Читать книгу Festa mortale - Astrid Plötner - Страница 4
ОглавлениеDrei Monate später
Mittwoch, Eröffnungstag der Festa Italiana
1. Kapitel
Ob die südländischen Klänge von den Bühnen des italienischen Festes bis zu ihr in die Lortzingstraße hallten, konnte Kriminalhauptkommissarin Maike Graf nicht hören. Aus der Nachbarwohnung drang das Kreischen der Flex, die Nick Nigge nun seit Stunden nur mit kurzen Unterbrechungen aufheulen ließ. Dabei störte es Nigge weder, dass es mittlerweile auf 22 Uhr zuging, noch, dass sein Hund ununterbrochen bellte. Nigge war Alleinunternehmer und arbeitete daher nur in seiner Freizeit an der Renovierung. Seit Monaten stand Baumaterial im Flur und Maike musste sich den Weg zu ihrer eigenen Wohnung über Fliesenkartons und Zementsäcke bahnen. Dazu kam, dass Nigge seinen Hund viel zu oft allein ließ.
»Armer Bolt«, murmelte Maike und meinte damit den Labrador ihres Nachbarn. Sie trank das Glas Mineralwasser leer und griff nach ihrer Lederjacke. Den heutigen Abend würde sie sich nicht verderben lassen. Sollte der Typ ruhig weiterlärmen! Irgendwann würde die alte Döring aus dem Erdgeschoss für Ruhe sorgen.
Bevor Maike die Wohnung verließ, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Ihr welliges braunes Haar, das sie während der Arbeitszeit meist hochsteckte oder zu einem Pferdeschwanz zusammenband, umspielte sanft ihre Schultern. Zur Jeans trug sie eine weiße Leinenbluse und ebenfalls weiße Sneakers. Als Maike den Hausflur betrat und die Treppe hinabstieg, vermied sie es, den Handlauf zu berühren, über den sich eine weiße Schicht Zementstaub gelegt hatte. Als endlich die Haustür hinter ihr zufiel, atmete sie auf.
Maike schlug den Fußweg Richtung Innenstadt ein. Sie war um zehn mit den Kollegen Teubner und Reinders am Rathausplatz verabredet. Überall sah sie Menschenmassen in die Innenstadt strömen. Heute am Eröffnungstag des italienischen Festes schien ganz Unna auf den Beinen zu sein. Allmählich sah sie die ersten Lichter leuchten und hörte laute Musik, die von der Bühne am Rathaus herüberschallte. Sie erkannte den Song Lasciatemi cantare von Toto Cotugno. Eine Gruppe Frauen mittleren Alters grölte den Text mit. Sie hatten sich eingehakt, hüpften wie kleine Schulmädchen und lachten albern.
Endlich erreichte Maike die Fußgängerzone und blieb überwältigt stehen. Dicht gedrängt schob sich eine Lawine aus Menschen über die Bahnhofstraße, unter den hohen Lichterbögen aus filigranem, weiß lackiertem Holz hindurch, an denen Tausende bunter Glühlampen leuchteten. Laut eines Berichts im Hellweger Anzeiger waren an die 500.000 installiert worden. Links von Maike erhob sich zwischen Post und Rathaus eine prachtvolle Bühne, die wie ein bunt illuminierter Tempel wirkte. Davor eine Menschentraube, die gerade nach Zugabe schrie und applaudierte, als der Sänger der italienischen Band nach seiner Gitarre griff. Als der Italiener die ersten Klänge des Songs Se bastasse una canzone von seinem berühmten Kollegen Eros Ramazzotti anschlug, jubelten die Fans.
Rechts neben der Bühne, auf dem Rathausplatz, erhob sich ein Riesenrad, das die dahinter gelegene Kirche Sankt Katharina an Größe übertraf. Darunter duckten sich Buden, die italienische Spezialitäten anboten. Die davorstehenden Bierzeltgarnituren waren allesamt besetzt. Maike bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen und hielt Ausschau nach ihren Kollegen. Endlich erkannte sie auf einer der Sitzbänke Sören Reinders. Erleichtert ging sie auf ihn zu.
»Hey, Sören, ist Max noch nicht da?«
»Setz dich«, erwiderte Reinders und zog seine Jacke beiseite, um ihr Platz zu machen. »Teubner sorgt für Getränke.«
Maike rutschte neben ihn auf die Bank. Ihr Blick fiel auf die Bühne, wo sich der Italiener gerade unter Applaus verabschiedete.
»Hallo, Maike. Zum Wohl!«, grüßte Teubner. Er balancierte drei Gläser Rotwein auf einem Tablett und schob sich neben ein Ehepaar gegenüber von Maike auf die Bank. Er hatte sich für den Abend in Schale geschmissen. Zur Jeans trug er ein kurzärmeliges weißes Oberhemd. Seine sonst so wirr stehenden braunen Haare, durch die sich blonde Strähnen zogen, hatte er mit Gel in Form gebracht.
»Prost!«, sagte Maike, hob ihr Glas und stieß mit den Kollegen an.
»Hast du es doch noch geschafft, dich aus dem Büro loszueisen?«, fragte Teubner. Für den Moment konnte man sich in normaler Lautstärke unterhalten.
Maike nickte nachdenklich. Max Teubner hatte ihr gemeinsames Büro in der Polizeidienststelle Unna verlassen, als sie eine ältere Dame befragt hatte, die einen Kupferdiebstahl anzeigen wollte. Unbekannte Täter hatten von ihrem Haus die Dachabflussrinne abmontiert. Maike kannte solche Fälle zuhauf. Meist waren reisende Banden dafür verantwortlich, die nur selten gefasst werden konnten.
»Ja«, sagte sie. »Leider konnte die Bürgerin, die den Diebstahl anzeigen wollte, keine Täterbeschreibung abgeben. Sie hat den Verlust der Dachrinne erst bemerkt, als sie morgens mit ihrem Hund vom Brötchenholen kam. Der oder die Täter müssen …«
»Hallo!«, meckerte Reinders, verdrehte seine sonst immer lebhaft blickenden braunen Augen und raufte sich die blonden Haare. »Wir haben FEIERABEND! Soll ich Nachschub holen oder wollen wir uns von der Menge zum Marktplatz treiben lassen?«
Maike antwortete nicht und blickte interessiert zu einem Einsatzwagen der Kollegen, der mit blickendem Blaulicht in einer nahen Seitenstraße hielt. Zwei Uniformierte bahnten sich den Weg durch die Menge und steuerten auf das Riesenrad zu.
»Sie kann nicht abschalten«, jammerte Reinders und brachte seinen schlaksigen Körper in die Senkrechte. »Ich hol also erst einmal Nachschub.«
Da auf der Bühne nun ein Paar den Hit Felicità von Al Bano und Romina Power coverte, fing die Menschentraube davor wieder an, mitzusingen, was eine Konversation unmöglich machte. Nach einer Weile zwängte sich Reinders durch die dicht stehenden Tische mit den Weingläsern auf einem Tablett zurück. Er bewegte die Lippen. Sang er etwa mit? Maike musste grinsen. Sie nahm ihm ein Glas ab und hob es in Richtung ihrer Kollegen. »Die nächste Runde geht auf mich!«, rief sie und trank. Im nächsten Moment erkannte sie Polizeioberkommissar Gerold Schmidtke von der Bereitschaft, der die Gäste an den Bierzeltgarnituren befragte. Einige Minuten später trat er zu ihnen.
»Hey, Gerold!«, grüßte Reinders. »Heute Bereitschaft zu haben, ist kein Vergnügen, was?« Er grinste und knuffte den Kollegen in die Seite.
»Nee. Bestimmt nicht. Erst recht nicht, wenn hier auf dem Fest ein Kind verschwindet und wir total unterbesetzt sind. Die Mutter macht sich kirre und behauptet, ihr Torben wäre entführt worden.«
»Felicitá«, grölte die Menschentraube.
»Und?«, rief Reinders gegen den Lärm an. »Was steckt dahinter?«
Der Uniformierte hob ratlos die Schultern. »Ich kenne die Familienverhältnisse nicht. Der Kindsvater soll seiner Ex-Frau heute Morgen gedroht haben, sich den Jungen zurückzuholen. Nun glaubt sie, er hat ihn in seine Gewalt gebracht und er könnte ihm etwas antun. Die Frau hat sich mir gegenüber ziemlich hysterisch verhalten und ihre Behauptungen klangen reichlich übertrieben. Wir müssen der Sache jedenfalls nachgehen.«
»Wann ist das Kind denn verschwunden?«, fragte Maike.
»So gegen 21 Uhr heute Abend«, erwiderte Schmidtke.
Maike blickte auf die Uhr. »Das sind nicht einmal zwei Stunden. Könnte sich der Junge nicht allein auf dem Fest amüsieren?«
»Die Mutter behauptet, dann hätte er Bescheid gegeben. Alessia Sobek, arbeitet hier an dem Stand ihrer Eltern, die ein italienisches Restaurant betreiben«, erklärte er laut. »Vielleicht habt ihr ja Lust, bei der Suche zu helfen?«
Maike und Teubner schwiegen wenig begeistert.
»Klar helfen wir«, erklärte Reinders jedoch spontan. Vermutlich, weil er selbst eine Tochter im Alter des verschwundenen Jungen hatte und die Sorgen der Mutter gut verstehen konnte. »Hast du ein Foto?«
Polizeioberkommissar Schmidtke nickte und zückte sein Handy. Er rief die Datei auf und hielt sie den Kollegen entgegen. Das Bild zeigte das blasse Gesicht eines etwa 10-jährigen Jungen mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und braunen Augen. Seine schmalen Lippen lächelten zaghaft. Er wirkte wie ein zerbrechliches Kerlchen.
»Schick uns die Datei rüber«, bat Reinders.
Schmidtke nickte und schickte das Foto auf Reinders Handy, der es an Maike und Teubner weiterleitete.
»Wie können wir helfen?«, fragte Maike.
Schmidtke rieb nachdenklich über seinen Dreitagebart. »Den Wagen des Vaters haben wir auf keinem der näheren Parkplätze finden können, die Festa-Besucher gewöhnlich benutzen. Er scheint also nicht oder nicht mehr hier zu sein. Natürlich könnte er auch zu Fuß in die Innenstadt gekommen sein. Die Frage ist, ob der Junge wirklich bei ihm ist. Aber in diesem Tumult wird es schwer, eine Spur von ihm zu finden. Ihr könntet die Leute Richtung Marktplatz befragen.«
»Habt ihr versucht, den Vater zu erreichen?«, mischte sich Teubner ins Gespräch, das nun relativ normal verlaufen konnte, da die Musiker eine Pause eingelegt hatten. »Vielleicht ist ja alles ganz harmlos und der Mann amüsiert sich nur ein wenig mit seinem Sohn auf dem Fest. Wer weiß, wie oft er den Jungen sehen darf.«
Schmidtke nickte und hob gleichzeitig ratlos die Schultern. »Der Vater ist weder über Handy, noch in seinem Büro oder bei sich zu Hause erreichbar. Seine Lebensgefährtin hat keine Ahnung, wo er sich aufhält. Davon, dass er sich mit Torben treffen wollte, weiß sie nichts.«
Reinders leerte sein Weinglas und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch er tief in die Lungen sog. »Man kann Kindesentzug nicht ausschließen. Außerdem wissen wir nicht, was in der Familie los ist. Torben könnte sich also tatsächlich in Gefahr befinden. Warum sollte die Mutter so eine Drohung erfinden?«
»Okay«, seufzte Maike. »Wir wollten sowieso Richtung Marktplatz aufbrechen. Wir befragen die Händler und Gastronomen in der Fußgängerzone. Denen fällt wahrscheinlich am ehesten etwas auf.«