Читать книгу Lass das Land erzählen - Assaf Zeevi - Страница 7
ОглавлениеVorwort
Berühmt. Von keinem anderen Land kennen Menschen in aller Welt so viele Namen von Orten, Bergen, Bächen, Tälern und selbst Straßen wie von Israel. Spätestens im Alter von fünf Jahren wird so gut wie jedes Kind des Abendlandes die Ortsnamen Nazareth, Bethlehem und Jerusalem gehört haben. Mit 10 Jahren können die meisten mit dem See Genezareth etwas anfangen, mit 15 vielleicht auch mit dem Ölberg und dem Garten Gethsemane. Die Namen der Regionen Galiläa, Samarien und Judäa gehören zur Allgemeinbildung in den christlich geprägten Kulturen, wenn auch nicht jeder sie genau einordnen kann. Dabei gibt es nicht viele Länder dieser Größe, die überhaupt Beachtung finden. Warum ist das so? Die Erklärung ist einfach: Die Bibel hat das Land berühmt gemacht. Das Stückchen Land am südöstlichen Mittelmeer ist durch eine ganz besondere Verheißung zum Hauptschauplatz biblischer Geschichte geworden.
Soweit nichts Neues, für manche sogar selbstverständlich. Trotzdem möchte ich mit diesem Buch Neues erzählen, weil Israel viel mehr ist als eine Kulisse. Das Land ist Teil der biblischen Handlung. Dieses Buch wird dir neue Dimensionen eröffnen, die du bisher noch nicht kanntest. Mithilfe von Natur und Landschaft, Sprache, Kultur und Archäologie werden wir das Land besser verstehen lernen. Denn wer das Land der Bibel versteht, versteht auch die Bibel selbst besser.
Bei jeder Bibel, die du in deiner Sprache lesen kannst, handelt es sich um eine Übersetzung. Jeder, der schon mal etwas übersetzt hat, weiß, dass zur Übersetzung immer auch eine Prise Interpretation gehört. Würden wir jedes einzelne Wort direkt übersetzen, käme dabei kein zusammenhängender Text heraus. Ein Übersetzer muss nicht nur den Wortschatz beherrschen, sondern auch die Welt des Verfassers und des Lesers kennen. Manche unglückliche Übersetzung einer Bibelstelle kann unwichtig sein. Andere aber sind kritisch und sogar schädlich – solche werden wir korrigieren. Oft werden uns rabbinische Schriften helfen, eine aus der Bibel bekannte Diskussion in den damaligen Kontext zu stellen. Auch handfeste Beweise wie archäologische Funde werden uns dabei unterstützen, die Bibel besser zu verstehen. Sehr häufig werden uns solche Funde die Genauigkeit des biblischen Berichts bestätigen und diesen ergänzen. Was im Regelfall ein paar Worte eines Bibelverses sparsam beschreiben, wird so auf einmal ganz konkret, echt, glaubwürdig.
Wie oft hörte ich im Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin: »Die Bibel ist kein Geschichtsbuch.« Dahinter steckt die Annahme, die als historisch dargestellten Geschehnisse in der Bibel seien Mythen. Mit »Mythen« sind in diesem Fall »Märchen« und »Unsinn« gemeint. Wer diese Einstellung vertritt, sagt: Die Israeliten waren nicht in Ägypten. Eine Wüstenwanderung gab es nicht, auch nicht die Landnahme. Das Davidische Reich war eine lokale Stammeserscheinung. Die Königreiche Israel und Juda sind zwar nicht ganz erfunden, aber übertrieben dargestellt. Viele biblische Einzelpersonen sind erfundene literarische Figuren, zumindest solange man sie nicht außerbiblisch nachweisen kann. Mir sagte mal ein katholischer Pfarrer vor seiner Kölner Gemeinde, man könne den Jerusalemer Tempel archäologisch nicht nachweisen. Aus Höflichkeit habe ich ihn nicht gefragt, ob er damit auch sagen möchte, dass die Besuche Jesu in diesem nicht nachgewiesenen Tempel ebenfalls nicht nachzuweisen seien und vielleicht sogar Jesus nur eine literarische Fiktion sei.
Hinter solchen Aussagen kann manchmal auch eine gewisse politische Motivation stecken. Denn wenn die Historizität der Bibel abgetan wird, wird auch Israels Entstehung als Nation zum Märchen erklärt. Viele Menschen hält ihr rationales Denken davon ab, an die Bibel und damit an die besondere Bedeutung Israels zu glauben: Jedes Volk erzählt einen Mythos über seine Entstehung, der Mythos der Juden ist eben die Bibel. Doch wenn man die Historizität der Bibel zum Märchen deklariert, dann hält man auch ihre Botschaft für unglaubwürdig. Wenn sowieso alles erfunden ist, was hat die Bibel dann für einen Wert?
Die Wahrheit der Bibel ist in ihrem Land verwurzelt, so wie ein Baum in der Erde. Wer Israel zu Fuß erlebt und den Forschungsstand kennt, sieht klar und deutlich, wie gut die Verfasser von großen Teilen der Bibel das Land kannten – jeden Berg, jeden Hügel, jede Schlucht, jede Straße und jedes Dorf.
Wer die biblischen Geschichten verstehen will, muss das Land verstehen lernen. Am besten geht das vor Ort. Deswegen werden wir in diesem Buch gemeinsam eine »gedankliche Reise« nach Israel machen, die uns dabei hilft, in das Land einzutauchen. Und solltest du doch einmal deinen Koffer packen und eine richtige Reise in Angriff nehmen, kann dir dieses Buch als Vor- oder Nachbereitung dienen, denn selbst wenn man im Land ist, braucht man Hilfe, um seinen Blick zu schärfen.
Bei unserer Reise hangeln wir uns chronologisch an den Ereignissen der Bibel entlang. Zunächst reisen wir 3 800 Jahre in die Vergangenheit, in das Zeitalter der Erzväter. Dann ziehen wir mit Mose durch die Wüste. Über Josuas Eroberungen wird uns das Land selbst erzählen. Wir werden in Geschichten aus der Richterzeit eintauchen, bevor wir in die ruhmreiche Zeit der Könige kommen. Unsere letzte Epoche wird die des Zweiten Tempels sein, an deren Ende Jesus wirkte. Zum Schluss werden wir unseren Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft richten.
Wieso schreibe ich dieses Buch? Weil ich hoffe, dass andere davon profitieren können. Meine Biografie erklärt einiges. Ich bin mit diesem Land seit meinem ersten Atemzug verbunden. Israel ist meine Heimat. Ich wurde in eine israelisch-jüdische Familie geboren. Der jüdische Jahreskreis war für mich ab dem Kindergarten selbstverständliche Praxis. Hebräisch ist meine Muttersprache.
Die erste Wanderung, die ich bewusst miterlebt habe, war in En-Gedi. Ich war drei Jahre alt und hörte zusammen mit meinen beiden achtjährigen Schwestern meinem Vater zu, wie er uns eine Geschichte erzählte, die sich an diesem Ort zugetragen hatte – wie David hier auf Toilette musste, in eine Höhle ging und Sauls Mantel abschnitt (1. Samuel 24) – und war bezaubert. Die Schönheit dieser tropischen Oase mit den vielen Wasserfällen hat mich so begeistert, dass ich mich geweigert habe, in der Kindertrage auf dem Rücken meines Vaters geschleppt zu werden. Ich wollte selbst laufen. Die Hitze war furchtbar, als wir die Felsenstufen zur Quelle hinabstiegen. Damals war das Geländer aus Eisen und wurde in der Sonne so heiß, dass man es nicht anfassen konnte. Immer wieder fragten mich meine Eltern, ob ich doch nicht wieder in die Trage wolle. An einer besonders steilen Stelle teilte ich meiner Mutter mit: »Mama, wenn ich groß bin, werde ich hier leben.« »Wo hier?«, fragte sie. »In En-Gedi«, gab ich die klare Antwort. »Aber das ist ein Naturreservat«, erklärte sie, »Hier darf man nicht leben. Nur Tiere dürfen das.« Ich dachte einen Moment nach und fasste einen Plan: »Dann werde ich mich hier verstecken.« »Und was wirst du essen?«, hakte sie nach. »Fische. Und trinken kann ich gleich aus den Wasserfällen. Und schlafen kann ich überall. Kleider braucht man in dieser Hitze gar keine. Vielleicht nur eine Unterhose«, antwortete ich überzeugt. Doch die Antwort meiner Mutter war eine bittere Enttäuschung. Sie sagte, es gebe im Reservat Mitarbeiter, die spätestens um 17 Uhr alle Besucher wegschicken. Sie würden mich schnell finden. Ich gab den ersten Plan auf, hatte aber gleich den nächsten: »Ich werde Reservatmitarbeiter.« »Das könnte funktionieren«, lenkte meine Mutter ein. Das machte mir ein wenig Hoffnung. Jahrelang blieb ich diesem Plan treu. Doch im Lauf der Zeit fiel mir auf, wie viele schöne Plätze es überall im Land gibt. Mit 14 kam mir dann die Idee, wie ich möglichst viele dieser Orte besuchen kann: »Ich werde Reiseleiter«. Außerdem hat mich ein Wanderreiseleiter auf einem mehrtägigen Schulausflug durch die Wüste Negev mit seinem Verständnis der Landschaft derart beeindruckt, dass er mir zum Vorbild wurde. Und so bin ich ein lizenzierter Reiseleiter geworden. Vorher habe ich in Deutschland Landschaftsarchitektur studiert, um den Erwartungen meiner Eltern gerecht zu werden. Darauf folgte die Reiseleiterausbildung an der Jerusalemer Zweigstelle der Universität Haifa in den Jahren 2006–2008. Unter den Dozenten und bei späteren Fortbildungen habe ich einige der wichtigsten Akteure in der Forschung kennengelernt, deren Wissen in dieses Buch miteinfließt. Seitdem habe ich mehr als 200 Gruppen durch das Land geführt und gelernt, welche Kenntnisse und Vorstellungen Reisende mitbringen. Meine Ehe mit einer deutschen Frau, unser Leben am Bodensee und meine Tätigkeit für den schweizerischen Reiseveranstalter Surprise Kultour AG mit dem Spezialgebiet biblische und christliche Reisen haben mir gezeigt, aus welchem Blickwinkel Menschen aus dem deutschsprachigen Kulturkreis auf die Bibel und ihr Land schauen. Mit diesen Voraussetzungen wage ich es, dieses Buch zu schreiben und dich auf eine Reise ins Land der Bibel mitzunehmen.
Judäische Wüste, Frühjahr 2020