Читать книгу Lass das Land erzählen - Assaf Zeevi - Страница 10
ОглавлениеDurchgangsland
Der Mönch Bargil Pixner lebte 33 Jahre in Israel und schrieb in seinem Buch: »Fünf Evangelien schildern das Leben Jesu; vier findest du in Büchern – eines in der Landschaft. Liest du dieses fünfte, eröffnet sich dir die Welt der vier.« 1 Das gilt für die gesamte Bibel. Die Landschaften der Bibel sind ein Teil von ihr. Wenn du sie verstehst, erklären sie dir vieles aus der biblischen Erzählung.
Ein Geheimnis des Landes verraten die Zugvögel. Wer in Westeuropa lebt, denkt intuitiv, die Zugvogelroute nach Afrika führe über Italien oder Gibraltar, aber die große Zugvogelmasse lebt viel weiter östlich, von Skandinavien bis Sibirien. Auf dem Weg nach Afrika umfliegen sie das Mittelmeer, aber auch die großen Wüsten in Asien. Trichterförmig treffen sich ihre Routen über Israel. Das kleine Land ist ein Flaschenhals zwischen Wüste und Meer. Weil weiter südlich das Rote Meer liegt, ist Israel auch die einzige Landbrücke zwischen den drei Kontinenten. Deshalb verläuft die weltweit dichteste Zugvogelstraße über Israel, mit 500 Millionen Zugvögeln zweimal im Jahr.
Bis zur Erfindung des Flugzeugs war diese Landbrücke für Menschen genauso relevant. Nehmen wir gleich ein Beispiel aus der Bibel: Abraham. Abraham stammt aus Ur in Chaldäa im heutigen Irak, 250 km vom Euphrat-Delta entfernt. Von dort geht er ins heutige Israel, damals Kanaan. Genau wie die Zugvögel macht auch Abraham einen Umweg von 1 000 km um die Wüste herum.
Weshalb wird Abraham ausgerechnet in das kleine Land Kanaan geschickt? Als Randgebiet zwischen den Hochzivilisationen im Zweistromland und am Nil war Kanaan nicht wirklich bedeutend. Und gerade dort soll ein Neuanfang gestartet und der Glaube an den einen Gott verkündet werden? Eine wichtige Botschaft an die gesamte Menschheit würden wir heute im Internet verbreiten, damit sie selbst die Menschen in den modernen Metropolen New York oder London erreicht. Das New York von damals lag am Nil, das damalige London am Euphrat. Kanaan war nur ein Gebiet dazwischen, das man durchqueren musste. Ach ja, da gab es noch ein Problem: Es zogen nicht nur Privatpersonen durch Kanaan, sondern auch Armeen. Warst du ein sumerischer König und wolltest Ägypten erobern, musstest du durch Kanaan. Warst du ein Pharao und wolltest Griechenland mit mehr als nur Kriegsschiffen angreifen, musstest du durch Kanaan. Warst du ein Römer und wolltest Nordafrika einnehmen, musstest du zwangsläufig erst Kanaan einnehmen. Wer in Kanaan saß, konnte Europa von Asien und Afrika abtrennen. Es war die A1 der antiken Welt, ohne Umleitungsalternativen. Dieses Fleckchen Er-de hat seine Besitzer so häufig gewechselt wie kaum ein anderes der Welt.
Aber genau da liegt die Erklärung für Abrahams Aussendung: Kanaan war das Durchgangsland schlechthin. Auch in friedlichen Zeiten verlor es nicht an Bedeutung, weil die interkontinentale Straße gut besucht blieb. Du kannst dir vorstellen, wie wichtig dieser Fernweg in einer Welt ohne Telekommunikation war! Und wie entscheidend für die Verbreitung von Nachrichten in einer Welt ohne Internet, Fernsehen, Radio oder Zeitungen. Was hier passierte, wurde schnell in alle Welt getragen.
Zuletzt: Am Nil und im Zweistromland ging es den Menschen im Großen und Ganzen gut. Sie hatten weniger das Bedürfnis nach einem Neuanfang. Ganz anders ging es den Nomaden und Halbnomaden am Rande der Zivilisation, deren einziger Besitz ihre Zelte und Herden waren. Diese Menschen waren offen für Gottes Handeln. Genau dort siedelt Gott Abraham an. Ein präziser Startschuss.