Читать книгу Festa mortale - Astrid Plötner - Страница 7

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4. Kapitel

Es war stockdunkel, als er die Augen aufschlug. Was ihn geweckt hatte, wusste er nicht. Thomas Sobek richtete den Oberkörper auf, dann schwang er die Beine von der Chaiselongue und stand mühsam auf. Hinter seiner Stirn hämmerte leichter Kopfschmerz. Er tastete sich durch den Raum zur Wand, fühlte endlich den Lichtschalter und betätigte ihn. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das grelle Licht. Ein Blick auf seine Armbanduhr ließ ihn zusammenzucken. Es war fast elf Uhr! Sofort eilte Sobek zu seinem Schreibtisch und griff nach seinem Smartphone. Es schaltete es ein und wartete geduldig, bis das System hochgefahren war, dann blickte er aufs Display. Birte hatte versucht, ihn zu erreichen. Zum letzten Mal vor etwa fünf Minuten und da bereits zum 10. Mal. Torben zweimal und seine Ex Alessia gleich 15 Mal. Ein schlechtes Gewissen breitete sich in ihm aus. Wenigstens Birte hätte er Bescheid geben müssen, dass er in der Kanzlei übernachtet hatte. Aber nachdem er sich in der Nacht endlich von den Akten losgerissen hatte, war es weit nach Mitternacht gewesen. Er hatte sich am Abend eine Pizza geholt, dazu eine Flasche Rotwein, die er während der intensiven Arbeit komplett geleert hatte. So konnte er natürlich nicht mehr Auto fahren. Er war so schrecklich müde gewesen, hatte nur kurz auf der Chaiselongue die Augen zumachen wollen.

Sobek seufzte und betätigte die Fernbedienung für die elektrischen Jalousien. Die großen Fenster, die hinten zum alten Westfriedhof zeigten, ließen wegen der hohen Bäume nur gedämpftes Tageslicht ein. Dann trat er an den Sicherungskasten und schaltete den Strom für Klingel- als auch für die Telefonanlage wieder ein. Schon traurig, dass er sich nur so vor Leuten wie dem Mandanten Büchner abschirmen konnte, die immer wieder an seiner Tür schellten oder ihn mit Anrufen belästigten. Sofort meldete sich der Anrufbeantworter. Er löschte das Lampenlicht und setzte sich an den Schreibtisch. Die eingegangenen Nachrichten würde er später abhören.

Sein Blick fiel auf den Fall Büchner, den er gestern zuletzt bearbeitet hatte. Der Mann nervte ihn. Sobek sah ihn vor sich, den Glatzkopf mit dem verkniffenen Gesichtsausdruck. Wie er stets seine schwarzgeränderte Brille mit dem Zeigefinger bis zur Nasenwurzel hochschob und immer an seiner bescheuerten Cap herumzupfte. Wie er lässig die Beine übereinanderschlug und mit den abgewetzten Sneakers lautlos auf den Boden tippte. Büchner wollte unbedingt in Berufung gehen. Dabei konnte der Kerl froh sein, dass er mit einer Bewährungsstrafe davongekommen war. Stattdessen beschimpfte er ihn, ließ keine Ruhe. Dieser Choleriker!

Thomas Sobek klappte den Ordner zu und griff nach seinem Smartphone. Er wählte aus den Kontakten Birtes Nummer, konnte sie jedoch nicht erreichen, so sprach er ihr auf die Mailbox und entschuldigte sich, dass er sich am Abend nicht mehr gemeldet hatte. »Ich komme so schnell wie möglich nach Hause. Es tut mir leid, Birte. Aber ich mache es wieder gut«, schloss er. »Am Wochenende wartet eine Überraschung auf dich.«

Er lächelte und blickte einen Moment auf ihr Foto, das auf seinem Schreibtisch stand. Sie hatte ein so offenes Lächeln. Ihre dunkelbraunen Augen strahlten Wärme und Liebe aus. Er empfand für sie weit mehr, als er je für seine Ex-Frau Alessia empfunden hatte. Eigentlich hatte er die Italienerin damals nur geheiratet, weil sie von ihm schwanger war. Da war sie 25 und er knapp über 30 Jahre alt gewesen. Dann verlor Alessia das Baby im achten Monat, das hatte den ersten Knacks in ihrer Beziehung ausgelöst. Sie setzte sich damals total unter Druck, wollte unbedingt erneut schwanger werden. Das hatte ihn abgestoßen. Egal, wie aufreizend sie sich anzog. Einmal war sie noch schwanger geworden, aber auch da …

Sein Handy bimmelte. Vermutlich rief Birte zurück. Er griff nach seinem Smartphone, das jedoch eine ihm unbekannte Nummer anzeigte. »Ja, bitte?«

»Sind Sie in Ihrer Kanzlei?«, fragte eine männliche Stimme.

»Wer spricht denn da?«, erwiderte Sobek. Einen Termin hatte er für heute nicht eingeplant, obwohl er lukrative Mandanten schon mal an Sonn- und Feiertagen empfing.

»Befinden Sie sich in Ihrer Kanzlei?«

»Jetzt sagen Sie, was Sie von mir wollen!«, mahnte Sobek.

Keine Reaktion. Thomas Sobek beendete das Gespräch und stand auf. Er würde sich kurz frischmachen und dann nach Hause fahren. Er freute sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit Birte. Mit Rührei, Speck und Schnittlauch, selbst aufgebackenen Brötchen und Kaffee aufgebrüht mit frisch gemahlenen Bohnen. Er wollte den Feiertag heute genießen, am Abend vielleicht übers italienische Fest schlendern, dabei das Ambiente genießen und morgen gegen Mittag würde er sich mit Birte und Torben auf den Weg nach Paris machen. Diese Unternehmung hatte seine Ex-Frau allerdings noch nicht abgesegnet.

Sobek krempelte die Ärmel seines weißen Oberhemdes hoch und betrat den kleinen Waschraum vor der Toilette für Mitarbeiter und Mandanten. Mit kaltem Wasser wusch er das Gesicht und tupfte es mit Papiertüchern trocken. Mit einem Blick in den Spiegel sah er seine vom Schlaf geröteten Augen. Die leichten Tränensäcke darunter fielen ihm heute zum ersten Mal auf, dabei fühlte er sich mit 45 Jahren noch jung wie ein Endzwanziger. Sobek zupfte den Windsor-Knoten seiner fliederfarbenen Krawatte zurecht, rollte die Hemdsärmel hinunter und verschloss die goldenen Manschettenknöpfe. Dann verließ er den Waschraum. Im selben Moment hörte er sein Smartphone brummen, das immer noch auf dem Schreibtisch lag. Er hetzte drei Schritte vor und nahm das Gespräch entgegen.

»Endlich erreiche ich dich! Thomas! Warum bist du nicht längst zu Hause? Hier war heute Morgen die Hölle los, ich bin mit den Nerven völlig am Ende.« Birtes Stimme klang wehleidig.

»Entschuldige, Schatz. Ich bin im Büro auf der Chaiselongue eingeschlafen und eben erst aufgewacht. Ich habe da einige Fälle, die ich dringend bearbeiten wollte. Außerdem ist da ein Mandant, der mich nervt, weil er unbedingt in die Berufung gehen will. Ich habe geprüft, ob …«

»Das ist mir jetzt völlig egal, Thomas«, schluchzte Birte. »Du musst sofort nach Hause kommen. Oder nein. Du solltest besser in der Kanzlei bleiben. Die Polizei war hier und hat das Haus durchsucht. Als Nächstes wollen sie sich dein Büro vornehmen.«

Thomas Sobek meinte, sich verhört zu haben. »Wie, mein Haus durchsucht? Warum? Hatten sie eine richterliche Anordnung?« Er hörte Birte weinen, hätte sie gerne in den Arm genommen und getröstet.

»Torben ist verschwunden! Man hat ihn das letzte Mal gestern Abend auf dem italienischen Fest gesehen. Und jetzt glaubt die Polizei, du hättest ihn entführt. Alessia muss es wohl am ehesten dir zutrauen.«

Sobek setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Sein Herz begann fest gegen seine Brust zu wummern. »Was genau ist passiert?«, presste er hervor, kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Alessia ist mit Torben auf dem italienischen Fest gewesen und dort mit ihm Riesenrad gefahren. Von oben hat er wohl geglaubt, dich zu sehen, und ist nach der Fahrt einfach losgerannt. Sie hat ihn danach nicht mehr gesehen. Warst du auf dem italienischen Fest?«

Klang da so etwas wie Zweifel in Birtes Worten? Traute sie ihm etwa eine Entführung zu? »Ich habe gearbeitet«, sagte Sobek schroffer als beabsichtigt. »Ich habe die Kanzlei nur einmal verlassen, um mir eine Pizza zu holen. Da die Fußgängerzone aus den Nähten platzte, bin ich außen herum zum Rathausplatz gegangen. Wollte mir eigentlich bei Riccardo etwas zu essen holen, aber auch sein Stand war brechend voll. Da bin ich aufs Rathausrestaurant ausgewichen.«

»Also könnte Torben dich tatsächlich gesehen haben.«

»Möglich. Das Riesenrad steht ja vor dem Rathaus. Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen. Warum hat Alessia nicht aufgepasst? Ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Ich glaube, es ist besser, du bleibst im Büro. Die Polizei will deine Kanzlei durchsuchen. Du kannst ihnen sicher klarmachen, dass du nichts mit Torbens Verschwinden zu tun hast.«

»Natürlich. Hoffentlich kann ich helfen, ihn wiederzufinden.«

Ein anderes Gespräch kündigte sich durch Klopfen an. »Ich muss schlussmachen Birte, ich melde mich gleich noch mal bei dir. Küsschen«, verabschiedete er sich. »Alessia«, begrüßte er dann seine Ex.

»Was hast du mit Torben gemacht«, keifte diese ihn sofort an. »Wo ist er? Bring ihn sofort her! Sonst bringe ich dich um!«

Sobek atmete tief. »Torben ist nicht bei mir. Ich habe die Nacht in der Kanzlei verbracht, weil ich dingend etwas aufarbeiten musste. Ich habe gerade erst von Birte …«

»Spar dir deine verdammten Ausreden, du Mistkerl! Du wirst mir jetzt sofort sagen, wo Torben ist. Die Polizei ist bereits auf dem Weg zu dir. Also lass die Spielchen! Mein Vater wird all seine Kontakte nutzen. Du weißt, was ich meine. Wo ist Torben?«

Thomas Sobek verdrehte die Augen. Immer diese Anspielungen auf die Mafia. Als wenn jeder Italiener mal eben so einen Mafioso aus dem Ärmel ziehen könnte, um Druck auszuüben. Sein ehemaliger Schwiegervater Riccardo, mit dem er sich immer noch ausnehmend gut verstand, hatte ihm zudem versichert, dass er über keinerlei solche Kontakte verfügte und froh darüber war. »Mach dich nicht lächerlich, Alessia!«, sagte er daher. »Ich weiß nicht, wo Torben ist!«

»Er hat dich gesehen!«, schrie seine Ex-Frau.

Sobek stand auf, trat an die große Fensterfront seines Büros und blickte auf den Westfriedhof. Alte verwitterte Grabsteine unter hohen Bäumen. Viel Grün. Dieser Ausblick hatte ihn schon immer beruhigt. »Das kann sogar möglich sein. Ich wollte mir gestern Abend am Stand deiner Eltern eine Pizza holen. Es war mir aber zu voll, da bin ich ins Rathausrestaurant gegangen.«

»Du lügst! Du hast Torben mitgenommen! Erst gestern hast du mir gesagt, du willst ihn zurückholen.« Sie weinte.

»Alessia«, erklärte Sobek in versöhnlichem Ton. »Ich war wütend, weil du immer so ein Fass aufmachst, wenn ich etwas mit Torben unternehmen will. Du weißt genau, wie sehr er sich einen Besuch im Disneyland wünscht. Warum freust du dich nicht einfach für ihn? Ganz davon ab: Natürlich bleibt Torben bei dir. Birte und ich werden vielleicht ein eigenes Kind adoptieren. Ein Baby. Aber das hat noch Zeit. Birte ist ja noch jung und erst einmal müssen wir heiraten.«

Einen Moment lang blieb seine Ex-Frau stumm. Sie schien die Neuigkeiten erst verarbeiten zu müssen. Sie wusste, dass Birte keine eigenen Kinder bekommen konnte. Da lag die Möglichkeit einer Adoption doch auf der Hand.

»Er hat dich gesehen«, wiederholte sie leise.

»Das glaube ich dir ja, Alessia. Aber Torben ist nicht bei mir. Wir sollten jetzt gemeinsam überlegen, wo er sich aufhalten könnte. Er läuft doch nicht so einfach weg.« Sobek drehte sich vom Fenster weg und lief unruhig in seinem Büro auf und ab. Hätte er doch sein Smartphone nicht ausgeschaltet und wenigstens die Anrufe von Torben angenommen.

Seine Ex schluchzte. »Ich habe alle Freunde, Bekannte und Verwandte angerufen. Da ist er nicht. Wenn er nicht bei dir ist, muss er entführt worden sein.«

»Alessia, ich …« Es klingelte. »Entschuldige, ich glaube, die Polizei ist da. Ich melde mich später zurück.«

Sobek eilte in den Vorraum der Kanzlei, wo sich am Platz seiner Sekretärin der elektrische Türöffner mit Bildschirm befand. Sein Büro befand sich im Obergeschoss, das Erdgeschoss nutzte ein befreundeter Notar. Man hatte sich geeinigt, das Haus mit Kameras zu sichern. Der gesamte Eingangsbereich wurde erfasst, damit sich keine ungebetenen Gäste Zugang zum Haus verschaffen konnten. Sobek stutzte nun, als er auf den Bildschirm schaute. Da stand Torben vor der Tür. Er wirkte eingeschüchtert, nicht so aufgeweckt wie sonst. War er von zu Hause weggelaufen? Hatte es Streit mit Alessia oder den Großeltern gegeben, die mit im selben Haus lebten? Hatte er vielleicht sogar mitbekommen, dass seine Mutter ihm den Besuch ins Disneyland verbieten wollte? Warum war er dann nicht sofort zu ihm gekommen? Wo hatte er die Nacht verbracht?

Sobek betätigte den Türöffner und ging sofort zur Etagentür, um sie aufzuschließen. Er hörte Schritte im Treppenhaus, konnte kaum erwarten, seinen Sohn in die Arme zu schließen. Die Erleichterung darüber, dass es ihm gutging, war grenzenlos. Endlich nahm Torben die letzte Treppenbiegung und kam verhalten auf ihn zu. Er wirkte blass, als sei er gesundheitlich angeschlagen oder habe in der Nacht keinen Schlaf gefunden. Erst jetzt bemerkte Thomas Sobek, dass Torben nicht allein kam. Seine Begleitung trug Sneakers, die kaum einen Laut verursachten. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass man das Gesicht nicht erkennen konnte. Den Anwalt beschlich ein mulmiges Gefühl, eine düstere Vorahnung, dass die Person nichts Gutes im Schilde führte.

Festa mortale

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