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ОглавлениеEs war bereits drei Uhr nachmittags, als O’Kelly endlich im vornehm ausgestatteten Bibliothekszimmer Dr. Raymond gegenübersaß. Dieser, ein älterer Herr von nicht unsympathischem, gepflegtem Äußeren, blickte interessiert über seine Brillengläser hinweg zu dem Kriminalbeamten und lauschte gespannt auf dessen Erzählung.
„Hm … Karo König,“ wiederholte er langsam, wie überlegend. „Ja, ich entsinne mich dunkel … Aber es muß lange her sein. Warten Sie mal …!“
Mit diesen Worten stand er auf und trat an ein hohes Bücherregal. Ein, zwei dicke Bände nahm er herunter, blätterte flüchtig darin herum und stellte sie dann wieder auf ihren Platz zurück. Der dritte Band war der richtige. Es war ein Buch mit fast lauter leeren, vergilbten Blättern; nur hier und dort bemerkte O’Kelly eine mit fast verblichener Tinte angebrachte Notiz.
„Hier ist die Stelle!“ rief Dr. Raymond nach einer Weile triumphierend. „Dachte ich mir’s doch. Hören Sie zu!“
O’Kelly sah gespannt auf. Der andere putzte umständlich seine Brillengläser, dann begann er zu lesen:
„In den Jahren 1918—1921 trieb in Berlin ein Individuum sein Unwesen, das in Verbrecherkreisen ‚Karo König‘ genannt wurde. Diese Bezeichnung ist darauf zurückzuführen, daß der Verbrecher in der Regel am Tatort eine Spielkarte, und zwar den Karo König, hinterließ. Seine Spezialität waren Raubmorde, doch befaßte er sich auch gern mit großangelegten Hochstapeleien. Zwei Fälle von groben Erpressungen kamen zur Anzeige; beidemal gelang es dem Verbrecher, seine Opfer trotz polizeilichen Schutzes zu ermorden, ohne daß er entdeckt oder auch nur gesehen wurde. Inspektor Dr. Link hätte deswegen beinahe seinen Dienst quittieren müssen. Nur dem plötzlichen und bis jetzt (1924) unerklärlichen Verschwinden des Verbrechers zufolge wurde Kriminalinspektor Link im Amte belassen.“
O’Kelly war erregt aufgesprungen.
„Nun?“ erkundigte sich Dr. Raymond. „Nützt Ihnen diese Notiz etwas?“
„Und ob!“ rief O’Kelly begeistert. „Das sind ja hochinteressante Neuigkeiten! Vor neun Jahren, also im Jahre 1921, verschwindet der Karo König. Trifft das nicht zeitlich zusammen mit dem Prozeß des Raubmörders Zacharias? Natürlich! Es ist dieselbe Person! Der Raubmörder Zacharias wurde laut Sachverständigengutachten für wahnsinnig erklärt; dadurch entging er der Todesstrafe und wurde in Dalldorf interniert. Passen Sie auf: Neun Jahre vergehen — Zacharias gelingt die Flucht aus dem Irrenhause. Zwei Wochen später taucht auch der Karo König wieder auf.“
„Sachte, sachte, junger Freund,“ wehrte Raymond lächelnd ab. „Das sind doch alles nur Vermutungen. Aber selbst wenn es Ihnen gelingt, die Identität der beiden zu beweisen — was nützt das Ihnen? Eines ist doch klar — augenblicklich sind sowohl der Karo König, als auch der Raubmörder Zacharias in Freiheit. Weder den einen, noch den anderen können Sie festnehmen, da Ihnen ja das Versteck beider unbekannt ist.“
„Sie haben recht,“ gab O’Kelly kleinlaut zu. „Aber trotzdem — ist es nicht ein großer Fortschritt, wenn ich beweisen kann, daß wir es in der Person des Karo König mit keinem eigentlichen Verbrecher, sondern mit einem Kranken — einem Irren zu tun haben?“
„Ein furchtbarer Gedanke! Ein Irrer in Freiheit, an dessen Händen das Blut unzähliger Menschen klebt! Wem ist der Fall ‚Zacharias‘ übertragen worden, O’Kelly?“
„Mir! Das ist wohl auch der Grund, warum ich so bemüht bin, diesen Zacharias mit dem Karo König zu identifizieren. Ich werde nämlich wertvolle Hilfe haben.“
„Wieso?“
O’Kelly lachte fröhlich.
„Sie haben es mir doch eben selbst vorgelesen. Inspektor Dr. Link, vor neun Jahren noch ein blutjunger Anfänger, vom Karo König wiederholt düpiert — heute ein gefürchteter, berühmter Kriminalist — mein Vorgesetzter, Oberkommissar Dr. Link.“
„Ach so, jetzt verstehe ich. Ja, ich habe von den Erfolgen Dr. Links bereits gehört. Natürlich wird er das größte Interesse haben, gerade den Mann zu fassen, der ihn seinerzeit beinahe um seinen Posten gebracht hat.“
O’Kelly mußte plötzlich laut auflachen. Es war ihm eingefallen, daß er ja nun eine sehr einfache und einleuchtende Erklärung für das seltsame Benehmen des Kommissars hatte bei seiner Bitte um Auskunft über den Karo König. Vermutlich hatte Dr. Link seine Frage als Ironie aufgefaßt und gedacht, er wolle sich über ihn lustig machen.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Aufklärungen,“ sagte der Kriminalbeamte, sich erhebend. Er fügte zum Abschied noch einige freundliche Worte hinzu und machte sich sodann wieder auf den Weg.
Einige Schritte von dem Hause Raymonds entfernt, erblickte er einen seiner guten Bekannten, den Reporter Elst. Dieser junge Mann saß in nachlässiger Haltung auf der Schwelle eines Hausflurs und starrte selbstvergessen und melancholisch vor sich hin. Zwischen den Lippen hielt er eine Zigarette, hinter dem Ohr steckte ein grüner Bleistift und auf seinen Knien lagen mehrere weiße Bogen ausgebreitet, die zum Teil mit Ziffern und Buchstaben bedeckt waren.
„Nanu, Elst? Was machen Sie denn hier?“ erkundigte sich O’Kelly interessiert.
Der andere sah überrascht auf. Beim Anblick des Inspektors huschte ein freudiger Schimmer über sein blasses, schmales Gesicht.
„Tag, O’Kelly,“ sagte er freundlich. „Ich guck’ mir ein bißchen den Betrieb hier an. Nicht viel los. Aber ich hab’ Zeit; kann ja warten. Vielleicht passiert doch noch was.“ Er beugte sich plötzlich über seine Papiere und trug einige Zahlen ein.
„Da können Sie ja lange warten,“ rief O’Kelly lachend. „Aber was schreiben Sie denn da?“
„Ich notiere mir die Nummern der vorüberfahrenden Trambahnwagen. Das ist sehr interessant, kann ich Ihnen sagen. Ich weiß jetzt, daß auf dieser Straße drei verschiedene Linien verkehren. Die Wagen von zwei dieser Linien verkehren in Abständen von je drei Minuten, die dritte aber, die Nummer 11, kommt nur alle 6 Minuten vorbei. Das ist sehr interessant. Es gibt viele Leute, die das nicht wissen.“
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort,“ entgegnete O’Kelly ironisch. „Nur sehe ich nicht ein, was da interessant daran sein soll!“
Elsts Augen belebten sich.
„Natürlich ist das interessant,“ sagte er entschieden. „Die kleinsten Dinge können interessant sein.“ Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich. „Der Mann muß ja besoffen sein!“ rief er unvermittelt.
„Wer? Wo?“ stieß O’Kelly verblüfft hervor und spähte suchend umher. Doch weit und breit war nichts auffallendes zu sehen.
„Der Trambahnführer der Linie 6,“ erklärte Elst ernst. „Der Wagen ist überfällig,“ fuhr er beunruhigt fort. „Viereinhalb Minuten Verspätung! Haben Sie Worte?“
„Nein,“ sagte der Inspektor ärgerlich. „Ihre Liebhaberei mag ja ganz interessant sein — ich verstehe allerdings nichts davon — aber auf jeden Fall ist das nur eine Beschäftigung für einen Menschen, der absolut nichts besseres zu tun hat.“
„Ich habe nichts besseres zu tun,“ entgegnete Elst bescheiden und ruhig, denn im selben Augenblick rollte der vermißte Trambahnwagen vorüber.
O’Kelly ging mit kurzem Gruß davon. Der andere blickte ihm eine Weile vorwurfsvoll nach, dann senkte er müde den Kopf über seine Papiere und trug gewissenhaft die Nummer und die Zeit des verspäteten Wagens ein.