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»DIE FLAMMENDE JENNY«
Feuerteufel oder Massenhysterie?
ОглавлениеSeit nunmehr 6 Tagen mehren sich Vorfälle – meist verbunden mit verheerenden Hausbränden – bei denen eine brennende Frau beteiligt zu sein scheint. “Die Flammende Jenny", wie sie der Volksmund bereits nennt, wird als junge, zierliche Frau beschrieben, die geisterhaft durch die Straßen wandert, wobei ihre brennenden Haare und Hände vielen Häusern das Verderben bringen. Feuerwehr und Militär stehen vor einem Rätsel. Viele der Feuer brachen noch am Samstag aus und ereigneten sich in Gebieten westlich der Van Ness Avenue – in deutlicher Entfernung von der tatsächlichen Feuerzone. - Ob in ›Marina‹, ›Pacific Heights‹ oder ›Haight-Ashbury‹, überall trafen die Brände Gebäude, die als sicher eingestuft waren. Anders als im Bereich ›South Of Market‹ oder ›Northbeach‹ breiteten sich in diesen Fällen die Flammen aber niemals aus. »Es war unglaublich«, berichtet ein Augenzeuge, »zuweilen war das gesamte Haus hinter einem Meer aus Flammen verschwunden. Die Hitze war unerträglich und doch blieb das benachbarte Grundstück vom Feuer verschont. Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, doch selbst die Blätter des Eukalyptusbaumes, der nur zwei oder drei Yards vom Haus entfernt stand, waren nicht einmal angesengt.« Bei vielen dieser unerklärlichen Brände wollen Zeugen in der Nähe eine brennende Frau beobachtet haben. - Doch wer ist nun diese ›Flammende Jenny‹? Mitglieder der ›Kirche der Letzten Tage‹ sehen in ihr eine Art überirdische Erscheinung, einen Racheengel, der die Sünden der Menschen bestraft. - Viel wahrscheinlicher klingt da schon die Annahme, dass es sich bei der Unbekannten nicht um ein, sondern um mehrere verwirrte Brandopfer handelt, welche in ihrem Wahn nun selbst Feuer entfachen. Unerklärt bleibt allerdings, warum es bisher nicht gelang, eine dieser Frauen zu finden. - Dr. Carl Browers vom Park Emergency Hospital spricht daher auch von einem ›hysterischen Phänomen‹. »Vielleicht mag es tatsächlich einen Vorfall mit einer brennenden Frau gegeben haben«, konstatiert der Neurologe. »Bei den vielen Bränden, die in der Stadt gewütet haben, ist dies sicher nicht auszuschließen. Die Gerüchte und die Artikel im ›Chronicle‹ haben die Menschen aber beeinflusst. Zehntausende von Einwohnern haben ihre Wohnungen und Häuser verloren. Fast jeder von uns steht unter einer unglaublichen Anspannung. In dieser Situation ist es nicht weiter verwunderlich, wenn plötzlich überall brennende Frauen auftauchen. Für mich ist es ein Ausdruck dafür, dass die Menschen nach etwas Greifbarem suchen, dem sie die Schuld für das Unglück geben können.« Trotz vieler Unklarheiten über das Entstehen und die Art der neuerlichen Brände scheinen auch die offiziellen Vertreter der Stadt die Ansicht von Dr. Browers zu teilen.
C.H. Griffith
Aufzeichnungen aus dem Nachlass von Leland J. Copeland, freier Feuilleton-Journalist beim ›S.F. Examiner‹ und Autor der Bücher ›Das Große Beben‹ (Eureka Press 1907) und ›San Francisco - Die unerzählte Geschichte‹ (McPherson + Border 1928):
Es ist bekannt, dass in Zeiten großer Not und Gefahr das wahre Wesen der Menschen zu Tage tritt. Schmächtige, blasse Jünglinge vollbringen mitunter Heldentaten und gestandene Mannsbilder verkriechen sich zitternd unter den Röcken ihrer Frauen. Es scheint, als ob sich nicht selten die offensichtlichen Vorzeichen umkehren würden: Aus Mut wird Feigheit, aus Angst Entschlossenheit, aus Stärke wird Panik und aus Eigensucht Barmherzigkeit.
Natürlich geschieht dies nicht immer, kein Mensch aber kann im Voraus sagen, wie er sich in einer derartigen Ausnahmesituation verhalten wird. Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen und Feuersbrünste können durchaus als gottgesandte Prüfungen betrachtet werden, die die Heimgesuchten in zwei Lager aufspalten: die Guten und die Bösen. In Notzeiten muss ein jeder Farbe bekennen, Weiß oder Schwarz, gut oder böse; eine andere Wahl bleibt nicht. Erst so dramatische Ereignisse wie ein Krieg oder eben das große Beben von 1906 dringen tief hinab zur menschlichen Seele … und offenbaren dort zuweilen finsterste Abgründe.
So ist eben auch bekannt, dass gerade dort, wo die Siege des Altruismus gefeiert werden, unweit das Böse herrscht. Zu diesen Zeiten geschehen Dinge, die oft weitaus schrecklicher sind als die eigentliche Katastrophe. Bei meinen Recherchen zu ›Das Große Beben‹ stieß ich auch auf mehrere Zeitungsartikel, die sich mit dem seltsamen Phänomen einer brennenden Frau beschäftigten. Es wurde dort von zahlreichen unerklärlichen Hausbränden berichtet, die offenbar in Zusammenhang mit dem Erscheinen einer in Flammen stehenden jungen Frau standen. Damals habe ich dieses Gerede um einen Racheengel lediglich für abergläubischen ›Mumbo-Jumbo‹ gehalten und es nicht einmal in einer Randnotiz erwähnt. An meiner Einschätzung änderte sich nichts, bis ich 1925 zufällig die Bekanntschaft eines jungen Mannes machte. Sein Name war Malcolm DiLucca, ein 32jähriger Fotograf, der einen kleinen Laden drüben in Sausalito besaß. In den Hinterräumen seines Geschäftes hatte er eine kleine Galerie mit Gemälden und Fotografien heimischer Künstler eingerichtet.
Ich entdeckte das unscheinbare Haus nur, weil mich meine Frau auf der Suche nach einem bestimmten Restaurant durch nahezu jede Gasse des Ortes schleifte. Wir befanden uns damals auf der Rückfahrt von einem Ausflug zum Mount Tamalpais, und ich hatte den Fehler begangen, Clarisse zur Belohnung für ihre Ausdauer ein Abendessen zu versprechen. Das Restaurant fanden wir an diesem Tage nicht, doch in einer schmalen Gasse nahe der Durchfahrtsstraße weckte die Dekoration eines Schaufensters meine Neugierde. Neben einigen typischen Porträt- und Gruppenfotos waren dort auch Ölgemälde ausgestellt worden, Landschaftsbilder in impressionistischer Malweise aber mit starken, grellen Farbkontrasten. ›GALERIA DELLE FOTO DILUCCA‹ stand in goldenen Lettern auf dem Fenster. Ein kleines Schild neben den Gemälden verkündete: ›Weitere Exponate regionaler Künstler im Inneren.‹
Da ich zu dieser Zeit gerade an einer Artikelserie über die lokale Kunstszene schrieb, notierte ich mir die Adresse. Die kleine Galerie hatte an jenem Tag schon geschlossen, und daher fuhr ich zwei oder drei Tage später erneut hinauf nach Sausalito, um mir die ganze Ausstellung anzusehen.
Eigentlich hatte ich geplant, das unbekannte Foto-Studio nur kurz in einem meiner nächsten Artikel zu erwähnen. Der gewogene Leser sollte lediglich die Adresse, die Öffnungszeiten und natürlich etwas über die Art und Qualität der Ausstellungsstücke erfahren. Es sollte ein Tipp mit einer Länge von etwa drei Zeilen werden, mehr nicht.
Als ich den Laden betrat, ahnte ich noch nicht, dass ich hier das Material für gleich ein Dutzend Artikel vorfinden würde. Und eine seltsame Geschichte, die ich niemals veröffentlichen sollte. Der schmale Ausstellungsraum wurde durch viele Oberlichter erhellt und beherbergte etwa 30 Ölgemälde, Aquarelle und Radierungen. Viele der Bilder waren impressionistische Landschaftsdarstellungen, die an Reynold Beal, Dwight Blaney und natürlich an Claude Monet erinnerten, und doch zeigte jedes der Exponate eine ganz eigene Handschrift.
Ich war begeistert, vor allem auch aufgrund der Vielseitigkeit der Bilder. Zart hingehauchte Küstenimpressionen hingen neben wilden kubistisch-abstrakten Werken, die eines Rockwell Kent oder einer Blanche Lazzell würdig gewesen wären. Mein Notizblock schien kaum genügend Blätter zu haben, um meine Eindrücke aufzunehmen.
Mr. DiLucca zeigte sich sichtlich erfreut über mein Interesse; als er dann auch noch den eigentlichen Grund für meinen Besuch erfuhr, tänzelte er wie eine aufgeregte Ballerina um mich herum. »Dio mio!«, rief er ständig grinsend aus. »Meine winzige Galerie kommt in den ›Examiner‹. Kaum zu glauben. Dio mio!«
Nachdem sich die erste Aufregung wieder gelegt hatte, gab mir der junge Galerist bereitwillig Auskunft auf meine Fragen. Mit Erstaunen stellte ich hierbei fest, über welch ein fundiertes Wissen DiLucca bezüglich Kunstgeschichte im Allgemeinen und Malerei und Fotografie im Besonderen verfügte. Auch wenn er selbst bislang kaum weiter als nach Los Angeles gekommen war, so wusste er doch genau darüber Bescheid, wie die Kunstszenen in Orten wie New York, Chicago, Boston aber auch Paris oder London aussahen. Ich erhielt gewissermaßen eine kostenlose Lehrstunde.
In meiner Einschätzung was DiLucca und seinen Sinn für zeitgenössische Kunst betraf, sollte ich mich nicht täuschen. Nur drei Jahre nach meinen Artikeln errangen mehrere der von ihm propagierten Künstler Preise auf internationalen Ausstellungen. Der junge Mann gab schließlich seinen Beruf als Fotograf ganz auf und zog mit seinen Bildern in eine großzügig geschnittene Halle im Mission District. Zu wahrem Ruhm in der Kunstszene sollte er jedoch niemals kommen; an einem regnerischen Dezemberabend des Jahres 1931 verunglückte DiLucca tödlich mit seinem Wagen. Die Umstände des Unfalls blieben mysteriös … ähnlich wie auch ein weitaus früherer Vorfall in seinem viel zu kurzen Leben.
Bei jenem ersten Treffen wollte ich die Ausstellung gerade verlassen, als mir der schmale Durchgang zu einem weiteren Raum auffiel. Auf meine Frage erklärte mir DiLucca, dass sich dort einige ältere Fotografien befänden, die die Auswirkungen des großen Bebens dokumentieren würden.
Mein Interesse war erneut geweckt, doch diesmal mehr aus privaten Gründen. 18 Jahre zuvor hatte ich ein Buch über das Erdbeben geschrieben, und seit dieser Zeit ließ mich das Thema einfach nicht mehr los. Knapp ein Jahr nach der Katastrophe hatte ich kaum mehr als eine kurze Bestandsaufnahme abliefern können. Erst viel später sollte ich Einzelheiten erfahren, die das ganze Geschehen in einem anderen Licht erscheinen ließen. 1928 habe ich viele dieser Informationen in einem zweiten Buch verarbeitet, die Geschichte von Malcolm DiLucca aber behielt ich auch weiterhin für mich.
Der halbrunde, apsisartige Raum wirkte wie eine Höhle. Oberhalb der Fotografien waren lediglich winzige Lämpchen angebracht worden, die kaum mehr als ein anämisches Gelb verbreiteten. Die bedrückende aber auch sakrale Atmosphäre war den Bildern angemessen. Anders als in der Gemäldegalerie lauteten die Themen hier ›Zerstörung‹, ›Chaos‹, ›Flucht‹ und ›Verzweiflung‹. In ehrfürchtigem Schweigen betrachtete ich die Ruinen des Emporiums und den verkohlten Hügel des ›Russian Hill‹. Ich sah die Feuerhölle der Mission Street und Menschen, die mit all ihrer kläglichen Habe durch die aufgeworfenen und zerrissenen Straßen der Stadt nach Westen flohen. Natürlich waren mir viele der Aufnahmen vertraut, einen Teil der Katastrophe hatte ich schließlich am eigenen Leibe miterleben müssen, doch auch nach all den Jahren hatten die Bilder nichts von ihrer schmerzhaften Eindringlichkeit, von ihrer Trostlosigkeit verloren.
»Eigentlich ein Wunder, dass dabei nur etwa 700 Menschen ihr Leben gelassen haben, nicht wahr?«, raunte mir DiLucca ins Ohr.
Ich drehte mich zu ihm herum und schüttelte energisch den Kopf. »700? Niemals! Es waren ganz gewiss mehr als 1000, vielleicht sogar deutlich mehr. Es ist jedoch anzunehmen, dass man die wahren Zahlen nie erfahren wird. Die Behörden haben damals alles dafür getan, um die Totenlisten klein zu halten. Wo es nur ging, wurde 'schöngefärbt'. Sie können mir ruhig glauben, doch in jenem April haben sich mit Sicherheit noch viele Tragödien abgespielt, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken werden.«
Mein Gegenüber nickte bedächtig. Im Halbdunkel des Raumes konnte ich seine Gesichtszüge nur erahnen.
»Zuweilen ist es vielleicht aber auch besser, wenn Dinge für immer verborgen bleiben«, antwortete er schließlich.
Mein journalistisches Gespür ließ mich sofort nachhaken.
»Dinge? Von was für Dingen sprechen Sie?«
»Von bösen Dingen.« DiLucca, dem das Thema sichtlich unangenehm war, drehte sich zum Ausgang und verließ langsam die Foto-Krypta. »Von sehr bösen Dingen«, murmelte er dabei leise vor sich hin.
Hastig folgte ich ihm zurück in die Gemälde-Galerie. Auch wenn mein Verstand bezweifelte, von einem derart jungen Mann Neuigkeiten über das Erdbeben erfahren zu können, so sprach das seltsame Kribbeln in meinem Bauch eine andere Sprache. Möglicherweise wusste DiLucca ja etwas aus zweiter oder dritter Hand, was meinen vielen Recherchen entgangen war. Es sollte das zweite Mal an diesem Tag sein, an dem meine Erwartungen in jeglicher Hinsicht übertroffen wurden.
DiLucca war vor einem Seestück stehengeblieben und musterte es scheinbar gedankenverloren. Für einige Zeit standen wir nur schweigend vor dem Bild, schließlich wagte ich einen zaghaften Vorstoß: »Waren Sie damals etwa …?«
»Ja«, unterbrach er mich sofort. »Ich war damals 13 oder knapp davor. 1906 lebte ich mit meinen Eltern und drei Brüdern in der Pierce Street, zwischen Waller St. und Duboce Park. Als die Erde bebte, wurde unser Haus stark beschädigt, eine Seite sackte knapp einen halben Meter in den Boden. Verletzt wurde jedoch niemand. Ich habe alles miterlebt, das Beben und das verheerende Feuer, doch das, was mich selbst heute noch in meinen Träumen verfolgt, ist etwas anderes.« Erst jetzt wandte er seinen Blick von dem Gemälde ab und fixierte mich eingehend. »Versprechen Sie mir, nichts in Ihrer Zeitung darüber zu schreiben?«
Ich bejahte fast ohne Zögern. Falls ich etwas von seinen Erlebnissen veröffentlichen sollte, so würde es nicht in der Tagespresse erscheinen. Ich hatte andere Pläne. Seit einiger Zeit trug ich mich nämlich mit dem Gedanken, ein weiteres Buch über San Francisco zu schreiben.
DiLucca schien meine Notlüge zu akzeptieren. Nach kurzem Zögern sagte er: »Das, was ich beobachtet habe, hat auch etwas mit Feuer zu tun, es war jedoch etwas anderes als das, was die Mission Street verwüstet hat. Es war gleichzeitig gewaltiger und doch begrenzter, gezielter. Einfach widernatürlich.«
Da ich befürchtete, jeder Einwand meinerseits könnte seinen Redefluss wieder zum Versiegen bringen, starrte ich ihn nur ungläubig an. Es dauerte dennoch eine ganze Weile, bis er mit seiner seltsamen Geschichte fortfuhr. Und er begann mit einer noch seltsameren Frage: »Haben Sie jemals etwas von der ›Flammenden Jenny‹ gehört?«
Die Geschichte, die ich hier nun wiedergeben will, ist nicht dieselbe, die mir damals DiLucca erzählte, es basieren jedoch entscheidende Teile – vor allem das Ende – auf ihr. Der Anfang und der Mittelteil sind das Ergebnis jahrelanger Nachforschungen, die ich selbst betrieben habe.
Ich fand noch andere Menschen, die wie DiLucca der ›Flammenden Jenny‹ begegnet waren. Auf diese Weise erhielt ich kleinste Mosaiksteinchen, die ich mühsam zu einem Gesamtbild zusammengesetzt habe. Das, was ich nicht direkt belegen konnte, habe ich so wirklichkeitsnah wie möglich hinzugefügt, es sind wahre Erfindungen. Das Ergebnis allerdings ist von fragwürdiger Natur. Ich besaß ein vollständiges 'Skelett', doch obwohl ich es mit Haut überzogen und leidlich gut gestopft habe, so weiß ich selbst heute noch nicht, zu welcher Spezies es gehören mag. Engel oder Dämon?
Am Abend des 17. April 1906 deutete noch nichts darauf hin, welches Unglück wenige Stunden später über die Stadt hereinbrechen würde. Man erholte sich von der Arbeit, trank vielleicht mit guten Freunden ein paar Bier in der nächsten Kneipe oder ergötzte sich an der Darbietung von Enrico Caruso und Olive Fremstad in ›Carmen‹. Vielleicht verhielten sich Hunde und Katzen unruhiger als sonst, doch niemand achtete darauf.
Kein Mensch beachtete auch Joseph Kendal Radd, der in dieser Nacht über den Jackson Square schlenderte. Seine gedrungene Gestalt, die wild zerzausten Haare und sein stechender Blick hielten selbst die vorlautesten Dirnen davon ab, ihm ein entsprechendes Angebot zu machen. Die leichten Mädchen blickten unwillkürlich in eine andere Richtung, wenn der Mann in dem langen Mantel an ihnen vorüber ging. Manche empfindsamen Gemüter unter ihnen verspürten dabei vielleicht sogar ein unangenehmes Frösteln in der Art eines kurzen, eisigen Windhauchs, doch schon lange bevor Radd wieder in Richtung Van Ness Avenue verschwunden war, hatte ihn jede der Damen aus ihrem Gedächtnis gestrichen.
Der nächtliche Wanderer störte sich nicht an der fehlenden Aufmerksamkeit, ganz im Gegenteil. Er war sich durchaus seiner fehlenden oder gar abstoßenden Wirkung auf das weibliche Geschlecht bewusst; die Indifferenz, die ihm seine Umwelt entgegenbrachte, erschien ihm mittlerweile aber eher wie ein Geschenk, wie eine Gabe. Noch Jahre zuvor hatte ihn dieser Umstand in tiefste Depressionen stürzen lassen, nun aber genoss er es regelrecht, wenn eine junge Frau hastig seinem Blick auswich. Der Hochmut der Menschen ließ ihn regelrecht unsichtbar werden. Und Joseph Radd tat das, was vermutlich jeder Unsichtbare getan hätte: Er nahm sich ganz einfach das, was er wollte.
An jenem Vorabend der Katastrophe jedoch sollte seine Suche ergebnislos verlaufen. Stundenlang hatte er die Straßen zwischen Embarcadero und Chinatown durchstreift, doch was ihm begegnete, wollte nicht in sein Beute-Schema passen.
Radd stand nicht der Sinn nach verkommenen, fetten Huren, sondern nach ›Jugend‹, ›Schönheit‹, ›Unschuld‹ und ›Reinheit‹.
Er war auf der Suche nach etwas, was die Natur oder der Schöpfer ihm selbst schmächlichst versagt hatten, und er wollte sich auf seine ganz besondere Art dafür bedanken.
Auf dem langen Weg zurück zu seinem Haus in der Pierce Street malte sich Radd die unterschiedlichsten Szenarien mit sich und seiner zukünftigen Traumfrau aus. Er hatte ganz sicher noch nie ein Bild von Hieronymus Bosch gesehen, die Bilder in seinen Gedanken ließen allerdings selbst die apokalyptischen Visionen des berühmten Malers verblassen. Und dennoch lächelte er.
Gegen 5 Uhr 12 am nächsten Morgen schlug Radd verwirrt die Augen auf. Es fiel ihm schwer, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden, doch er glaubte, Etwas oder Jemand habe an seinem Bett gerüttelt. Da er im schwach erhellten Schlafzimmer jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen konnte, ließ er sich stöhnend wieder ins Bett zurückfallen und döste weiter. Diesmal waren ihm nur wenige Sekunden vergönnt. Gleich zu Beginn der schweren Erschütterungen löste sich eine Holzplatte von der Decke und landete recht unsanft auf dem Bauch des Schläfers. Vor Überraschung und Schmerz schreiend, sprang Radd aus dem Bett und presste sich fest gegen den Türrahmen. Um ihn herum schien alles mit Leben erfüllt zu sein. Boden, Wände, Schränke und Stühle schwammen zitternd auf den grollenden Wogen des Bebens. Durch das dumpfe Dröhnen hindurch hörte er, wie in der Küche Geschirr zersplitterte; nur wenig später stürzte direkt neben ihm ein schwerer Garderobenschrank um. Alles schwankte. Nur mühsam hielt er sich im Türrahmen. Die Lampe im Flur pendelte, als befände sie sich auf einem sturmumtosten Schiff.
Radd begann langsam bis 10 zu zählen. Er war an Erdbeben gewöhnt; als Jugendlicher hatte er 1885 sogar ein recht schweres miterlebt, dieses hier jedoch war eine vollkommen neue Erfahrung. Als er bei 10 angekommen war, vibrierte der Boden noch immer unter seinen Füßen. Die Stöße hatten sogar noch an Stärke gewonnen. Radd schloss die Augen und tat etwas, woran er sich nur schwach aus frühester Kindheit erinnerte: Er betete.
Die tatsächlichen etwa 47 Sekunden, die das erste Beben dauerte, dehnten sich für ihn und viele seiner Mitmenschen zu unendlichen Minuten. Dann plötzlich hörte es auf.
Langsam rutschte Radd den Türrahmen hinunter und atmete tief ein. Fast augenblicklich musste er husten, da durch den herabgefallenen Deckenputz viel Staub in der Luft war. Es störte ihn aber nicht; die Schmerzen in seinen Bronchien zeigten immerhin, dass er noch am Leben war.
Alles blieb ruhig. Als er schließlich aufstand, waren seine Beine das einzige, was noch zitterte. Hastig zog er sich Hose und Schuhe an und inspizierte vorsichtig die entstandenen Schäden. Er wollte Licht machen, doch überall war der Strom ausgefallen. Glücklicherweise war es draußen schon recht hell. Das, was er in der dämmrigen Wohnung erkennen konnte, sah schlimmer aus, als es vermutlich war. Schränke und Bücherborde waren umgestürzt, Geschirr lag in Scherben, doch die Grundsubstanz des Hauses hatte offenbar kaum Schaden genommen. Unangenehm war lediglich, dass im Schlafzimmer und Flur größere Deckenteile aus Stuck und Holz herabgefallen waren.
Radd war gerade dabei, ins Erdgeschoss hinunter zu gehen, als die Erde erneut bebte. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Warum hatte er nur so lange gezögert? Diesmal kam er möglicherweise nicht so glimpflich davon.
Mit fünf, sechs großen Sprüngen raste er die Treppe hinunter zur Haustür. Noch ehe er den rettenden Ausgang erreicht hatte, war wieder Ruhe eingekehrt. Diesmal hatte das Beben nur wenige Sekunden gedauert. Dennoch zerrte Radd wie wild an der Tür. Ohne Erfolg. Für einen kurzen Moment überfiel ihn ein Anflug von Panik. Durch die Erschütterungen hatte sich die Tür verkeilt, und nun saß er hier gefangen wie eine Ratte.
»Radd, die Ratte«, kicherte er. Es klang allerdings mehr wie ein Schluchzen. Gleich nach dem Tod seiner Mutter hatte er seinen Namen von Radovanovic in Radd umändern lassen, doch dummerweise war ihm dabei entgangen, welch unangenehmen Klang nun auch sein amerikanischer Name besaß. In diesem Moment erschien er ihm wie eine makabre Prophezeiung.
Ungläubig hörte er plötzlich das Aufschnappen des Schlosses. Seine blind herumfuchtelnden Hände hatten endlich den zweiten Sicherheitsschieber gefunden, den er in der Aufregung vollkommen vergessen hatte.
Die Tür öffnete sich so mühelos, als wäre nichts geschehen. Das jedoch, was hinter ihr lag, hatte eine unwirkliche Metamorphose durchlaufen. Vorsichtig trat Radd auf den Bürgersteig. Die Straße sah aus wie ein Schlachtfeld; überall lagen kleinere und größere Steinbrocken und zersplittertes Glas verstreut. Nur etwa 40 Yards von seinem Haus entfernt hatte das Beben die Straße um etwa einen Fuß angehoben und den Asphalt in einer geschwungenen Welle erstarren lassen. Mehrere Sturzbäche suchten sich ihren Weg durch den Schutt. Radd blickte die Straße hinauf. Irgendwo dort oben musste eine größere Wasserleitung geborsten sein.
Schreie und aufgeregtes Stimmengewirr drangen zu ihm herüber. Die Menschen, die zumeist noch ihre Pyjamas oder Nachthemden trugen, liefen ziellos wie aufgescheuchte Hühner durch das Chaos. Ein zaghaftes Lächeln huschte über Radds Züge. Als erneut ein kurzes Nachbeben einsetzte, wartete er das Ende gelassen ab. Seine Angst war mit einem Mal einem Gefühl der Ruhe und der Freude gewichen. Die Stadt war keineswegs ein Ort der Trauer und Zerstörung; für ihn präsentierte sich San Francisco an jenem Morgen mehr denn je wie eine reich gedeckte Tafel, die nur darauf wartete, von ihm geplündert zu werden. Das grelle Heulen der Sirenen und das Läuten der Kirchenglocken war dabei eine wundervolle Tischmusik. Während Radd sich für den ›Festschmaus‹ fein machte, schallte sein Kichern durch das ganze Haus.
Um etwa 5 Uhr 50 begann der Mann in dem langen Mantel seinen Streifzug. Es hatte noch zwei weitere Nachbeben gegeben, doch nun schien sich der grollende Erd-Dämon endlich beruhigt zu haben. Die zahlreichen Rauchfahnen, die mittlerweile im Osten der Stadt emporstiegen, bewiesen allerdings, dass das Unglück noch nicht vorüber war. Radd hasste Feuer. Woher diese angeborene Abneigung kam, wusste er nicht zu sagen, doch selbst die Flamme einer Petroleumlampe bereitete ihm Unbehagen. Als er den Rauch entdeckte, entschied er sich daher kurzerhand dafür, in nördliche Richtung zu gehen.
Die Fillmore Street erwies sich als gute Wahl. Während die benachbarten Straßen stark beschädigt waren und mancherorts bereits kleinere Feuer loderten, schien die Fillmore die Katastrophe nahezu unversehrt überstanden zu haben. Nur selten einmal musste Radd über zerborstene Backsteine oder Dachziegel hinwegsteigen. Da er sich kein festes Ziel gesetzt hatte, nutzte er die Zeit, um das Geschehen um sich herum ausgiebig zu beobachten. Oft blieb er stehen und amüsierte sich über die Hektik seiner Mitbürger. In kopfloser Furcht vor den nahenden Flammen hatten viele Menschen einfach nach dem gegriffen, was sich gerade in ihrer Nähe befand. So sah er einen Mann, der einen Karton voll mit Stiefeln schleppte; eine Frau trug ein Bügelbrett mit drei Bügeleisen und einem leeren Vogelkäfig darauf.
Radd unternahm nun immer öfter Abstecher in die Seitenstraßen. Das überall herrschende Chaos schützte ihn noch mehr als die Dunkelheit der Nacht. Er konnte sein Glück kaum fassen. Selbst in einem Clownskostüm hätte man ihn keines Blickes gewürdigt. Er war unsichtbarer als unsichtbar.
Um sein Glück zu erproben, zerschlug er die Fensterscheibe eines Süßwarengeschäfts und stopfte sich die Taschen mit Pralinen voll. Niemanden schien es zu kümmern. Auf Höhe der Bush Street plünderte er weitere Läden und Wohnungen, in die das Beben große Löcher gerissen hatte. Seine Beute bestand aus ein wenig Kleingeld, zwei Taschenuhren, einem silbernen Feuerzeug und einer Edelstein-Brosche. Radd war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Das Geld, das ihm ein Pfandleiher dafür geben würde, ersparte ihm mindestens vier Wochen Lagerarbeit am Pier. Ihm gehörte zwar das Haus seiner Mutter, den Unterhalt für das tägliche Leben musste er jedoch aus eigenen Mitteln bestreiten. Natürlich hätte er ein oder zwei Zimmer vermieten können, ihm missfiel aber der Gedanke, das Haus mit einem fremden Menschen teilen zu müssen. Zudem hätte ein neugieriger Mieter auch etwas von den anderen Gästen erfahren können, die er zeitweilig im Keller beherbergte.
Schwere Detonationen drangen nun immer häufiger an sein Ohr. Irgendwo im Süden wurde offenbar versucht, das Feuer mit Dynamit zu bezwingen.
Als er gegen Mittag die Hügel von Pacific Heights erreicht hatte, sah er erstmals das wahre Ausmaß der Katastrophe. Überall südlich und östlich von ihm stieg dunkler Rauch auf. Am stärksten schienen die Brände auf der Market und Mission Street zu wüten. Bis hinüber zum Embarcadero stand alles in Flammen.
Im Alta Plaza Park suchte er sich ein schattiges Plätzchen mit Blick nach Süden und verzehrte genüsslich die Lebensmittel, die er ebenfalls in den Häusern gefunden hatte. Aus den tiefen Taschen seines Mantels kamen so ein kleines Brot, ein Stück Käse, zwei Äpfel und sogar eine Flasche Rotwein zum Vorschein. So ungefähr musste sich Nero gefühlt haben, als er das brennende Rom betrachtete, dachte er voller Wonne. Mit einer Praline auf der Zunge schlief er ein.
Er fand das Mädchen am frühen Nachmittag. Nachdem mehrmals berittene Soldaten die Straßen patrouilliert hatten, wagte sich Radd nur noch dann auf fremde Grundstücke, wenn kein Zeuge in der Nähe war.
Die Häuser längs des Broadways waren alle prächtige Beweise für den Wohlstand ihrer Besitzer. Das Risiko lohnte sich also. Als er sich unbemerkt in den umzäunten Vorgarten einer Villa schlich, hoffte er auf kostbaren Schmuck, vielleicht sogar Gold oder Diamanten; auf das, was ihn dort schließlich erwartete, war er nicht vorbereitet.
Radd hatte das Haus vor allem deshalb ausgesucht, weil es von allen Anwesen die größten Schäden davongetragen hatte. Ein Seitenturm und der Wintergarten waren vollkommen zerstört worden, die breite Eingangspforte lag unter den Trümmern eines gotischen Maßwerks begraben – ein lieblicher Anblick. Falls die Bewohner nicht im Schlaf getötet worden waren, so hatten sie mit Sicherheit das Grundstück längst verlassen. So hoffte er jedenfalls.
Vorsichtig näherte er sich dem Schuttwall des ehemaligen Turms. Am Fuß des Ruinenberges lagen zahlreiche bunte Keramikscherben. Zwei dunkle, runde Objekte im Gras daneben entpuppten sich als die abgetrennten Köpfe steinerner Tierskulpturen. Eins zeigte einen Hund oder Schakal, das andere einen Falken. Radd verstand nichts von ägyptischer Kunst, er begriff aber, dass im Inneren noch weitaus wertvollere Antiquitäten zu erwarten waren. Angespannt blickte er nach oben und analysierte die Lage. Wenn es ihm gelang, die Trümmer zu besteigen, so würde er von dort direkt in den ersten Stock des Haupttraktes gelangen können. Die Aufgabe war unangenehm aber lösbar.
Der entschlossene Bergsteiger hatte gerade die Hälfte des Hügels erklommen, als er zwischen zwei Mauerblöcken ein Bein herausragen sah. Neugierig begann er damit, den Körper frei zu legen. Der Anblick, der sich ihm schließlich bot, hätte viele entsetzt die Augen schließen lassen, Radd dagegen studierte jede Einzelheit des Leichnams mit der Nüchternheit eines Chirurgen.
Das Bein gehörte einer älteren Frau, deren linke Kopfhälfte von einer Säule vollkommen zerschmettert worden war. Alle Gliedmaßen hatten sich unter dem Druck der übrigen Mauerteile in anatomisch unmöglichen Winkeln verdreht. Radd zuckte nur mit den Schultern. Für ihn war der grausige Fund ein gutes Zeichen; immerhin war nun davon auszugehen, dass keiner der Besitzer mehr die Polizei alarmieren würde.
Er erreichte schließlich den Gipfel, von wo er ohne große Mühe durch einen schmalen, sehr hohen, nun fensterlosen Wanddurchbruch einsteigen konnte. Im Inneren des Hauses setzte sich das Chaos fort. Schwere Stützbalken waren von der Decke gefallen und hatten sich teilweise ganz durch den Fußboden gebohrt. Noch vorsichtiger als auf dem Schuttberg bewegte sich Radd vorwärts. Durch die verschobene Geometrie nahezu aller Objekte hatte er einige Mühe, die Funktion des Raumes zu entschlüsseln. Das mit aufwändigen Schnitzereien verzierte Fußteil eines Bettes, das irgendwo flach auf dem Boden lag, gab ihm den notwendigen Anhaltspunkt. Ein Schlafzimmer. Nur weitere Leichen statt Geld, dachte er geschäftsmäßig.
Er war gerade dabei, einen der Nebenräume zu erreichen, als er ein schwaches Wimmern vernahm. Es klang wie das Miauen einer Katze.
Verwirrt blieb er stehen und suchte nach der Quelle des Geräuschs. Radd empfand vor Tieren weitaus mehr Respekt als vor jedem menschlichen Wesen. Tiere waren für ihn unschuldige Kreaturen, die nicht für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden konnten, Menschen dagegen besaßen ein Gewissen, ein klares Bewusstsein, von dem, was richtig und was falsch war; und stets entschieden sie sich für die falsche Möglichkeit.
Keuchend, auf allen Vieren kriechend, zwängte er sich in den hinteren Teil des Zimmers. Als er das Mädchen sah, waren alle Gedanken an verletzte Katzen, an Schmuck oder Gold mit einem Mal vergessen. Trotz des weißen Staubs, der ihr Gesicht bedeckte, erkannte Radd, wie überaus schön sie war. Ihr Alter war schwer zu bestimmen. Er schätzte sie auf 15 oder 16 Jahre. Auch ihr langes schwarzes Haar war durch Gips und Mörtel gräulich weiß gefärbt worden. Radd zuckte zusammen. Hatte er sich etwa von einer Marmorstatue in die Irre führen lassen? Erst als er einen ihrer Arme umfassen konnte, spürte er, dass diese Perfektion tatsächlich menschlicher Natur war. Und sie lebte!
Die schöne Unbekannte war von einem Schrank eingekeilt worden, der wiederum unter einem Deckenbalken lag. Wollte er sie befreien, so musste er den Schrank um eine Winzigkeit anheben. Die ersten Versuche, das Möbelstück mit Händen oder Füßen zu bewegen, schlugen fehl. Radd empfand dabei die Tatsache, dass das Mädchen ohnmächtig war, als äußerst hilfreich. Panik und Schmerzen konnten zu unkontrollierten Bewegungen führen. Angesichts des instabilen Zustandes des Fußbodens galt es aber, jedes ›Zuviel‹ an Dynamik zu vermeiden.
Die Bergung dauerte fast eine Stunde. Erst mit Hilfe eines langen Holzbretts, das Radd als Hebel einsetzte, gelang es ihm, den Schrank um wenige Zentimeter nach hinten auf ein höheres Hindernis zu schieben. Als er die Verschüttete endlich hervorziehen konnte, war er selbst einer Ohnmacht nahe. Seine Mühe hatte sich aber gelohnt; bis auf ein paar Schrammen schien das Mädchen unverletzt zu sein. Radd strahlte über sein verschwitztes Gesicht. Und was man gefunden hat, das darf man auch behalten, dachte er.
Nach einer kleinen Ruhepause fühlte er sich wieder kräftig genug, um den Abstieg zu wagen. Zu seiner Freude schien sein schönes Fundstück fast nichts zu wiegen; dennoch gestaltete sich der steile Weg über die Ruinen als äußerst schwierig. Mehrmals drohte er zusammen mit seiner kostbaren Fracht kopfüber nach unten zu stürzen; zu seinem Glück fand er jedoch immer wieder einen rettenden Halt.
Unten angekommen legte er das Mädchen auf ein freies Rasenstück. Als Unterlage diente sein Mantel, den er vor der Kletterpartie hier zurückgelassen hatte.
Nachdenklich betrachtete er den leblosen Körper. Seine neue Freundin brauchte unbedingt etwas zu trinken; als er sie fand, hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach seit mehr als 10 Stunden unter den Trümmern gelegen. In Ermangelung von Wasser versuchte er ihr daher, den Rest seines Rotweins einzuflößen. Das Mädchen erwachte nicht vollständig; mehrmals jedoch verschwand die Flüssigkeit in ihrer Kehle.
Etwa gegen 15 Uhr brach Radd auf. Da mittlerweile auch immer mehr Menschen den Broadway bevölkerten, wurde ihm ein hohes Maß an Geduld abverlangt, bis er das Anwesen endlich unbemerkt wieder verlassen konnte. So schnell es seine Last zuließ, hastete er zurück zur Fillmore und tauchte sofort im Gewirr der Leute unter. Der größte Teil des Flüchtlingsstroms bewegte sich zwar nach Norden in Richtung ›Marina‹ und ›Presidio‹, kaum jemand beachtete aber den Irrläufer. Nur einmal sprachen Radd zwei besorgte Frauen wegen seines Ziels an. Er erzählte ihnen, er würde seine Tochter ins Park Emergency am Golden Gate Park bringen und eilte unbehelligt weiter.
Erst als er nur noch wenige Blocks von seinem Haus entfernt war, verlangsamte er seine Schritte. ›Unsichtbarkeit‹ hin oder her, wenn er sich seiner Beute wirklich gefahrlos widmen wollte, musste er den Schutz der Dunkelheit abwarten. Er wandte sich also nach Osten und fand nach einigem Suchen in den Überresten einer ehemaligen Schuhmacherei den geeigneten Unterschlupf. Das Mädchen erwachte kurz, und Radd nutzte die Gelegenheit, um ihr den Rest des Weins zu geben. Aus Erfahrung kannte er den nützlichen Nebeneffekt des Alkohols: Durch seine Mithilfe verwandelte sich die Ohnmacht seiner kleinen Freundin übergangslos in eine schläfrige Benommenheit. Nur in diesem Zustand konnte er sie in seine Wohnung bringen. Ein gefesseltes und geknebeltes Mädchen hätte wohl dagegen selbst in den derzeit herrschenden Wirren für Aufsehen gesorgt.
Das Glück war auch weiterhin auf Radds Seite; durch den immer dichter werdenden Rauch hatte die Dämmerung deutlich früher eingesetzt. Gegen 18 Uhr war es bereits stockdunkel.
Radd wartete zur Sicherheit noch eine weitere Stunde und machte sich dann auf den Weg zur Pierce Street. Unterwegs begegneten ihm nur wenige Menschen, viele von ihnen saßen mitten auf der Straße an kleinen Feuern und bereiteten sich ihre Mahlzeiten zu. Wie er von Flüchtlingen erfahren hatte, war über die Stadt der Ausnahmezustand verhängt worden. Jedes offene Licht in den Häusern war bei Todesstrafe verboten.
Erschöpft aber überglücklich erreichte er endlich sein Haus. Trotz des Verbots und seiner Abneigung gegenüber Feuer knipste er das gestohlene Feuerzeug an und leuchtete sich – umständlich seine Last balancierend – den Weg hinunter in den Keller. Hier war er in Sicherheit. Da der schmale, niedrige Raum kein Fenster besaß, würde auch kein Licht nach außen dringen. Und auch keine Schreie.
Er legte das Mädchen auf eine Pritsche und deckte sie mit seinem Mantel zu.
Zu schade, dass ich so erschlagen bin, dachte er. Wie gerne würde ich mein Geschenk schon heute auspacken. - Aber morgen wirst du mehr Freude daran haben, beruhigte er sich selbst. Und übermorgen. Und überübermorgen …
Nach einem letzten wehmütigen Blick schlurfte er endlich hinaus. Die Tatsache, dass die Glühbirne für längere Zeit keinen Strom erhalten würde, bereitete ihm noch größeres Unbehagen. Nur äußerst widerwillig würde er Kerzen oder Öllampen mit nach unten nehmen.
Er versperrte die finstere Zelle mit einer Lattentür und sicherte sie zusätzlich mit einem großen Vorhängeschloss. Auf dem Weg nach oben lächelte er. Für dieses engelhafte Wesen würde er selbst offenes Feuer in Kauf nehmen. Schließlich wollte er doch sehen, was er so mühsam ausgegraben hatte. Und zwar jede Einzelheit.
Am nächsten Morgen war Radd schon sehr früh wieder auf den Beinen. Er sammelte das restliche Wasser, das sich noch in den Leitungen befand in einem Topf und brachte ihn zusammen mit einer Petroleumlampe in den Keller. Das Mädchen schlief noch immer.
Behutsam begann er mit einem Schwamm, ihr Gesicht, sowie ihre Arme und Beine vom klebrigen Staub zu befreien. Mit jeder Schicht, die er abtrug, wurde die Schlafende schöner. Das dünne Nachthemd, das sie trug, verhüllte dabei kaum ihre übrigen Reize. Mit fiebrigen Bewegungen erkundete der Schwamm nach und nach auch diese Regionen.
Das Wasser hatte eine belebende Wirkung; unter leisem Stöhnen kam das Engelswesen langsam wieder zu sich. Radd starrte in die dunkelsten Augen, die er jemals gesehen hatte.
»Was ist geschehen? Wo bin ich?«, fragte sie verwirrt. Radd teilte ihr nur das Wichtigste mit. »Es hat ein Erdbeben gegeben«, sagte er, »ein sehr schweres. Die halbe Stadt ist zerstört. Du wurdest verschüttet. Ich kam zufällig vorbei und habe dich gerettet. Nun bist du in Sicherheit. Wir sind bei mir zu Hause. Du bist aber noch zu sehr erschöpft … du musst dich ausruhen.«
Sein Gast wollte wissen, was mit den anderen Bewohnern ihres Hauses geschehen war, doch Radd drückte sie sanft auf ihr Bett zurück.
»Es wird sich alles klären«, versprach er ihr, »aber vorerst musst du erst einmal zu Kräften kommen. Sicherlich wird es in dem Chaos noch einige Wochen dauern, bis jeder seine Angehörigen gefunden hat. Du wirst sehen, es ist alles gut ausgegangen. Wir müssen nur etwas Geduld haben.« Bevor das Mädchen wieder eindämmerte, fragte er sie nach ihrem Namen.
»Damy«, antwortete sie schläfrig. »Mit einem ›a‹.«
Oben in der Küche bemühte sich Radd so schnell es ging, ein paar Sandwiches zu machen. Jede Sekunde zählte. Damy brauchte zwar etwas zu essen, viel wichtiger aber war es, ihre Lethargie so stabil wie möglich zu halten. Als er ihr die Brote brachte, hatte er daher auch eine Flasche Wein aus dem eigenen Vorrat dabei.
Mit sanftem Druck zwang er das Mädchen, zwei große Gläser des schweren Roten zu trinken. Damy protestierte nicht; innerhalb kürzester Zeit hatte sie mehr als die Hälfte der Flasche geleert.
Der Alkohol ließ ihren geschwächten Körper schon bald wieder in einen tiefen Schlaf fallen. Erst jetzt hielt es Radd für angebracht, Damy wie all die anderen Mädchen, die er zuvor in sein Haus gelockt hatte, zu behandeln. Aus einer Kiste holte er passende Lederriemen und Stricke und band ihre Hände und Füße fest an die Metallpfosten der Pritsche. An diesem Morgen verging sich Radd zum ersten Mal an dem Mädchen.
Seltsamerweise war bei ihm das erwartete Gefühl der Befriedigung ausgeblieben. Er war es gewohnt, dass sich die Mädchen unter ihm wild aufbäumten, dass sie weinten und gellende Schreie ausstießen, nur so fühlte er sich als uneingeschränkter Herr über Angst und Panik, als Gott. Damy hatte jedoch keinen Muskel bewegt. Während er auf ihr lag, konnte er sich sogar des abscheulichen Eindrucks nicht erwehren, eine Leiche zu schänden.
Radd führte die todesähnliche Starre auf ein Übermaß an Alkohol zurück und beschloss daher, ihr stattdessen nur noch Obstsäfte zu verabreichen.
Damy trank den Apfelsaft mit versteinerter Miene; unentwegt starrte sie dabei ihren Peiniger an. Radd war sichtlich irritiert. Dieses Schweigen war einfach unnatürlich. Und dann erst diese Augen. Es wollte ihm nie gelingen, dem Blick aus diesen funkelnden, schwarzen Kohlen lange standzuhalten. Eine Woge aus eisigem Hass schlug ihm daraus entgegen.
Als er sie gegen Mittag erneut vergewaltigte, verband er ihre Augen zuvor mit einem Schal. Auch diese Maßnahme erwies sich jedoch als wenig hilfreich. Obwohl Damy nun offenbar wieder bei klarem Bewusstsein war, änderte sich nichts an ihrem Verhalten. Nicht einmal das kleinste Stöhnen oder Jammern entrang sich ihrer Kehle.
In seiner ohnmächtigen Wut schlug und kratzte er sie, aber selbst jetzt zeigte sie keine Reaktion. Der Einzige, der nun schrie und tobte, war Radd selbst.
»Was glaubst du, wer du bist, du mieses kleines Flittchen, dass du es wagst, mir zu trotzen?«, brüllte er sie an. Er riss ihr die Binde von den Augen, doch sie starrte ihn nur stumm an. Radd traute seinen Augen nicht, als er ein schmales Lächeln auf ihren Lippen zu entdecken glaubte.
»Du … du lachst?«, ereiferte er sich mit überschlagender Stimme. »Du WAGST es, mich, deinen HERRN und GOTT auszulachen?«
Alles in ihm sehnte sich danach, dieses widerspenstige Mädchen auf der Stelle zu erwürgen. Seine Mühe mit ihr sollte sich aber bezahlt machen. Radd hatte sie nicht den ganzen Weg von Pacific Heights hierher getragen, nur um sie schon am zweiten Tag wieder zu töten. Er wollte das Geschenk, das ihm das Beben gemacht hatte, so lange wie möglich nutzen. Er wollte seinen Spaß damit haben, für viele Tage und Wochen. Wenn nicht auf diese Weise, dann eben auf eine andere.
Den Rest des Tages verbrachte er damit, seinen Frust in Wein und Brandy zu ertränken. Gegen Abend war er so betrunken, dass er nicht mehr an seinen Gast im Keller dachte.
Der Freitag dämmerte mit einem blutroten Himmel. Noch immer waren die Feuer nicht unter Kontrolle gebracht worden und fraßen sich nun zu den Millionärsvierteln am Nob Hill hinauf. Tausende von Menschen flüchteten sich zu sicheren Orten wie dem ›Presidio‹ oder dem ›Golden Gate Park‹.
Joseph Kendal Radd nahm von alledem keine Notiz. Für ihn hielt das Beben eine ganz besondere Prüfung bereit, und er würde alles daran setzen, sie glanzvoll zu meistern. Sorgfältig platzierte er die dafür notwendigen Instrumente auf einem Tablett: eine Zange, einen Hammer, eine Packung Nägel, ein stumpfes Messer, einen Schraubenzieher und ein Skalpell.
Heute war der große Tag der Wahrheit. Heute würde er dafür sorgen, dass dieses verderbte Mädchen niemals mehr lachen würde. Und er würde stundenlang in ihre verfluchten, schwarzen Augen starren.
Als Radd die Kellertür aufschloss, erwartete ihn eine böse Überraschung. Damy stand mitten im Raum. Ihre Arme hielt sie ausgebreitet, als wollte sie ihn umarmen. An ihrem eisigen Blick erkannte Radd aber sofort, dass diese Geste täuschte. Vor Schreck ließ er sein Tablett und die Lampe fallen und stolperte zwei Schritte zurück. Erst jetzt erkannte er, dass das Mädchen von einem seltsam irisierenden Licht umspielt wurde.
»Wie … wie …?«, stotterte er hilflos. Seine Gedanken überschlugen sich in dem Versuch zu begreifen, wie sich die Gefangene hatte befreien können. Nur Sekunden später geschahen Dinge, die sein Vorstellungsvermögen vollends überfordern sollten.
Noch während Radd nach Worten rang, schlängelte sich ein schmales Petroleumrinnsal aus der zerbrochenen Lampe auf das Mädchen zu. Die dünne, brennende Kerosin-Schlange erreichte die nackten Füße und kletterte wie ein lebendiges Reptil an den Beinen empor. Mit wachsendem Entsetzen beobachtete Radd, wie sich das Feuer unter dem Nachthemd nach oben schlängelte, in Brusthöhe teilte und zuckend auf die immer noch ausgestreckten Hände zulief. Damy verharrte dabei auch weiterhin in ihrer statuenhaften Haltung. Mit keiner noch so winzigen Regung ließ sie erkennen, ob sie die Hitze der Flammen spürte.
Radd glaubte, in einem Albtraum gelandet zu sein. Längst hatte er aufgegeben, das ganze Geschehen begreifen zu wollen. Allein, dass der dünne Stoff des Nachthemdes bislang kein Feuer gefangen hatte, war für ihn schon wundersam genug.
Auf den Handflächen des Mädchens hatten sich die Feuerschlangen nun zu kleinen Kugeln zusammengerollt, zu kleinen Sonnen, in der Größe von Tennisbällen. Radd sah die Bewegung nicht, doch plötzlich wurde einer der Bälle in seine Richtung geschleudert. Er dachte nicht einmal daran, dem Geschoss auszuweichen.
Die Miniatur-Sonne traf ihn genau zwischen den Beinen, wo sie augenblicklich seine Hose entzündete. Schon nach wenigen Augenblicken wurden die Schmerzen unerträglich. Schreiend und wild mit den Armen schlagend warf sich Radd auf den Boden. Wie ein Epileptiker wälzte er sich hin und her, doch es wollte ihm nicht gelingen, die Flammen zu ersticken. Stattdessen fraß sich das beharrliche Feuer langsam einen Weg bis hinauf zu seiner Brust.
Das feuerschleudernde Mädchen achtete kaum auf den Mann, der so bizarr von der Rolle des Täters in die Rolle des Opfers übergewechselt war. Mit noch immer versteinerter Miene warf sie den zweiten Feuerball gegen die Decke ihres Gefängnisses und verließ den Keller.
Mit unmenschlichen Kräften musste es Radd gelungen sein, die Kellertreppe zu erklimmen. Damy war kaum aus dem Haus getreten, als der brennende Mann schreiend durch die Haustür stürzte. Das barfüßige Mädchen drehte sich ruhig um. In einer ihrer Hände hatte sich plötzlich ein Feuer in der Größe eines Basketballs gebildet. Ein Junge aus der Nachbarschaft namens Malcolm DiLucca sah, wie daraufhin ein feuriger Meteor auf das Haus zuraste und den schreienden Joseph Radd mit sich ins Innere riss. Genau in dem Moment, in dem das Mädchen ungerührt seinen Weg fortsetzte, gab es eine lautlose Explosion, und das ganze Haus verschwand hinter einer gigantischen, blutroten Feuerwand.
Trotz seiner Angst folgte DiLucca der Fremden ein Stück die Straße hinauf. Zu seinem Schrecken musste er mit ansehen, wie sich das Feuer nach und nach über ihre Arme bis hinauf zum Kopf ausbreitete. Noch bevor sie die Waller Street erreicht hatte, stand die junge Frau praktisch halb in Flammen. Und trotzdem ging sie unaufhaltsam weiter.
Vermutlich irrte Damy den ganzen Tag über in der Stadt umher, am Samstag allerdings erreichte sie schließlich das Haus ihrer Familie. Niemand weiß, was sie in den Ruinen gesucht und was sie dort gefunden haben mag. Zeugen glauben eine kleine Statue erkannt zu haben. Ihr Vater, Julius William Blatchford, hatte viele Fundstücke seiner archäologischen Grabungen im Haus aufbewahrt; ob es sich um ein derartiges Artefakt gehandelt haben mag, lässt sich nur mutmaßen. In ihrer Trauer, vielleicht aber auch um Spuren zu verwischen, beschied die brennende Frau den Ruinen des Blatchford-Anwesens dasselbe Schicksal wie zuvor dem Haus in der Pierce Street.
Es ist anzunehmen, dass viele der Hausbrände, die nach dem 22. April westlich der Fillmore Street ausbrachen, ebenfalls von ihr verursacht wurden. Immer wieder erfuhr ich von ›lautlosen Explosionen‹ und Feuern, die so heiß waren, dass selbst Knochen darin verbrannten.
Doch warum diese weiteren Zerstörungen? Hatten die Erlebnisse in der Pierce Street die Frau wahnsinnig werden lassen? Oder waren ihr Zorn, ihre Wut, so groß, dass sie mit dem Vernichtungswerk einfach nicht mehr aufhören konnte? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob die junge Frau, die die ›Flammende Jenny‹ genannt wurde, tatsächlich Damy Blatchford war. Nach dem verheerenden Brand fanden sich in den Ruinen nicht mehr die geringsten Anzeichen menschlicher Überreste. Das, worauf ich meine Vermutungen stütze, ist lediglich die Aussage einer Zeugin, die mir glaubhaft versicherte, die brennende Frau habe eine frappierende Ähnlichkeit mit der jungen Miss. Blatchford gehabt.
Es bleibt eine vage Vermutung, doch selbst wenn sie zuträfe, so weiß ich nicht, was ich damit anfangen kann. Wer war diese Damy? Oder sollte ich besser fragen: Was? Woher kamen ihre schrecklichen Kräfte, und was geschah mit ihr nach den Feuersbrünsten? - So intensiv ich auch geforscht habe, aber nach dem April 1906 verliert sich ihre Spur. Sie verschwand, genauso wie es eben die ›Flammende Jenny‹ auch immer getan hatte.
Die Identität von Joseph Kendal Radd kann ich dagegen sehr gut belegen. Ein Bericht im ›Chronicle‹ vom 4. Juni 1909 lässt keine Zweifel mehr offen: