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ОглавлениеAm nächsten Tage waren die Morgenblätter voll von Berichten über die nächtlichen Ereignisse auf der Jannowitzbrücke. Besonders gut informiert war das Berliner Tageblatt. Obwohl dessen Reporter Elst bis zwei Uhr morgens auf der Polizeiwache festgehalten worden war, hatte er es doch fertiggebracht, noch bis vier Uhr früh einen spaltenlangen, sensationellen Artikel in der Redaktion abzuliefern.
Der Geheime Regierungsrat Blumenthal las diesen Bericht um zehn Uhr morgens bei der dritten Tasse Kaffee. Er war ein Mann, der nach gewissen Prinzipien lebte. Es war einer seiner obersten Grundsätze, die zwei ersten Tassen ohne gleichzeitige Lektüre einzunehmen, da seiner Meinung nach jede Art von Aufregung beim Genuß des ersten Frühstücks eine verheerende Wirkung auf den Organismus ausübte.
Als er im Lesen beim Namen des Karo König angelangt war, stutzte er; dann riß er mit einer heftigen Bewegung seine Brieftasche heraus und starrte sekundenlang mit großen, gleichsam erstaunten Augen auf die Unterschrift eines an ihn adressierten Briefes. Das Staunen in seinen Blicken wich dem Entsetzen. Seine Befürchtung war richtig: es war derselbe Name — Karo König.
Mit einem Ruck war der etwas korpulente kleine Mann auf den Beinen; noch nie im Leben hatte er die Entfernung vom Eßtisch bis zur Ecke, wo an der Wand der Fernsprechapparat hing, so rasch zurückgelegt.
„Kriminalpolizei!“ schrie er auf die verblüffte Telephonistin ein.
Gleich darauf antwortete eine sonore Männerstimme:
„Hier Überfallkommando.“
„Bitte rufen Sie doch den Herrn heran, der in der Nacht die Expedition an der Jannowitzbrücke leitete,“ stotterte der Geheimrat aufgeregt.
Der andere schien sich mit irgend jemand zu beraten. Nach etwa zwei Minuten erklärte er:
„Das war Inspektor O’Kelly. Sie erreichen ihn unter Wedding 27974.“
O’Kelly war zufällig zu Hause und meldete sich sofort. Blumenthal nannte seinen Namen und Titel.
„Hören Sie, Herr Inspektor! Ich schwebe in Todesgefahr!“ jammerte er.
„Wieso, bitte?“
„Ich habe mehrere Erpresserbriefe erhalten und warf sie bis jetzt alle in den Ofen; man bekommt dergleichen in meiner Stellung ja sehr oft und ist daran gewöhnt. Nur den letzten Brief habe ich mir aufgehoben, weil es zu komisch war, mit welcher Kühnheit der Schreiber mir für heute den Tod ankündigte. Ich wollte den Brief zum Andenken aufbewahren …“
„Ja, und?“
„Schrecklich! Der Schreiber ist doch der Karo König! Ich wußte nichts von ihm und nun lese ich in der Zeitung …“
„Entschuldigen Sie, bitte,“ unterbrach ihn O’Kelly hastig. „Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.“
Der Geheimrat verbrachte die zehn Minuten damit, daß er sein gesamtes Hauspersonal in der Wohnung umherjagte, um alle Fenster und Türen zu verriegeln. Im Gegensatz hierzu aber schlug er, zur nicht geringen Verwunderung der Dienerschaft, eigenhändig die Scheiben sämtlicher nach der Straße zu gelegenen Fenster ein; dann stellte er mit einer etwas angerosteten alten Pistole Schießübungen an, indem er zur Zielscheibe ein mächtiges Ölgemälde wählte. Als O’Kelly eintrat, hatte er bereits drei glückliche Treffer in verschiedenen, mehr oder weniger kostbaren Beleuchtungskörpern angebracht.
Der Kriminalbeamte betrachtete etwas konsterniert die Scherben und den beweglichen kleinen Mann, der jetzt, mit dem alten Schießeisen fuchtelnd, auf ihn zuschritt.
„Inspektor O’Kelly, nicht wahr?“
Jener nickte.
„Ich sehe, Sie sind zum Kampf bis aufs Messer entschlossen?“ fragte er leise lächelnd.
„Natürlich!“ erwiderte der andere stolz. Das Bewußtsein, einen Kriminalbeamten in seiner Nähe zu haben, schien seinen Mut zu verzehnfachen. „Ich werde mein Leben teuer verkaufen!“
„Könnte ich mal den Brief, von dem Sie sprachen, sehen?“
Der Geheimrat kramte in seinen Taschen.
„Hier ist er. Alles Stuß, natürlich. Wenn’s nicht gerade dieser berühmte Karo König wäre … na ja …“
O’Kelly hätte gern gelächelt, aber er konnte es nicht. So lächerlich die Worte auch klingen mochten, es lag ihnen doch eine unangenehme Wahrheit zugrunde. Der Karo König, über den man noch vor zwei Tagen nicht einmal im Kriminalamt etwas erfahren konnte, war über Nacht eine bekannte Persönlichkeit — „Berühmt“ — geworden. Dafür hatten die Zeitungen bestens gesorgt.
Der Kriminalbeamte war ans Fenster getreten und las interessiert den neuen Drohbrief des Karo König. Er trug das gestrige Datum und unterschied sich weder im Aussehen noch im Inhalt wesentlich von dem an Larsen gerichteten.
„Mein Herr!
Nachdem Sie weder am 22. ds. M. 25 000.— Mark, noch am 25. ds. M. 50 000.— Mark bezahlt haben, fordere ich Sie hierdurch letztmalig auf, bis morgen abend acht Uhr durch das Einschlagen einer Scheibe eines beliebigen, auf die Straße mündenden Fensters mir bekanntzugeben, daß Sie gewillt sind, auf Verlangen sofort 100 000.— Mark zu bezahlen. Sollten Sie diese Ihre Absicht, zu zahlen, morgen bis acht Uhr abends nicht kundgeben, so werde ich Sie bis spätestens Mitternacht töten.
Karo König.“
O’Kelly blickte auf.
„Darum also die kaputten Fensterscheiben,“ sagte er verständnisvoll. „Sie wollen demnach doch zahlen?“
„Natürlich will ich!“ rief der andere zornig. „Dachten Sei etwa nicht? Mein Leben ist mir lieber als hunderttausend Mark!“
„Warum dann erst die Polizei rufen? Wozu dann die Schießübungen?“
„Ich schwebe doch in großer Gefahr. Wie leicht könnte es sein, daß der Verbrecher seinen letzten Vorschlag vergißt und beschließt, mich sofort zu töten. Bedenken Sie — zwei seiner Briefe habe ich ignoriert!“
„Und den dritten werden Sie auch ignorieren!“ sagte O’Kelly plötzlich sehr bestimmt. „Nachdem Sie die Kriminalpolizei mal benachrichtigt haben, wäre das Zahlen ganz zwecklos; denn der Karo König wird Sie für den Verrat sowieso zu töten versuchen.“
Der Geheimrat sank entsetzt in einem Sessel zusammen.
„Er wird mich sowieso töten?“ fragte er atemlos mit leicht vibrierender Stimme.
„Nicht doch! Ich habe nur gesagt — er wird versuchen, Sie zu töten. Wir werden Sie natürlich zu schützen wissen.“
Blumenthal erholte sich langsam von seinem Schrecken.
„Wie?“ meinte er leise. „Wie wollen Sie mich schützen? Ebenso wie den Schriftsteller auf der Brücke? Ja? Ich habe gelesen, daß er schwer verwundet ist.“
O’Kelly war diese Erinnerung an sein Versagen sehr unangenehm.
„Nein!“ sagte er stirnrunzelnd. „Ich werde heute abend von acht bis zwölf Uhr nicht von Ihrer Seite weichen. Was hatten Sie für diese Zeit vor?“
„Hm … ja …“ die Züge Blumenthals belebten sich. „Ich wollte zu der spiritistischen Sitzung bei Professor Matthiesen gehen. Sie müssen nämlich wissen, daß ich ein großer Gegner dieses modernen Aberglaubens bin. Ich habe in meinem Leben bereits fünf Scharlatane entlarvt. Das erste Mal … aber nein, das dritte Mal war es interessanter — da gelang es mir …“
„Verzeihen Sie bitte,“ unterbrach ihn O’Kelly höflich, „ich möchte doch bei der Sache bleiben. Ist es ein geschlossener Kreis, oder eine öffentliche Veranstaltung?“
„Geschlossen. Es versammeln sich etwa zwanzig Personen. Alle auf Empfehlung und meist begeisterte Anhänger dieses Schwindels.“
„Haben Sie von Ihrer Absicht, heute dorthin zu gehen, irgendjemand Mitteilung gemacht?“
„Nur einem Menschen — dem Gerichtspräsidenten Kahlbaum. Er ist es auch, der mir die Eintrittskarte verschaffte.“
„Ich habe keine Bedenken,“ sagte O’Kelly entschlossen. „Können Sie noch drei Eintrittskarten erhalten?“
„Sicherlich! Es kostet mich nur ein paar Worte. Aber was wollen Sie eigentlich tun?“
„Ich werde mitgehen. Außerdem will ich noch einen Kollegen mitbringen und hoffe auch den bekannten Kriminologen Dr. Raymond dazu bewegen zu können. Für einen geschlossenen Raum wird dieser Schutz wohl ausreichend sein. Wir holen Sie also um halb acht Uhr ab …“
„Aber bis dahin? Was denn bis dahin?“
O’Kelly erhob sich.
„Bis dahin droht Ihnen kaum Gefahr. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Verbrecher größeren Maßstabes — und zu diesen scheint auch der Karo König zu gehören — bei der Ausführung einer angekündigten Tat sich stets peinlichst an den von ihnen selbst angegebenen Zeitpunkt halten.“
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Ein schlicht gekleideter, älterer Mann trat ein. In der einen Hand hielt er seine Mütze und einen Brief, mit der anderen wischte er den Schweiß von seiner Stirn.
„Ein Brief für Herrn Geheimrat Blumenthal,“ sagte er mit lauter Stimme.
Blumenthal streckte die Hand danach aus und blickte erstaunt zu O’Kelly hinüber. Dieser stand wie zur Bildsäule erstarrt da. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Das Bild — dieser Mann, in der einen Hand Brief und Mütze haltend, mit der andern den Schweiß von der Stirne wischend — weckte eine Erinnerung in ihm. Die Szene in seiner eigenen Wohnung tauchte klar und plastisch vor seinem geistigen Auge auf: genau so hatte doch der Dienstmann dagestanden, der ihm die erste Botschaft des Karo König überbrachte. Was bedeutete das?
Plötzlich riß O’Kelly dem Geheimrat den Brief aus der Hand. Der Umschlag flog in die Ecke. O’Kelly las:
„Da Sie sich mit der Kriminalpolizei eingelassen haben, werde ich Sie heute auf jeden Fall zwischen acht und zwölf Uhr abends töten. Das von mir geforderte Geld können Sie sich für Ihr eigenes Begräbnis sparen.
Karo König.“
Wortlos stürzte O’Kelly an dem verdutzten Geheimrat vorbei und durch die Tür auf den Treppengang. Der Überbringer der Botschaft sprang bereits in größter Eile die Stufen hinab.
Drei Stockwerke waren da. Etwa fünfzehn Stufen Vorsprung hatte der Mann. Nicht aufzuholen! Blitzschnell durchschossen O’Kelly diese Gedanken. Er würde unten gerade ankommen, wenn der andere die Haustüre bereits versperrt hatte.
Da erinnerte er sich auf einmal seiner Schulzeit. Mit einem Satz saß er auf dem Treppengeländer und im Nu war er ein halbes Stockwerk tiefer. Er landete mit aller Wucht auf dem Rücken des Fliehenden. Beide stürzten zu Boden.
O’Kelly war von der Erschütterung noch ganz benommen, als er fühlte, wie zwei mächtige Pranken sich um seinen Hals legten. Er kratzte und schlug wie irrsinnig um sich. Doch der stählerne Griff lockerte sich nicht. O’Kelly keuchte.
Oben auf der Plattform lief der Geheimrat geschäftig hin und her. Er schien die Situation völlig zu verkennen.
„Geben Sie es ihm richtig, O’Kelly!“ schrie er begeistert. „Dem Halunken, dem Gauner!“
O’Kelly wand sich in konvulsivischen Zuckungen. Sein Gesicht war blaurot.
„Schleppen Sie ihn her, O’Kelly!“ zeterte Blumenthal. „Her mit ihm, damit ich ihn eigenhändig niederknalle!“
O’Kellys Bewegungen wurden matter. Sein Widerstand erlahmte.
Da erscholl ein lauter Knall, der nur aus des Geheimrats vorsintflutlichem Schießeisen stammen konnte und in derselben Sekunde wurde es auf der Treppe finster. Der Druck auf O’Kellys Hals hatte plötzlich aufgehört.
Nach einigen Minuten war er imstande, sich langsam aufzurichten. Sein Widersacher war verschwunden. Von allen Seiten aber strömten jetzt Diener und Mägde mit Lampen und Lichtern herbei. Auch Blumenthal selbst eilte herunter. O’Kelly sah die alte, verrostete Pistole in seiner Hand, dann wanderten die Blicke des Inspektors zu den am Boden verstreuten Glasscherben.
„Von Ihrer Fähigkeit, Beleuchtungskörper abzuschießen, haben Sie mich nun nachgerade überzeugt,“ sagte er müde.
„Ich wollte aber doch den Kerl treffen!“ ereiferte sich Blumenthal.
O’Kelly dachte, während er sich säuberte und sein Äußeres in Ordnung brachte, daß ein ganz schlechter Schütze unter Umständen noch angenehmer sei, als ein halbwegs guter. Sonst hätte die für den Verbrecher bestimmte Kugel wohl nicht die Lampe, vermutlich aber ihn selbst getroffen.
„Auf Wiedersehen — heute abend!“ sagte er schlicht und ging zur Ausgangstür.
„Herr Kommissar, Ihr Notizbuch!“ rief ihm ein Diener nach.
„Danke.“ O’Kelly steckte es lässig ein. Sein Herz klopfte dabei fast hörbar. Inspektor O’Kelly trug nämlich prinzipiell kein Notizbuch bei sich.