den weichen Sand katapultierte. Maria wartete gar nicht lange und schaute auch nicht zurück. Sie spuckte den Sand aus ihrem Mund und war schon wieder auf den Beinen, kaum dass sie gelandet war. Sie rannte aus voller Kraft auf den Aufstieg zur Klippe zu. »Bloß weg hier!« dachte sie sich.

Als sie 20 Meter weiter den Fuß der Klippen erreicht hatte, kauerte sie sich schnell hinter einen großen herabgestürzten Steinbrocken und hielt schwer atmend Ausschau nach Verfolgern. Zu ihrer Erleichterung war ihr niemand gefolgt. Sie zitterte am ganzen Körper. Maria wollte aufstehen und verstohlen den steilen Aufstieg zur Klippe antreten, aber ihre Knie versagten ihr den Dienst. So musste sie sich notgedrungen wieder hinkauern und warten, bis sie ihre Kräfte zurückhatte. Hilfe konnte sie keine rufen, denn sie hatte ihr Handy nicht mitgenommen. So ein Mist aber auch!

Was waren das nur für Leute? Und was haben die da in der Grotte gemacht? Maria versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Bestimmt haben die da in der Grotte etwas gesprengt. Sollte sie die Polizei rufen? Vielleicht hatte es ja auch etwas mit den Forschungen von Juris Vater zu tun, denn die Fußspuren kamen ja vom Wasser her, und die schwimmende Plattform lag genau in dieser Richtung draußen vor der Küste. Dann wäre das sicher so ein hochgeheimes Regierungsprojekt, und man würde sie vielleicht einsperren, wenn sie etwas gesehen hatte, was sie nicht sollte. Man weiß ja nie. Vielleicht sollte sie erst mit jemandem sprechen.

Und wenn es doch einfach nur ausländische Schmuggler waren? Und wenn die wirklich einen Schatz dort vergraben hätten? Bestimmt haben die einen geheimen Raum in den Fels gegraben, um dort ihre Waren und ihr Gold zu verstecken.

Dann fielen ihr wieder der Knall und die Druckwelle ein. Wenn jemand hinten in dem kleinen Gang steht und solch eine Sprengung durchführt, müsste derjenige dann nicht von der Explosion augenblicklich zerfetzt worden sein? Normalerweise legt man eine Sprengladung in den Fels und zieht sich dann weit zurück in Sicherheit. Man bleibt nicht einfach daneben stehen. Und diese elektrische Ladung, dieses Kribbeln, das sie gespürt hatte... Handelte es sich vielleicht nicht um eine Sprengung, sondern um irgendeine große elektrische Entladung. Dann hat es vielleicht doch etwas mit den Forschungen von Juris Vater zu tun. Aber auch hier stellte sich die Frage, was mit den Leuten in dem Gang passiert sein mochte, wenn sie bei dieser Entladung direkt daneben gestanden wären.

Sie wurde in ihren Überlegungen jäh unterbrochen. Während sie aus ihrem Versteck hinter dem Steinbrocken die Lage beobachtete, trat aus der Grotte ein kleiner Mann heraus. Er mochte nur etwa einen Meter hoch sein. Bis auf eine Art weißer Unterhose, die wie eine dicke Windel aussah, war er vollkommen nackt. Seine Haut war gelblich bis olivgrün und üppig tätowiert. Sein Schädel war glatt und von der Form eher platt und gedrungen. Die Nase des Mannes war überdimensional groß, und seine Ohren standen weit ab und waren an den Enden spitz zulaufend. Die Augen schimmerten grün, waren geschlitzt und standen eng zusammen. Das war der hässlichste kleine Mann, den Maria jemals gesehen hatte. Er stand geduckt vor der Grotte und blickte langsam den Strand hinauf und hinunter. Mit seiner Nase schnüffelte er ein paar Mal in alle Richtungen. Dann drehte er sich um und verschwand wieder in der Höhle.

Maria hatte nun endgültig genug gesehen. Sie zwang sich zum Aufstehen und kletterte eilig die Klippe hinauf. Nach einigen Minuten stand sie schweißgebadet neben ihrem Fahrrad. Ängstlich schaute sie über ihre Schulter, aber es war zu ihrer Erleichterung niemand zu sehen. Schnell trat sie in die Pedale und sauste davon. »Das muss ich Juri erzählen«, dachte sie sich. »Vielleicht hat er eine Idee, was wir machen sollen.«

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