Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 18

Gefangen

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Als Aigonn die Augen aufschlug, schien ein Felsen auf seinem Körper zu liegen. Er blinzelte verschlafen in das Zwielicht des Raumes, während er sich wunderte, woher um alles in der Welt diese Müdigkeit kam. Doch sie war da. Sie schien ihn zu erdrücken. Und es fiel ihm schwer, dagegen anzukämpfen.

Als er das leise Rascheln von Schritten auf Strohmatten vernahm, zwang er sich dazu, die Augen offen zu halten. Verschwommen konnte er die Gestalt eines jungen Mannes erkennen, der leise flüsternd Obst aus einem Vorratstopf räumte, es klein schnitt und danach auf einem Teller einer sitzenden Frau in die Hand drückte.

Efoh. Die Wirklichkeit brachte auch die Schmerzen zurück. Unvermutet begann Aigonn zu husten, als er seinen Körper in eine sitzende Position hievte. Das Brennen in seiner Kehle war zu einem stechenden Kratzen verklungen, mit dem er leben konnte. Doch woher die Müdigkeit rührte, vermochte er sich nicht zu erklären.

„Aigonn!“ Efohs Stimme ließ Aigonn aufblicken. Sein Bruder stand schmunzelnd neben dem Regal, einen Apfel in der einen, ein Messer in der anderen Hand. „Haben die Geister dich aus ihren Fängen entkommen lassen?“

„Das ist nicht so witzig, wie du glaubst.“ Aigonn konnte darüber nicht grinsen. Der heisere Ton seiner Stimme erschreckte ihn – noch mehr, als er durch ein Räuspern nicht besser wurde. Finster blickte er zu Efoh auf, während er krächzte: „Wie lange habe ich geschlafen?“

Prüfend blickte sein Bruder zum Lichtstreifen unter dem Türspalt, der nur noch blass zu erkennen war. „Die Sonne müsste sehr bald nicht mehr zu sehen sein. Draußen herrscht bereits wieder Dämmerung.“

„Große Götter!“, flüsterte Aigonn, während er sich mit einer Hand über die Augen fuhr. Einen ganzen Tag hatte er geschlafen. Einen Tag lang. Verbissen versuchte er endlich, sich von der Müdigkeit zu befreien, die noch immer nach ihm langte. Je länger er sich behauptete, desto intensiver kehrten die Erinnerungen wieder – und mit ihnen Ratlosigkeit. Die Bilder hingen wie die grotesken Fetzen eines Traumes in seinem Schädel, das ohrenbetäubende Geschrei dieses Wesens hallte in seinem Kopf wider, ohne dass er es irgendeiner lebenden Kreatur zuordnen konnte.

„Möchtest du gar nicht wissen, was du verschlafen hast?“

„Was?“ Auf eine gewisse Weise störte Efoh. Aigonn war endlich wach genug, über die Geschehnisse dieses Morgens angemessen nachzudenken. Am liebsten hätte er Efoh in den Tierpferch geschickt, gleichwohl wissend, dass dieses Haus wie ihm ebenso seinem Bruder gehörte. Nur aus dem Augenwinkel erkannte Aigonn, dass seine Mutter ihn beim Essen der Obststücke immer wieder verstohlen musterte. Er hielt inne. Es war das erste Mal seit Jahren, dass seine Mutter von ihm mehr wahrnahm, als die Hintergrundgeräusche ihres vegetierenden Daseins. Abwesend schob sie sich die Apfelstücke in den Mund, während ihre Augen flackernd über sein Gesicht huschten. Aigonn konnte nicht sagen, an was sie dachte. Fragend legte er den Kopf schief. Binnen eines Herzschlags hoffte alles in ihm, dass seine Mutter auf ihn reagieren, ihm ein Zeichen geben würde. Doch sobald er die Geste vollführt hatte, trübte sich ihr Blick, driftete ihr Geist davon in die undurchdringlichen Weiten ihres Kopfes.

Enttäuscht lehnte Aigonn sich zurück. Efoh hatte wachsam die stumme Begegnung der letzten Überlebenden seiner Familie beobachtet, bevor er den Faden wiederfand. „Aigonn?“

„Was? Ja, ich höre dir zu!“

„Lhenia ist wieder hier.“

Aigonn stockte. Einen Herzschlag lang starrte er auf die Innenfläche seiner Hand, mit welcher er sich die Schläfen massiert hatte. Dann sah er zu Efoh auf. „Was sagst du?“

„Lhenia ist wieder im Dorf. Heute Morgen, wohl kurz nachdem du Rowilan deinen unbeugsamen Willen demonstriert hast, hat sie vor dem Tor gestanden. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“

Die Gedanken überschlugen sich in Aigonns Kopf. Die junge Frau, sie war zurückgekehrt. Vielleicht hatte sie Antworten auf die Fragen gefunden, die sie und Aigonn beschäftigten. Womöglich wusste sie, was hier vorging.

Ohne etwas hinzuzufügen, sprang Aigonn auf. Er gab Efoh keine Erklärung, stürzte an seiner Mutter vorbei und stolperte halb zur Tür hinaus. Das Dämmerlicht draußen kam dem Feuerschein im Inneren des Hauses nahe. Nur noch ein letzter goldgelber Schleier hing über dem Horizont, während die grauschwarze Nacht mit ihren ersten Sternen an Stärke gewann.

Die feuchte Luft und plötzliche Ruhe draußen vor dem Haus dämpften Aigonns Übermut. Sollte er einfach in das Heim des Bauern Oran stürzen und nach dessen Tochter verlangen? Das konnte er nicht. Nicht, wenn er nicht dem ganzen Dorf beichten wollte, dass er mehr von der jungen Frau zu wissen schien als sie alle. Auch wenn man dies längst vermutete. Scheinbar hatte sie nicht versucht, irgendjemand anderen in den Umstand einzuweihen, dass sie eine ganz andere als Lhenia war. Wer auch immer sie nun sein mochte. Wahrscheinlich war der Gedanke, den er eben gefasst hatte, das Unklügste, das er tun konnte.

Doch er hatte Fragen. So viele Fragen, dass deren Beantwortung nicht aufschoben werden konnte. Zielstrebig wandte er sich dem Palisadentor zu. Von hinten hörte er undeutlich, dass eine der Nachtwachen denselben Weg eingeschlagen hatte.

Die Nebelfrau! Sie würde Antworten haben! Ganz egal, wie rätselhaft sie sich sonst gerne gab. Dieses Mal würde sie Aigonn endlich Rede und Antwort stehen müssen, was auch immer für ein Spiel sie selbst mit ihm trieb.

Die Nebelschwaden, die Aigonn von weitem bereits vor dem Wald aufziehen sah, bestärkten ihn in seinem Beschluss. Als er die Palisaden erreicht hatte, wollte er bereits ohne große Fragen zu stellen das Tor öffnen. Doch auf einmal zog ihn der feste Griff einer Hand rückwärts.

„Aigonn!“ Die scharfe Stimme einer Torwache ließ Aigonn aufsehen. „Was soll das werden?“

Erstaunt hielt Aigonn inne. Ohne sich einen Reim darauf machen zu können, welchen Fehler er soeben begangen hatte, fragte er den Mann, der nur undeutlich zu erkennen war: „Was? Ich möchte hinaus, das ist alles! Hat Behlenos jetzt eine nächtliche Ausgangssperre erteilt, weil er fürchtet, die Geister der Anderen Welt könnten uns bei Dunkelheit in den Wäldern besser zu fassen kriegen?“

Aigonn hatte die Worte halb im Spaß gemeint. Doch als sich der Griff auf seiner Schulter versteifte, spürte er, dass er zu weit gegangen war. Strenge schwang in der Stimme des Wachpostens mit, als er Aigonn anwies: „Spotte nicht über unseren Fürsten! Jeder kann gehen, wohin er will! Jedoch hat Behlenos kurzfristig beschlossen, dass er dich außerhalb des Dorfes ausschließlich in seiner oder Rowilans Nähe wissen will.“

Aigonn traute seinen Ohren nicht. Er hätte beinahe gelacht, so unsinnig erschienen ihm die Worte des Wachpostens. Doch als er diesen mit voller Beharrlichkeit seine Stellung wahren sah, überkam ihn die unfassbare Wahrheit. „Das meint er doch nicht ernst! Mit welchem Recht sperrt Behlenos mich im Dorf ein!“

Das Krächzen hatte Aigonns Ausruf in eine heisere Fistelstimme gekleidet. Nur einen Atemzug lang kam ihm der Gedanke, wie ungeheuer albern er gerade eben geklungen haben musste. Doch dafür blieb ihm keine Zeit. Wut wallte ungebremst in ihm auf. Vorausschauend baute der Wachposten sich in seiner vollen Körperstärke vor Aigonn auf, sodass es ihm wenigstens ansatzweise gelang, diesen einzuschüchtern. Flüche lagen Aigonn auf der Zunge. Ein Teil von ihm hätte sie am liebsten herausgeschrien, doch die drohende Gestalt der Wache mahnte ihn eines Besseren.

Ein unkenntlicher Laut entkam seinen Lippen, als er sich umwandte und zum Dorf zurückstampfte. Aigonn kochte vor Wut. Am liebsten wäre er unversehens ins Haus seines Fürsten – oder noch besser zu Rowilan – gestürzt und hätte dort all seinem Zorn Ausdruck verliehen. Doch die Vernunft in ihm mahnte ihn schreiend zur Ruhe. Und sie hatte Recht. Wenn er so seinem Fürsten gegenübertrat, würde alles noch schlimmer werden. Die Menschen des Dorfes vertrauten ihm nicht mehr. Warum auch? Wäre er ein anderer, er hätte nicht besser gehandelt. Vielleicht würde Behlenos mit sich reden lassen. Aber nicht jetzt – und nicht in der Verfassung, in welcher Aigonn sich befand.

Tief atmend versuchte er sich zu bremsen, während er den Weg zurück in Richtung seines Hauses suchte. Es dauerte einen Augenblick, bis er feststellte, dass der Wachposten, der ihm schon bis zum Tor gefolgt war, noch immer hinter ihm herlief. Eine neue Zorneswelle überkam Aigonn. Ließ Rowilan ihn jetzt schon bespitzeln? War er so gefährlich, dass er Bewachung bedurfte? Zweimal wandte Aigonn sich herum. Am liebsten hätte er seine Wut an der Wache ausgelassen, aber ihm war klar, dass diese wohl von allen am wenigsten Schuld trug.

Somit besänftigte Aigonn sich ein zweites Mal und steuerte zielgerecht auf das Haus seiner Mutter zu. Er musste mit der Nebelfrau reden. Aigonn war bewusst, dass sie ihm noch kein einziges Mal innerhalb der Palisaden erschienen war. Womöglich gab es sogar einen Spruch, einen Bann – irgendetwas, das Rowilan gesprochen hatte, um böse Geister außerhalb des Dorfes zu halten, der die Nebelfrauen abschreckte, Gestalt anzunehmen – gewollt oder nicht. Aber er musste es versuchen. Sie wusste die Antworten auf seine Fragen. Dessen war Aigonn sich sicher.

Als er das Haus seiner Mutter erreicht hatte, stürmte er zur Tür herein, ohne sich noch einmal umzusehen. Efoh war erstaunt, seinen Bruder zornesrot wiederzusehen – so schnell. Der junge Mann legte den abgenutzten Korb beiseite, den er auszubessern begonnen hatte, und beobachtete fragend, wie Aigonn zu seinem Schlaflager stampfte und sich dort hinfallen ließ.

„Was ist dir denn widerfahren? Hast du versucht, mit Lhenia zu sprechen?“

„Nein! Nein, nein, hab ich nicht!“ Aigonns Wut war nur zum Teil abgeklungen.

„Was denn dann?“

„Was? Ach …, vergiss es! Vergiss es, ich werde es dir morgen erzählen! Ich glaube, ich lege mich noch einmal hin!“

Efohs Augen wurden groß. Selbst in Aigonns Ohren hatten diese Worte unglaubwürdig geklungen, doch als er auf einmal schwieg und mit dem Kopf an die Lehmwand gelegt nach draußen horchte, hörte er nichts.

Fragend zog Efoh seine Augenbrauen in die Höhe. Er spürte, dass sein Bruder mit diesen Worten etwas ganz anderes zu bezwecken versuchte. Und als Aigonn einen Moment nach draußen gelauscht hatte, ohne ein Geräusch ausmachen zu können, flüsterte er Efoh zu: „Rowilan lässt mich bespitzeln! Was auch immer er vorhat, ob er mir Druck machen will, ich weiß es nicht. Sicher ist nur, dass ich das Dorf ohne ihn oder Behlenos nicht mehr verlassen darf!“

Efoh fiel alles aus dem Gesicht. Er musste zweimal ansetzen, bis er die

Frage über die Lippen brachte: „Er hat was verordnet?“

„Sei leise!“

Efoh bremste seinen Ausruf, bevor er im Flüsterton wiederholte: „Rowilan will dich hier einsperren?“

„Er hat es scheinbar schon getan. Aber ich muss nach draußen. Ohne meine persönliche Leibwache. Er muss glauben, dass ich mich schlafen gelegt habe!“

Einen Moment hielt Efoh inne, schien setzen lassen zu müssen, was er soeben erfahren hatte. Dann holte er Luft, sah von Aigonn zu ihrer beider Mutter, danach die Decke hinauf, bevor er sich sammelte und mit bemüht gelassenem Ton aussprach: „Willst du wirklich nichts mehr essen, bevor du dich schlafen legst?“

„Nein.“ Aigonn hatte den mürrischen Ton angeschlagen, mit dem er diese Auseinandersetzung begonnen hatte. Sein Schmunzeln auf den Lippen dankte Efoh jedoch dafür, dass der junge Mann dieses Spiel mitspielte. Die beiden Brüder wechselten noch einige belanglose Sätze, begannen Pläne für den kommenden Tag zu machen – zwei der Kühe müssten wieder gemolken werden, es wäre an der Zeit, neue Bäume im Wald zu schlagen. Dann verstummten sie und gaben vor, Aigonn würde sich schlafen legen.

Lange, schier unerträgliche Augenblicke vergingen, in welchen Aigonn mit dem Ohr an einer Ritze in der Lehmwand lag und nach draußen horchte. Er wollte sicher gehen, dass der Wachposten wirklich die Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt hatte, als er sich erhob und so leise wie möglich den zum Wohnraum hin offenen Stall ansteuerte.

Es schabte leicht auf den Strohmatten, als er einen der Pferche öffnete. Reflexartig sandte Aigonn ein Stoßgebet gen Himmel, die Götter mochten verhüten, dass die Kühe in erschrockenes Muhen ausbrachen. Doch im Grunde war es unnötig. Ein einziger fragender Ton erklang vom anderen Ende des Stalles – mehr so, als wollten die Tiere ihn willkommen heißen. Beruhigend strich Aigonn den Kühen über Hinterteil und Kopf, während er sich zwischen ihnen einen Weg hindurch suchte. Der Geruch von Stroh, Tier und Gülle hing in der Luft. Er fuhr erschrocken zusammen, als ein Kalb verschreckt aufsprang. Es hatte auf dem Boden gelegen. Aigonn hatte es getreten. Ein unverständlicher Fluch entrang sich seinen Lippen, während seine Stirn noch tiefere Falten bildete. Die Düsternis machte es fast unmöglich, die liegenden Tiere zwischen dem Stroh auf dem Boden zu erkennen.

Es dauerte lange, fast endlose Herzschläge, bis Aigonn endlich am rückwärtigen Tor des Stalles angelangt war. Einige Schafe, die in einem separaten Teil des Raumes untergebracht waren, gaben verschlafene Laute von sich. Als Aigonn innehielt und sich einen Moment Zeit ließ, fanden die Tiere den gewohnten Rhythmus des Abends wieder. Ihre Stimmen pendelten sich auf die gleichmäßige Geräuschkulisse ein, die für Aigonn schon immer ein Teil seines Zuhauses gewesen war.

Angestrengt lugte er durch den Spalt, der seit einiger Zeit zwischen den großen Türen des hinteren Stalltors klaffte, und spähte nach draußen. Nichts regte sich. So leise er konnte, schob Aigonn eine der Türen durch das nasse Gras – nur so weit wie nötig – und zwängte sich darauf in die Nacht hinaus. Zwei Häuser mit Stallungen trennten ihn von dem nahen Wall. Bis zum letzten Gebäude überwand er diese Strecke beinahe ohne Hindernis. Doch nun galt es zu warten.

So eng wie möglich presste Aigonn sich an den feuchten Lehm. Die Nachtwachen drehten dieser Tage – da der Krieg noch so nahe war, dass niemand Unachtsamkeit wagte – zu viert ihre Runden hinter den Palisaden entlang. Die Plattform, die ihnen erhöhte Sicht und zugleich noch immer Schutz vor heranfliegenden Lanzen bot, hatte Behlenos vor wenigen Monaten in Eile zusammennageln lassen – so sporadisch, dass Aigonn gefürchtet hatte, sie würde nach einem Tag wieder zusammenbrechen. Doch einige stützende Balken hatten es möglich gemacht, dass die Wachen unbehelligt nach Feinden Ausschau halten konnten – oder unerwünschten Flüchtlingen aus dem Inneren.

Leise Schritte verrieten Aigonn, dass die erste Wache nahe war. Er wagte nicht zu atmen, als er sich in den Schatten der Stallungen drückte und abwartete, bis der Krieger auf dem Wehrgang vorbeigelaufen war. Zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig Herzschläge – dann hatte Aigonn genügend Abstand gewonnen, dass er sein Vorhaben wagen konnte.

So schnell wie möglich huschte er aus seiner Deckung und suchte Halt bei den Stützbalken des Wehrganges. Ein kurzer Blick über die Siedlung verriet ihm, dass zwei der Wachen noch auf der anderen Seite des Walls ausharrten – zu seinem Glück scheinbar in ein Gespräch vertieft. Der vierte Wachposten schlenderte gemütlich den Wall entlang, müde – und weit genug entfernt.

Mit gehörigem Schwung hievte Aigonn sich auf den Wehrgang. Ihm blieb der Atem im Halse stecken, als er die Bretter unter sich knarren hörte. Nicht nur vor Schreck. Der Schmerz in seinen gebrochenen Rippen trieb ihm alle Luft aus den Lungen. Mit dem steif bandagierten Arm hatte er sich kaum mit der nötigen Behändigkeit auf den Wehrgang ziehen können. Aber das war nun egal. Niemand hatte ihn bemerkt, niemand reagierte.

Leise presste Aigonn sich gegen die Palisaden. Er war gerade groß genug, dass sein Kopf über die angespitzten Enden der zugeschnitzten Baumstämme hinwegsah – ganz gleich, ob es ihm etwas nutzte. Die Nacht war hell, aber finster genug, dass der nahe Wald nur ein schwarzer Schatten war. Die Nebelschwaden auf den Wiesen schienen wie alter Staub von den Sternen gefallen. Aigonn konnte nicht sagen, wo ihre Gestalt einen Anfang nahm, und wo sie endete. Das war seine Chance. Die einzige, um in dieser Nacht noch Antworten zu erhalten.

„Herrin!“ Sein geflüsterter Ruf verschwand im Schrei eines Waldkauzes. „Herrin, höre mich! Ich brauche deine Hilfe!“

Nichts geschah. Der milde Wind brachte in die Nebel eine kaum merkliche Bewegung, die weder Ziel noch Beginn zu haben schien. Doch niemand antwortete ihm. Keine Gestalt erhob sich aus den silbernen Schwaden.

„Herrin! Ich bitte dich!“ Aus Aigonns verklungener Wut wurde Missmut. Er glaubte selbst schon nicht mehr daran, dass er die Antworten erhalten würde, nach denen es ihn so verlangte, als er es zum letzten Mal versuchte: „Herrin aus den Nebeln! Höre mich!“

Doch sie hörte ihn nicht. Ein Blick über die Schulter mahnte Aigonn, dass es an der Zeit war, den Wehrgang zu verlassen. Die beiden Wachposten hatten sich wieder getrennt. Aigonn erkannte die schemenhafte Gestalt von einem der Krieger, die sich undeutlich vom nachtschwarzen Firmament abhob. Noch einmal, mit der einzigen, übrig gebliebenen Hoffnung spähte er auf die Wiesen hinaus. Sein Ruf blieb ungehört. Ungehört.

Enttäuscht schwang Aigonn sich die Palisaden hinab. Ihm war der Sinn nach Fragen und deren Antworten vergangen. Er unterdrückte sie, sperrte sie weg, die Fragen, tief hinein in seinen Kopf. In dieser Nacht hatte es ja doch keinen Sinn.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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