Читать книгу Festa mortale - Astrid Plötner - Страница 5

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2. Kapitel

Auch kurz vor Mitternacht schallten die italienischen Klänge weiterhin aus den Lautsprechern der beiden Bühnentempel durch die Innenstadt. Maike zwängte sich zwischen den immer noch dicht gedrängt stehenden Menschen. Ihr Ziel war der Sammelpunkt am Nordring, einer Seitenstraße nahe der Fußgängerzone. Leider hatte die Befragung der Festa-Besucher und Händler bislang nichts gebracht. Max Teubner und Sören Reinders beteiligten sich weiterhin an der Suche nach Torben. Man hatte Verwandte, Freunde, Mitschüler und seine Vereinskollegen vom Fußballclub kontaktiert. Niemand hatte ihn gesehen. Der Junge galt nun seit drei Stunden als vermisst und man musste sein Verschwinden ernst nehmen.

Inzwischen war eine Ermittlungsgruppe aus Dortmund hinzugezogen worden, unter der Leitung von Jochen Hübner. Als Maike ihrem langjährigen Lebensgefährten, den sie vor einigen Jahren verlassen hatte, jetzt gegenübertrat, bemerkte sie ein Kribbeln in der Magengegend. Wie oft hatte sie bereut, ihm den Laufpass gegeben zu haben? Er hatte sich kaum verändert. Die dunklen kurzen Haare lagen korrekt nach hinten frisiert, vielleicht war der Bart etwas grauer geworden. Ein freudiges Flackern glitzerte in seinen graugrünen Augen, als er sie jetzt erkannte.

»Hallo, Maike! Schön, dich zu sehen.«

»Hallo, Jochen!« Sie lächelte, hätte ihn am liebsten gefragt, ob sie nicht wieder einmal zusammen essen gehen könnten.

Er räusperte sich und klärte sie dann über den aktuellen Ermittlungsstand auf. »Es ist stets ein Drama, wenn ein Kind verschwindet. Würdest du die Mutter des Jungen noch einmal befragen? Sie sitzt drüben im Mannschaftswagen.« Er deutete auf ein Polizeifahrzeug, das am Straßenrand abgestellt war.

Maike nickte. »Klar, mache ich.« Kurz darauf stieg sie in den Transporter, wo sie sich Alessia Sobek gegenübersetzte und sich als Hauptkommissarin vorstellte.

»Man muss doch irgendwas tun können!« Die Italienerin wirkte nervös und verzweifelt. Sie schien etwas kleiner als Maike zu sein und etwa im gleichen Alter, also Ende 30. Zur engen schwarzen Hose trug sie gleichfarbige Pumps, eine weiße Bluse, die über der Brust etwas spannte, und unter dem Blusenkragen ein rotes Tuch, das auf einheitliche Berufskleidung im Service auf dem italienischen Fest deutete. Ihr kräftiger Körper rutschte unruhig auf dem Autositz hin und her.

»Haben Sie das Telefon von Thomas schon geortet?«, fragte sie aufgeregt. »Mein Ex-Mann hat Torben entführt. Ich bin mir sicher!« Sie trommelte mit den Fingern auf ihre Oberschenkel.

»Beruhigen Sie sich bitte«, bat Maike. »Verschwundene Kinder tauchen in der Regel sehr schnell wieder auf.« Sie verschwieg der Frau, dass das Telefon ihres Ex-Mannes ausgeschaltet war und sich somit nicht orten ließ.

»Sie verstehen das nicht!«, begehrte die Italienerin nun auf. »Wenn Torben bei Thomas ist, sehe ich ihn vielleicht nie wieder. Mein Gott, hätte ich doch nur besser aufgepasst!«

Maike kamen die Worte von POK Schmidtke in den Sinn, der Alessia Sobek unterstellt hatte, sie würde maßlos übertreiben. Vielleicht fühlte sich Torben bei seinem Vater wohler? »Haben Sie eine Idee, was Ihr Ex-Mann mit dem Jungen vorhaben oder wo er sich mit ihm aufhalten könnte?«

»Was weiß ich?«, murrte Alessia Sobek. »Vermutlich hat er ihm irgendwas versprochen und ihn unter einem Vorwand in seinen tollen Mercedes gelockt. Um ihn dann mit sich nach Hause zu nehmen. Haben Sie da nach ihm gesucht?«

Maike hatte das Licht im Mannschaftswagen eingeschaltet, einen Laptop auf ihrem Schoß abgestellt und tippte die Aussage der Frau mit. Nun blickte sie auf. »Den Mercedes Ihres Mannes haben die Kollegen inzwischen im Parkhaus an der Massener Straße gefunden. Laut seiner Lebensgefährtin Birte Winkler stellt er das Auto dort stets ab, wenn er in seiner Kanzlei zu tun hat. Dort hat niemand geöffnet. Frau Winkler hat übrigens sofort eingewilligt, als wir uns im Haus Ihres Ex-Mannes umsehen wollten. Dort gibt es leider weder eine Spur von Torben noch von Ihrem Ex-Mann. Frau Winkler ist selbst in Sorge.«

Alessia Sobek wischte diese Information mit einer fahrigen Handbewegung beiseite. »Was heißt das schon! Thomas kann mit dem Jungen überall sein. Das muss er der Tussi ja nicht gesagt haben.«

»Vielleicht beginnen wir ganz von vorn«, bat Maike geduldig. »Dann kann ich mir ein besseres Bild machen. Sie haben Torben heute mit aufs italienische Fest genommen, obwohl Sie wussten, dass Sie kaum Zeit für ihn haben würden?«

Alessia Sobek seufzte tief. »Mein Gott, ja. Er ist ja kein Kleinkind mehr. Und die Mutter seiner Freundin Fiona wollte später nach ihm sehen. Aber da war Torben schon weg.« Sie schlug die Beine übereinander, revidierte ihre Haltung, da sie ihr wohl unbequem war und schob die Füße vor den Sitz. »Meinen Eltern gehört das Ristorante Riccardo Rossi in Unna-Königsborn. Zum Fest übernimmt dort meine Mutter, ich helfe Vater am Stand vor der Kirche Sankt Katharina. Torben wollte zur Eröffnung unbedingt mit, also hat er uns heute so gegen 15 Uhr in die City begleitet.« Sie schob eine Strähne ihrer dunklen, welligen Haare, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte und ihr ständig ins Gesicht fiel, hinter die Ohren. »Natürlich wurde ihm bald langweilig. Irgendwann half auch das Smartphone nicht mehr.«

»Und da fanden Sie Zeit, mit ihm ins Riesenrad zu gehen?« Maike dachte an die Menschenmassen auf dem Fest, die möglichst schnell bewirtet werden wollten.

»Ich hatte es Torben am Nachmittag versprochen. Das Columbia-Rad steht ja in der Nähe unseres Stands. Meine Mutter konnte das Rossi vorzeitig schließen, da keine Gäste gekommen sind. Als sie hier eingetroffen ist, bin ich mit meinem Sohn zum Riesenrad gegangen.«

»Was passierte als Nächstes?«, fragte Maike und beobachtete aus den Augenwinkeln zwei Kollegen der Streife, die keine zwanzig Meter entfernt einige alkoholisierte Jugendliche ansprachen. Sie saßen auf den Stufen vor der Volksbank, jeder mit einer Flasche Wodka in der Hand.

Alessia Sobek trommelte erneut mit den Fingern auf ihre Oberschenkel. »Als das Riesenrad anhielt, um die Ersten wieder aussteigen zu lassen, und wir aus einer der oberen Gondeln nach unten schauten, glaubte Torben seinen Vater zu sehen und wurde unruhig. Er wollte unbedingt zu ihm. Als die Fahrt zu Ende war, rannte er sofort los.«

»Aber Sie sind ihm doch sicher gefolgt? Wohin ist er gelaufen?«

Die Italienerin seufzte. »Das habe ich doch alles schon Ihrem Kollegen erzählt. Ich bin beim Aussteigen mit dem Fuß umgeknickt. Da brauchte es einige Schritte, bis ich wieder auftreten konnte. Torben ist auf den Durchgang neben der Apotheke zugelaufen.«

»Haben Sie Ihren Ex-Mann auch gesehen?«

Alessia Sobek schüttelte langsam den Kopf. Dann blickte sie sich zu den Jugendlichen um, die jetzt laut krakeelten. Eine Flasche ging klirrend zu Bruch, der Alkohol ergoss sich über die Treppe.

»Was macht Sie so sicher, dass Ihr Ex-Mann Torben entführt haben könnte? Vielleicht ist Ihr Sohn freiwillig mit seinem Vater gegangen. Oder könnte Torben sich nach dem langweiligen Nachmittag nicht einfach allein auf dem Fest umgesehen haben? Vielleicht hat er einen Freund getroffen?«

Alessia Sobek drehte sich wieder zu Maike und blickte sie an. »Nein! Er hätte mir in jedem Fall Bescheid gegeben!« Sie seufzte und fuhr fort: »Wenn er mit seinem Vater gegangen ist, hat der ihm vielleicht gesagt, ich wüsste schon Bescheid.«

»Hat er Ihnen Torben zuvor schon einmal entzogen?«

Alessia Sobek schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das nicht. Aber ich traue es ihm auf jeden Fall zu.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, dann erzählte sie von ihrer Ehe mit dem Rechtsanwalt, die vor fünf Jahren in die Brüche gegangen sei und zuvor nur aus Streit bestanden habe. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das klarmachen soll, aber Thomas ist ein Mann, der sich nimmt, was er will. Er hatte in den sieben Jahren, die wir verheiratet waren, unzählige Affären. Dennoch ist es ihm gelungen, mich während der Scheidung so ins schlechte Licht zu rücken, dass man ihm das Sorgerecht zugesprochen hat.«

Maike blickte verwundert auf. »Ich dachte, Torben lebt bei Ihnen?«

Alessia Sobek lächelte müde. »Inzwischen tut er das wieder. Aber nur, weil er Thomas lästig geworden war. Als mein Ex seine jetzige Lebensgefährtin kennenlernte, brauchte er eine sturmfreie Bude und gab Torben zu mir, obwohl er das Sorgerecht offiziell immer noch hat. Er begnügt sich seitdem mit 14-tägigen Treffen an den Wochenenden.«

Die Jugendlichen zogen endlich weiter. Die Kollegen hatten die Personalien überprüft, scheinbar waren alle volljährig. Maike atmete auf, da jetzt nur noch die Musik vom Fest gedämpft herüberschallte und man sich wieder besser konzentrieren konnte.

»Warum glauben Sie, dass Ihr Ex-Mann Ihren Sohn entführt hat? Ihre Verhältnisse scheinen sich doch geklärt zu haben.«

Die Italienerin senkte den Kopf, vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte leise. »Sie kennen Thomas nicht. Mal ist er verständnisvoll, dann wieder äußerst aggressiv, ungeduldig und cholerisch.« Sie zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Tränen fort. »Er muss seinen Willen durchsetzen. Egal wie.«

Maike blickte auf. »War Ihr Ex-Mann jemals gewalttätig gegenüber dem Jungen? Hat er ihn geschlagen?«

Aus Alessia Sobeks dunklen Augen sprach Verzweiflung. »Das nicht«, flüsterte sie kaum hörbar. Dann schwoll ihre Stimme wieder an. »Aber er handelt manchmal völlig irrational. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen. Als ich vor fünf Jahren die Scheidung eingereicht habe, hat er Torben und mich am Wochenende danach eingeladen, auf den Turm der Stadtkirche zu steigen. Wir könnten ja trotz Trennung noch Unternehmungen als Familie machen. Als wir zu dritt da oben waren, hob er Torben plötzlich auf die Brüstung und zischte mir zu, er würde ihn hinunterstoßen, wenn ich die Scheidung nicht zurückziehe.« In Erinnerung an das Erlebnis begann Alessia Sobek zu zittern. »Leider hat das damals niemand mitbekommen.« Sie schluchzte und schnäuzte sich.

»Gab es weitere Erlebnisse dieser Art?«, fragte Maike.

»Nicht direkt, aber heute Vormittag …«, brachte sie mühsam hervor, »… rief er mich an … und erklärte mir, er wolle mit Torben ins Disneyland Paris fahren.« Sie rieb sich mit dem Taschentuch über die Augen, womit sie ihre Wimperntusche völlig verschmierte. »Warum muss er solche Unternehmungen immer so kurzfristig ankündigen?«, rief sie verzweifelt. »Ich habe natürlich protestiert.«

Maike wartete geduldig, bis Alessia Sobek sich ein wenig beruhigt hatte. »Und deshalb glauben Sie nun, er hat den Jungen heimlich mitgenommen?«

Die Italienerin hob vage ihre Schultern. »Wir haben heftig gestritten. Dabei hat er tatsächlich behauptet, er wolle Torben wieder zu sich holen. Seine Lebensgefährtin könne keine Kinder bekommen und bei ihm wäre Torben sowieso besser aufgehoben. Als ich ablehnte, brüllte er, das würde ich bereuen. Wenn der Junge nicht bei ihm leben dürfte, dann bei mir erst recht nicht. Da ist bestimmt was Schlimmes passiert und mein Ex ist dafür verantwortlich.«

Maike schwieg und tippte die Aussage der Frau zu Ende. Auch Namen und Adresse von der Freundin Fiona, die sie vielleicht noch einmal selbst befragen wollte. Nach momentaner Faktenlage glaubte sie nicht, dass Torben sich in Gefahr befand. Vermutlich hatte Alessia Sobek nur Angst davor, Torben an seinen Vater zu verlieren, der ja offiziell das Sorgerecht besaß. Rätselhaft blieb lediglich, warum der Vater nicht erreichbar war und warum er nicht einmal seiner Lebensgefährtin Bescheid gesagt hatte. Dass Torben sich allein auf dem Fest amüsierte, daran glaubte Maike inzwischen nicht mehr. Könnte er mit einem Fremden mitgegangen sein? Wurde er bedroht? Wo steckte der Junge?

Die Tür des Mannschaftswagens wurde aufgezogen. Max Teubner blickte herein. Er machte einen verschwitzten und müden Eindruck. »Hast du einen Moment?«, fragte er.

»Gibt es etwas Neues von Torben?«, platzte Alessia Sobek heraus.

Teubner schüttelte den Kopf. »Leider nein. Wenn Sie hier fertig sind, sollten Sie mit Ihren Eltern nach Hause fahren. Wir informieren Sie, sobald es Neuigkeiten gibt.«

Alessia Sobek blickte Maike fragend an. »Darf ich?«

Maike nickte sofort. »Natürlich. Wenn ich noch Fragen habe, melde ich mich.« Sie klappte den Laptop zu und stieg hinter der Italienerin aus dem Auto. Von der Bühne am Rathaus hörte sie die Musik nun wieder lauter. Eine Band coverte gerade den Song Amada mia amore mio.

Teubner wartete, bis Alessia Sobek außer Hörweite war. »Es gibt doch Neuigkeiten«, sagte er ernst. »Reinders und ich haben die obere Innenstadt durchsucht und dort die Leute befragt.«

»Und?«, fragte Maike gespannt.

»Wir waren gerade in der Nähe des Kastanienbrunnens, da kam von der Leitstelle eine Durchsage, dass ein Ehepaar im Parkhaus an der Flügelstraße ein Handy gefunden hat«, erklärte Teubner. »Ein Smartphone der Marke Samsung. Die beiden hatten eine Durchsage von Antenne Unna über Torbens Verschwinden gehört, einen Zusammenhang befürchtet und deshalb die Polizei informiert. Das Handy ist das gleiche Modell, wie Torben eines besitzt.«

Maike stöhnte leise. Sollte es sich um Torbens Smartphone handeln, war das sicher kein gutes Zeichen. »Bringt Reinders das Smartphone in die Kriminaltechnik?«

Teubner schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben in der Parkbucht noch eine Injektionsspritze gefunden. Ist möglich, dass der Junge damit betäubt und dann in einem Auto verschleppt wurde. Die Kollegen aus Dortmund haben im Parkhaus übernommen. Sie werden jetzt das ganze Parkhaus auf den Kopf stellen, Überwachungskameras checken und auch das Handy auslesen. Beten wir, dass es nicht Torbens Smartphone war und dass die Spritze von einem Junkie stammt, der sich in Ruhe seinen Schuss setzen wollte.«

Festa mortale

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