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Prolog

Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe und ließ die Wischerblätter vergeblich gegen die Wassermassen kämpfen. Jens stierte durch die Scheibe, alles verschwamm vor seinem Auge. Durch die Wasserflut funkelten ihn die Rückleuchten eines LKW an wie die Augen des Teufels, der ihn in die Hölle locken wollte. Jens fummelte hektisch am Kragen seines Hemdes. Während er seine linke Hand ums Lenkrad krampfte, versuchten die klobigen Finger seiner Rechten, den winzigen Knopf durch das kleine Loch zu schieben. Schweiß trat auf seine Stirn, sein Herz raste. Die Bremslichter des LKW kamen näher. Jens nahm die zweite Hand wieder ans Lenkrad und donnerte seinen Fuß auf die Bremse, bis der Wagen endlich stand.

Verdammt! Wollte diese Fahrt denn niemals enden?

Seit der Auffahrt auf die A1 in Hagen fuhr er von einem Stau in den nächsten, folgte eine Baustelle der anderen. Er nahm beide Hände vom Lenkrad, riss am Kragen, obwohl der LKW vor ihm gerade wieder anfuhr. Endlich gab der Knopf nach und flog mit Schwung gegen das Seitenfenster. Der PKW hinter ihm hupte.

»Ja! Ich fahr ja schon, du Vollidiot!«, brüllte er in den Rückspiegel. Als er zum Anfahren in den ersten Gang schaltete, kreischte das Getriebe. Der Wagen ruckelte, Jens drückte seinen Fuß aufs Gaspedal. Der Ford Fokus jaulte empört. Er kam sich vor wie ein Fahranfänger, zwang sich zur Ruhe, schaltete hoch und schloss mit seinem Wagen wieder zum LKW auf. Im Rückspiegel sah er, wie der BMW hinter ihm sich in die Blechlawine auf der Mittelspur zwängte. Er drehte das Radio lauter, die 17-Uhr-Nachrichten von Antenne Unna brachten gerade die Verkehrsmeldungen.

»Es ist voll auf den Straßen«, hörte er den Moderator sagen. »495 Kilometer Stau in NRW. Hier nur die längsten: A1 Richtung Münster Osnabrück, zwischen Schwerte und Unna 15 Kilometer, hier braucht ihr eine halbe Stunde länger, 13 Kilometer am Kamener Kreuz, auch hier mindestens 30 Minuten mehr …«

Jens schlug verzweifelt aufs Lenkrad. »So ein Mist! Verdammt!« Er hatte längst zu Hause sein wollen. Mittwochs unterrichtete er nur bis 14 Uhr. Heute hatte ihn allerdings noch ein Elterngespräch in dem Hagener Gymnasium zurückgehalten. Ein Ehepaar befürchtete, der Sohnemann könnte das Klassenziel nicht erreichen. Seine letzten Klassenarbeiten waren mangelhaft gewesen. Mündlich arbeitete der Junge genauso wenig mit, wie er seine Hausaufgaben erledigte. Das Gespräch mit den Eltern war ätzend gewesen und hatte sich über eine Stunde hingezogen. Der Vater kannte seine Grenzen nicht, hatte beim Verlassen des Klassenzimmers sogar gebrüllt: »Sie alter Fettsack sollten lieber Sport treiben, als Ihren Frust an der Benotung Ihrer Schüler auszulassen!«

Noch jetzt musste Jens verärgert darüber den Kopf schütteln. Klar war es leichter, das Unvermögen des Kindes auf die Schuld des Lehrers abzuwälzen. Das rechtfertigte aber keine Beleidigung! Dass er dick war, wusste er selbst. Bei einer Größe von 1,95 Metern brachte er 159 Kilogramm auf die Waage. Er aß nun mal gerne und hatte eine Vorliebe für Burger, Pizza und Lasagne. Obwohl ihm sein Arzt empfohlen hatte, das Gewicht zu reduzieren. Mit 48 Jahren, dem massigen Übergewicht und dem oft besorgniserregenden Bluthochdruck sei er im Feld der Gefährdeten auf Herzinfarkt und Schlaganfall angelangt.

Der LKW rollte wieder an. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Jens gab Gas, schaute in den Außenspiegel und setzte den Blinker. Dann schob er sich frech vor den BMW, der es noch nicht geschafft hatte, an ihm vorbeizukommen, und nun wiederum hupte.

»Leck mich!«, brummte Jens nur und überholte den LKW langsam. Auf der rechten Spur reihten sich die Lastwagen wie an einer Perlenkette. In der Mitte ging es jetzt etwas schneller voran. In einiger Entfernung konnte man bereits das Schild erkennen, das die Ausfahrt Unna anzeigte.

Er schwitzte immer noch. Zudem machte sich vom Nacken her unangenehmer Kopfschmerz bemerkbar. Sein Arzt hatte ihm gesagt, das könne ein Anzeichen für den hohen Blutdruck sein. Zu Hause würde er den Wert also zunächst überprüfen müssen. Jens wischte sich mit dem Hemdsärmel durchs Gesicht. Nach Einnahme der blutdrucksenkenden Tabletten würde er sich besser fühlen. Dann stünde seinem Vorhaben, nach Dortmund zu fahren, nichts mehr im Wege. Die Gelegenheit, das Etablissement in der Linienstraße aufzusuchen, bot sich ihm nur am Mittwoch. Da besuchte seine Frau stets ihren gemeinsamen Sohn Manuel.

»Eigentlich müsste ich ein schlechtes Gewissen haben!«, murmelte Jens und wischte sich abermals den Schweiß von der Stirn. Ein Jahr nach Manuels Geburt hatte er zum ersten Mal den Puff in Dortmund besucht. Er fand das weniger anstößig, als sich eine Geliebte zuzulegen. Schließlich ging es ihm ausschließlich um Sex und nicht um irgendwelche anderen Gefühle.

Endlich näherte er sich der Ausfahrt. Jens lenkte den Wagen zwischen zwei LKW zurück auf die rechte Spur und konnte kurz darauf die Autobahn verlassen. Zehn Minuten später erreichte er sein Haus in Unna-Massen. Als er den Ford Fokus verließ, hörte er die Kirchturmglocke der Friedenskirche schlagen. Es musste halb fünf sein. Jens eilte ins Haus. Die Vorfreude auf sein Schäferstündchen in Dortmund trieb ihn voran.

»Annabelle?«, rief er laut ins Haus. Es bestand ja immerhin die Möglichkeit, dass sie zu Hause war. Allerdings kehrte sie von den Besuchen bei Manuel selten vor acht zurück. Meist wurde es zehn. Jens hechtete die Treppe hoch.

Zunächst würde er seinen Blutdruck messen. Das Gerät befand sich in der Nachttischschublade. Er band die Manschette straff um den Oberarm und startete das Gerät, so wie man es ihm nach Erkennen der Krankheit gezeigt hatte. Verdammt! 220 zu 117. So hoch war der Wert lange nicht gewesen. Er sollte dringend anfangen, etwas Sport zu treiben und die Ernährung umzustellen. Vorsichtshalber würde er heute zwei Tabletten nehmen. Er griff erneut in die Schublade, nahm das Tablettendöschen heraus und fischte zwei Kapseln hervor. Gott, was konnte er in der Nähe schlecht sehen! Auch das sei eine Folge des Bluthochdrucks hatte ihm sein Arzt gesagt. Jens nahm die Kapseln mit ins Bad, füllte den Zahnputzbecher und spülte das Medikament mit viel Wasser herunter. Danach wollte er duschen und die verschwitzten Sachen wechseln. Aber ein paar Minuten blieb er auf dem Badewannenrand sitzen.

Kurz darauf ließ er heißes Wasser über seinen Körper rauschen und schloss einen Moment die Augen. Als er die Dusche verließ, rauschte es immer noch in seinem Kopf. Leichter Schwindel erfasste ihn. Er musste wirklich dringend etwas gegen den Bluthochdruck unternehmen.

Mit unsicheren Schritten wankte er zum Waschbecken, hielt sich daran fest und starrte in den beschlagenen Spiegel. Nur langsam wich der Dunstschwaden und gab sein rundes, leicht gerötetes Gesicht preis. Ein Tropfen Blut rann aus seiner Nase. Verdammt! Allmählich müssten die Tabletten doch wirken. Ob er die Konturen seines Bartes noch trimmen sollte? Nein! Er war spät genug dran. Rasch trocknete er sich ab.

Als er sich nach seiner Jeans bückte, die vom Toilettendeckel auf den Boden gerutscht war, wurde ihm einen Moment schwarz vor Augen. Schweiß brach aus all seinen Poren. Warum gab es in diesem Bad nur kein Fenster? Er öffnete die Tür zum Flur und zog sich an. Danach ging er die Treppe hinab und griff nach seiner Jacke. Als er in der Tasche den Autoschlüssel nicht fühlte, fiel ihm ein, dass er den auf dem Bett liegen gelassen hatte.

Er musste noch einmal die Treppe hinauf. Jens keuchte, als er nach dem Schlüssel griff. Langsam ging er zur Treppe zurück. Ihm wurde speiübel. Alles drehte sich. Er hielt sich krampfhaft am Geländer fest und nahm die erste Stufe. Bei der dritten zuckte ein heftiger Schmerz durch seinen Brustkorb. Instinktiv ließ er das Geländer los und presste beide Hände auf sein Herz. Dabei übersah er die nächste Stufe und trat ins Leere. Er wollte sich noch ans Geländer klammern, doch er griff daneben. Sein massiger Körper fiel nach vorne. Er prallte mit der Schulter auf die Stufen, überschlug sich und donnerte die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo er reglos liegen blieb.

Eine Woche später

Die Zeitung in meiner Hand raschelt, als ich ein Blatt umschlage. Ich sehe die Todesanzeigen im Hellweger Anzeiger. Die Traueranzeige von ihm ist die größte. Da steht sein Name neben einem Kreuz. Gerade einmal 48 Jahre alt ist er geworden. Darunter ein Spruch, der nach Hohn und Lüge schreit.

»Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. Sprüche Salomos 16,9.«

Hohn und Lüge! Denn gestorben ist der Mann durch mich.

Ich habe besorgt, womit sein Medikament manipuliert worden ist. Während er glaubte, seinen Blutdruck zu senken, hat der Inhalt der Kapseln ihn noch mehr in die Höhe gejagt, sodass er einen Herzinfarkt erlitten hat und die Treppe hinabgestürzt ist. Zum Glück hat der Notarzt keinen Verdacht geschöpft. Jens war ja ein Risikopatient.

Was fühle ich beim Anblick seiner Todesanzeige? Mein Mund ist staubtrocken. Meine Hände zittern. Dennoch fühle ich mich nicht als Mörder. Auch nicht als Henker. Es war nicht meine Absicht. Ich konnte ja nicht wissen, dass …

»Man wird dich dafür verantwortlich machen!« Kalte Worte. Leise gezischt und doch deutlich.

Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein. Das wird nicht sein.

Außerdem ist niemand ohne Schuld, erst recht nicht Jens. Dennoch … wenn irgendjemand herauskriegt, dass dieses Zeug von mir ... Ich schließe verzweifelt die Augen.

Es darf niemals jemand erfahren.

Ich starre eine Weile auf die Todesanzeige. Irgendwann habe ich endlich die Kraft, die Zeitung zu schließen. Das Papier knistert laut.

Dann ist es wieder ruhig um mich herum.

Festa mortale

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