Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 22

Vom Sterben

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Gemischte Gefühle stiegen in Aigonn auf, als er Behlenos davoneilen sah. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, von dem Toten. Während sich seine Gedanken mit ganz elementaren Fragen beschäftigten, stieg immer wieder ein namenloses Gefühl in ihm auf – eine Angst, Bedrückung, was auch immer es war. Er wünschte sich, dass er sich davon befreien könnte, doch es war zwecklos.

Auf einmal fasste eine Hand nach seinem Arm. Die Menge der Schaulustigen hatte sich gelichtet, sodass niemand bemerkte, wie die junge Frau zu ihm sagte: „Komm mit mir!“ Dann zog sie ihn, ohne auf eine Entgegnung zu warten, hinter sich her in den Schatten zweier Ställe.

Aigonn wusste nicht, ob er erstaunt oder erschrocken sein sollte, als er den Augen der jungen Frau begegnete. Ganz gleich, ob es Lhenias Körper gewesen war, er hatte dem toten Mädchen gegenüber noch nie so fremd gewirkt wie in diesem Moment. Erkennen, erschrockene Klarheit hatte sich in die Zügen der jungen Frau eingebrannt, und er hörte es an ihrer Stimme, als sie sagte: „Das ist es!“

„Was?“

„Dieser Tote. Er ist es, warum ich da bin.“

Aigonn stutzte einen Moment, auch wenn er diese Nachricht längst erahnt hatte. Schon in dem Augenblick, als er die junge Frau vor der Leiche hatte stehen sehen, war ihm klar geworden, dass sie etwas erfahren hatte, was außer ihr niemand sonst wusste. Antworten!, schrie es in Aigonns Kopf. Jetzt gibt es Antworten!

„Woher weißt du es?“, fragte er sie.

„Ich habe es gesehen. Ich kann dem, was ihm widerfahren ist, keinen Namen geben. Aber als ich sein Gesicht gesehen habe, habe ich mich erinnert – an ein Gefühl. An ein abscheuliches Gefühl. Es schien, als ob ich gefühlt hätte, was er gefühlt hat.“

„Glaubst du wirklich, dass er sich selbst getötet hat?“

„Ja“, antwortete sie mit Bestimmtheit. „Ich bin sicher. Es steckt etwas dahinter. Ich kann dir nicht sagen, was es ist. Aber das muss es sein. Das, weshalb ich hier bin.“

Auf einmal bremste sich ihre Aufregung. Ihr Blick erforschte Aigonns Miene und ließ sie sich daran erinnern, was ihr aufgefallen war. „Aber du! Du weißt auch mehr als alle anderen. Es hat einen Grund, warum die Nebelfrau ausgerechnet dich ausgeschickt hat, um nach mir zu suchen. Und ich glaube, es hängt damit zusammen, was du weißt. Auch du hast dich an etwas erinnert, als du ihn gesehen hast. Was war es?“

Aigonn erstarrte. Die Schatten, die ihn seit diesem Morgen verfolgten, hatten in jenem Moment seine Abwehr überwunden und umarmten ihn mit all der Grausamkeit, vor der er zu fliehen versuchte. Bilder zuckten vor seinen Augen umher. Er wusste genau, was die junge Frau meinte und es graute ihm davor, dass es nun an der Zeit war, der Vergangenheit wiederzubegegnen.

„Wir sollten uns einen Ort suchen, an dem wir wirklich vor unliebsamen Zuhörern geschützt sind.“

„Ich folge dir.“

Aigonn führte die junge Frau durch das Dorf in Richtung seines Elternhauses. Als sie am Marktplatz vorbeikamen, mied er den Anblick der verzweifelten Gestalt, die selbst im Tod keine Ruhe gefunden hatte. Er flüchtete sich durch die Tür in das stickige Halbdunkel und begrüßte Efoh, der gerade ein einseitiges Gespräch mit ihrer Mutter führte: „Efoh, würdest du uns kurz allein lassen?“

Efoh verharrte kurz, blickte von Aigonn zu der jungen Frau und wieder zurück, bevor er entgegnete: „Sind deine Geheimnisse doch so groß und wichtig, dass du sie nicht mit mir teilen willst?“

„Sie sind es. Es tut mir leid, aber diesmal … ist es nicht für dich gedacht, was wir besprechen müssen. Würdest du gehen?“

Aigonn traf der stumme Blick seines Bruders. Er spürte, dass er Efoh in diesem Moment mehr enttäuscht hatte, als er es bislang vermutete. Doch als sein Bruder das Haus verließ, gab Aigonn sich zufrieden und bot der jungen Frau einen Sitzplatz auf den Fellen am Herdfeuer an.

Moribe webte leise summend an dem Stück Stoff, das wohl niemals fertig werden würde. Aigonn hatte sie einmal dabei beobachtet, wie sie die Fäden wieder aus dem Rahmen herausgezogen hatte, kurz bevor sie ihr Werk beendet hätte. Der Stoff zuvor, den sie fertig aus dem Rahmen gelöst hatte, war dem Herdfeuer zum Opfer gefallen.

„Möchtest du etwas essen oder trinken?“

„Nein.“ Der Ton der jungen Frau verriet, dass sie endlich zur Sache kommen wollte. „Nun erzähl!“

Aigonn atmete tief ein, als er sich neben sie ans Feuer setzte. Kurz huschte sein Blick zu seiner Mutter, als ob sie ihm helfen könnte, diese Bürde zu tragen. Denn immerhin war sie dabei gewesen, als geschehen war, was er nun erzählen würde. Doch Moribe nahm von ihrem Sohn keine Notiz, auch nicht von der fremden Frau. Sie blieb ein Teil ihrer eigenen Welt. Nichts sonst.

„Meine Schwester Derona ist eine Schülerin unseres Schamanen gewesen. Sie war sehr viel älter als ich. Ich kann dir nicht sagen, worin genau ihre Talente bestanden, doch Rowilan hat sehr viel in ihr gesehen. Und obwohl es nicht üblich ist, hat er sie kaum nach Abschluss seiner eigenen Ausbildung in die Lehre genommen.“

Aigonn sah die junge Frau nicht an. Er starrte auf die ausgeglühten Holzscheite der Feuerstelle, als ob er die Flammen damit wieder entzünden könnte.

„Ich glaube, Rowilan war in Derona verliebt. Vielleicht wollte er sie deshalb so schnell an sich binden. Sie hat ihn nicht unattraktiv gefunden. Genau kann ich es nicht einschätzen, es ist sehr lange her. Jedenfalls hat er gehofft, irgendetwas mit oder durch Derona zu erreichen. Er ist damals noch sehr ehrgeizig gewesen. Was es war, das brauchst du mich nicht fragen. Aber Derona war zu Dingen in der Lage, die er nicht beherrscht hat. Deshalb hat er sie gebraucht. Ich kenne nicht genügend Details …“

„Was ist geschehen?“, fiel die junge Frau Aigonn ins Wort. Sie schien zu spüren, dass er schon wieder vor dem relevanten Geschehen zu flüchten versuchte. Doch sie wollte es nicht zulassen. Ungewollt begann seine Stimme zu zittern:

„Wie gesagt, ich weiß nicht, was sie getan oder versucht haben. Aber Derona hat es nicht verkraftet. Sie ist mit der Zeit immer verstörter geworden, hat sich verfolgt gefühlt. Rowilan hat es nicht ernst genug genommen oder nicht verstanden. Jedenfalls … eines Tages … ist sie zum Abend hin verschwunden. Sie muss mit meiner Mutter vorher über ihre Ängste gesprochen haben, sonst hätte sie nicht gewusst, wo sie suchen musste.“

In diesem Moment verließ Aigonn die Gegenwart. Er kehrte zurück in jene sternenlose Nacht, zum Grab der Götter, sah seine Mutter mit der Fackel vorauseilen.

„Wir haben Derona beim Grab der Götter gefunden – dort, wo ich dich gefunden habe. Ich bin dabei gewesen. Wir waren zu spät, um sie aufzuhalten. Ich glaube …“ Die letzten Worte sprach er nicht aus. … diese Bilder werden mich bis ans Ende meines Lebens verfolgen.

„Aigonn!“ Die junge Frau sah ihn an, fast fürsorglich.

„Sie hat sich von einem der Felsen gestürzt.“ Zwei tote Augen sahen zu ihm auf. Augen, denen dieselbe Verzweiflung innelag, wie sie der Leiche auf dem Marktplatz anhaftete.

Die junge Frau fragte nicht weiter. Sie verstand, was diese Botschaft für sie beide bedeutete. Vorsichtig hakte sie nach: „Du warst dabei?“

„Ja.“ Aigonn konnte nicht sagen, wer für ihn redete. Sein Körper war nur noch eine lebende Hülle. Sein Geist wurde von einem unsichtbaren Sog in der Vergangenheit gehalten, dem er sich nicht entziehen konnte. Tote Augen. Die Verzweiflung schien auf ihn überzugreifen. Derona hatte so oft stumm nach Hilfe gerufen, selbst er hatte es damals gesehen.

Warum hatte seine Mutter nicht früher vorausgeahnt, was kommen würde? Im Grunde war er sich sicher, dass sie damit gerechnet hatte. Warum hatte sie nichts getan? Und vor allem, warum hatte Rowilan nichts getan? Er war der einzige, der von den Umständen ihres Todes gewusst hatte, der mitverfolgt hatte, was sie so in den Wahnsinn getrieben hatte. Eine unsägliche Wut brannte plötzlich in Aigonn auf. Ihm schien es, als müsse er hinaus zum Haus des Schamanen rennen und endlich jede Antwort einzeln aus diesem verhassten Subjekt herausprügeln. Rowilan hatte ihn zum Lehrling haben wollen. Ihn, nachdem er seine Schwester in den Tod getrieben hatte! Der Geschmack dieser Dreistigkeit wurde ihm erst in diesem Moment voll und ganz bewusst. Er hatte so lange vermieden, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Alles, alle Gefühle wogten wie eine Sturmwelle über ihn hinweg. Sein Kopf schien zu zerbersten.

Die Hilflosigkeit, das Versagen seiner Angehörigen, die Wut – so, wie er damals dem Geschehen ausgeliefert gewesen war, so hielten ihn nun diese Emotionen in fester Hand, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Hätte er nicht selbst damals etwas tun können? War es nicht auch seine Schuld? Aber er war so jung gewesen. Was hätte ein Kind schon tun können?

Er merkte kaum, dass er laut aussprach: „Ich ertrage ihn nicht mehr, diesen Tod. Überall verfolgt mich der Tod. Ich kann mich nicht dagegen wehren, er ist immer da …“

„Aigonn!“ Als eine Hand seinen Arm berührte, zuckte er so heftig zurück, als wäre diese brennend heiß. Die Wirklichkeit schien unter der Flut unkontrollierter Emotionen aufzutauchen. Er starrte der jungen Frau mehrere Herzschläge lang ins Gesicht, bis ihm einfiel, warum sie hier war, was er ihr erzählt hatte. Unsicherheit verbarg sich in ihrer Stimme, als sie fragte: „Was ist nach dem Tod deiner Schwester geschehen? Hat euer Schamane verraten, was ihr widerfahren ist?“

„Nein.“ In Aigonn loderte es. Unmerklich begannen seine Hände zu zucken. „Rowilan ist bestürzt gewesen. Ich will nicht abstreiten, dass er etwas für Derona empfunden hat, aber er hat eisern geschwiegen – selbst Behlenos gegenüber. Die beiden sind seit jeher gute Freunde gewesen und haben sich scheinbar untereinander arrangiert. Ich weiß nicht wie, aber jedenfalls hat Behlenos versucht, die Angelegenheit ruhen zu lassen und zu warten, bis die Zeit Wunden heilt. Aber es ist ihm nicht gelungen.“

Aigonns Blick haftete auf seiner Mutter. Für einen kurzen Augenblick war es ihm vorgekommen, als hätte sie seine Augen gestreift, eine stumme Zustimmung zu dem gegeben, was er berichtete. Doch er konnte sich auch täuschen.

„Meine Mutter hat Deronas Tod nicht verkraftet. Sie hat sich tagelang zurückgezogen und nur durch das Zureden und die Fürsorge meines Vaters wieder dem normalen Leben zugewandt. Er hat geschwiegen, aber nur Efoh und mir zuliebe. Gut ein Jahr später hat er es nicht mehr ausgehalten und versucht, Rowilan zur Rede zu stellen. Als der sich ihm verweigert hat, hat ihn die Wut überkommen. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist. Aber einen Tag später hat Rowilan ihn vor Behlenos angeklagt, dass er versucht habe, ihn zu töten. Mein Vater hat die Anklage nicht abgestritten. Vor niemandem. Behlenos muss wohl Angst vor noch mehr Aufsehen und Unruhe gehabt haben, denn er und der Rat haben ihn nicht zum Tode verurteilt, sondern stattdessen aus dem Dorf gejagt. Wahrscheinlich ist er tot, wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.“

Aigonn hatte gesprochen, als wäre er nicht anwesend gewesen. Erst jetzt, als sein Geist wieder Notiz von Moribe nahm, die keine fünf Fuß weit von ihm entfernt saß, stockte er und schwieg einen langen Moment. Dann fügte er hinzu: „Nachdem mein Vater verschwunden war, hat meine Mutter den Verstand verloren. Den Tod meiner Schwester hat sie nicht verkraftet, und heute spricht sie mit niemandem mehr, nimmt keinen in ihrer Gegenwart wahr. Schon andere Schamanen außer Rowilan haben versucht, ihr zu helfen, aber es hat nichts genutzt. So wie sie heute ist, wird sie wohl bis an ihr Lebensende bleiben.“

Der Zorn loderte in ihm. Auf einmal konnte er gar nicht mehr verstehen, warum ihn all dies so spät erst ereilte. Vielleicht war er zu lange weggelaufen. Vielleicht hatte sein Unterbewusstsein warten wollen, bis er bereit sein würde, seiner Schwester, seiner Mutter und seinem Vater die Gerechtigkeit zu bringen, die ihnen verwehrt worden war. Ja, vielleicht war es nun an der Zeit. Ein gefährliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Aigonn umfasste und rieb sich immer wieder die Hände, als könnte er sie nie wieder still halten. Gerechtigkeit. Es war das erste Mal seit so vielen Jahren, dass ein Hauch der Genugtuung in seinem Geist aufflammte – Genugtuung im Gedanken daran, was er tun konnte. Zu was er nun in der Lage war. Als Aigonn geradeaus auf die gegenüberliegende Hauswand sah, erkannte er dort für einen Herzschlag ein nicht identifizierbares Wesen – unwirklich wie eine schwarze Nebelwolke, aber da, klein wie ein Kind. Sah man lange genug hin, konnte man sich die Umrisse eines Menschen einbilden. Diesmal verspürte Aigonn nur einen kurzen Schreck, keine Angst. Er wusste, dass er diesem Wesen nicht das erste Mal begegnete. Doch dieses Mal ging von ihm keine Bedrohung aus. Vielmehr schien es, als spiegelte sich in dieser Gestalt dasselbe Lächeln, das noch immer unbewegt auf Aigonns Lippen ausharrte.

Als die junge Frau Aigonns starren Blick bemerkte, neigte sie sich ein Stück in seine Richtung und versuchte zu sehen, was er sah. In diesem Moment verschwand das Wesen. Aigonn schien wie aus einem Schlaf zu erwachen, schüttelte sich kurz, bevor er seinen Blick abwandte und die junge Frau ansah. Deren Gesicht verriet, dass sie nicht wusste, was sie von all dem halten sollte. Misstrauen und ein Funke Unsicherheit verbargen sich in ihren Augen, während sie überlegte, was es nun zu sagen gab.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, bis sie endlich wagte zu fragen: „Glaubst du, dass deiner Schwester dasselbe widerfahren ist wie diesem toten jungen Mann auf dem Marktplatz?“

„Ja.“ Mehr konnte Aigonn dazu nicht sagen. Seine Gedanken kreisten noch immer um die Möglichkeiten, die sich ihm plötzlich aufgetan hatten. Unfreiwillig musste er sich wieder von ihnen abwenden, als er die junge Frau neben sich leicht hin und her rutschen hörte. Schließlich fragte er: „Was willst du jetzt tun?“

„Im Moment können wir nicht herausfinden, was diesem jungen Mann zugestoßen ist, aber …“

„Aber was?“

„Wenn du mir helfen würdest, bliebe uns eine Möglichkeit. Ich muss nur sagen, ich weiß nicht, ob es gelingen wird. Du hast niemals eine Ausbildung erhalten. Das, was ich vorhabe, könnte schwer für dich werden.“

„Um was geht es?“

„Es ist … Inwieweit lehrt man euch über Tod und Wiedergeburt?“

Aigonn zuckte mit den Schultern. „Wenn wir sterben, gelangt die Seele in die Andere Welt. Sobald sie bereit ist, wird sie in einem neuen Körper wiedergeboren. Das ist es, was ich weiß.“

Die junge Frau schürzte die Lippen. Aigonn konnte erkennen, dass sie mit dieser Antwort unzufrieden war.

„Das mag stimmen. Aber es gibt noch mehr. Hast du schon einmal davon gehört, dass Erinnerungen an Orten zurückbleiben können?“

Aigonn hob nur fragend die Augenbrauen.

„Nun …, ich wurde gelehrt, dass jedes sterbliche Wesen eine Spur an dem Ort hinterlässt, wo es gelebt hat oder vielleicht nur einmal gewesen ist. Wichtige, schwerwiegende Ereignisse beispielsweise hinterlassen eine Art … ‚Abdruck‘ dort, wo sie stattgefunden haben. Das ist der Grund, warum noch Generationen nach einem Krieg oder einer Schlacht Nachfahren von Kriegern dasselbe Grauen spüren wie ihre Ahnen, wenn sie einen Ort betreten – auch wenn sie nichts über dieses Schlachtfeld wissen.“

Die junge Frau hielt kurz inne, um zu prüfen, ob Aigonn ihren Worten noch folgte. Dieser lauschte schweigend, weshalb sie fortfuhr: „Dasselbe gilt für Menschen. Wenn eine Person wiedergeboren wird, kann sie sich meist kaum mehr an ihr vergangenes Leben erinnern. In der Regel bleibt Wissen wie eine Art Instinkt erhalten, aber am seltensten behält man sich die persönlichen Erinnerungen, Namen, Gefühle, dergleichen. Wie viel erhalten bleibt, ist von der Person selbst abhängig. Ein Greis, der sein Lebensende nahen spürt und sich lange auf seinen Tod vorbereitet, kann viele Erinnerungen mit sich nehmen. Jemand aber, der plötzlich stirbt, wird sich im nächsten Leben an wenig erinnern. Die Bilder, die er zurückgelassen hat, bleiben entweder am Ort seines Todes oder in seinem Körper.“

„Was hilft uns das?“ Aigonn wusste nicht recht, was die junge Frau ihm sagen wollte.

„Ich habe … einmal gelernt, diese verlorenen Erinnerungen zu finden. Der junge Mann wird nicht viel mit in die Andere Welt genommen haben. Vielleicht … können wir sehen, wie er gestorben ist.“

Aigonn zog die Augenbrauen in die Höhe. Er hatte sich nie mit Schamanen und deren Lehren auseinander gesetzt, weshalb er sich im Moment kaum vorstellen konnte, von was die junge Frau sprach. „Und wofür brauchst du mich?“

„Nun …, ich habe gelernt, die Erinnerungen zu finden. Aber du bist der Seher. Du wirst sie sehen, besser als ich. Du wirst viel mehr aus ihnen lesen können und behalten, denn deine Sinne sind dafür geschärft. Damit wurdest du geboren. Ich würde nicht ansatzweise so viel aus diesen Erinnerungen mitnehmen wie du!“

Aigonn schluckte. Er saß steif auf seinem Fell und starrte die junge Frau an, als hätte sie einen Fluch über ihn ausgesprochen. Er sollte ein solches Ritual ausführen? Er? Er, der niemals versucht hatte, diese Fähigkeiten zu kontrollieren, die er scheinbar besitzen musste, besitzen sollte? Zweifel schwangen in seiner Stimme mit: „Heißt das, ich werde sehen, wie dieser Junge gestorben ist?“

„Du wirst weniger sehen“, antwortete die junge Frau zögerlich, „als vielmehr fühlen, … was ihn in den Tod getrieben hat. Das ist der Nachteil daran. Ich kann nicht von dir verlangen, das für mich zu tun; ich kann es auch ohne deine Hilfe probieren. Aber du würdest mir helfen, sehr sogar.“

Unwirsch schüttelte Aigonn mit dem Kopf. Auf einmal hatte er das Gefühl, dass ihn all das Gesagte und die vielen Erinnerungen, die noch immer in seinem Geist aufblitzten, grenzenlos übermannten.

„Was habe ich eigentlich damit zu tun, mit all dem? Warum ich?“

„Ich fürchte, weil es sonst niemanden hier gibt, dem ich vertrauen kann.

Ich kann dir nicht sagen, was hier vorgeht, aber vielleicht werde ich es bald. Du hast deine halbe Familie aus einem Grund verloren, der dir immer noch nicht schlüssig wird. Das könnte sich ändern!“

Aigonn schwieg. Einen Moment lang fragte er sich, ob er überhaupt wissen wollte, was seine Schwester in den Tod getrieben hatte. Doch eine Stimme in seinem Inneren sagte ihm, dass es richtig war, wenn er es erfuhr. Für eine kurze Zeit rang er noch mit sich selbst, dann antwortete er der jungen Frau: „Ich werde dir helfen, soweit ich es vermag. Aber es liegt an dir – alles. Das letzte Mal, als ich auch nur unfreiwillig von meinen Fähigkeiten Gebrauch gemacht habe, wäre ich fast gestorben. Wenn ich dir helfen soll, fürchte ich, vertraue ich dir mein Leben an.“

„Du kannst mir vertrauen. Das ist das einzige, das ich dir verspreche.“

Aigonn nickte. Er zweifelte nicht an der jungen Frau, dafür hatte er gar keinen Grund. „Wann wollen wir es versuchen?“, fragte er.

„Ist es immer noch so, dass ein Toter nicht länger als einen Tag und eine Nacht aufgebahrt sein darf, bevor man ihm sein Begräbnis zukommen lässt?“

„Ja.“

„Dann schon morgen. Dein Schamane oder sein Gehilfe werden den jungen Mann morgen beerdigen müssen. Sobald seine Seele in die Andere Welt übergegangen sein wird, müssen wir versuchen, an den Leichnam zu gelangen. Im Zweifelsfall werden wir das Grab öffnen.“

Aigonn schauerte es. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was auf ihn zukam, wenn er versuchen wollte, der jungen Frau zu helfen. Doch er spürte, dass er das Richtige tat. Er hatte gerade den Mund geöffnet, um seinen Worten noch etwas hinzuzufügen, als es auf einmal an der Tür klopfte.

Er schloss seinen Mund, erhob sich unwillig und rief: „Wer ist da?“

„Ich bin es, Oran.“

Die junge Frau sog scharf die Luft ein. Sie schien ganz vergessen zu haben, dass Lhenias Vater seine vermeintliche Tochter suchen würde.

„Komm herein!“ Die Tür öffnete sich und der alternde Bauer blickte schüchtern in das Haus hinein. Hinter ihm erkannte Aigonn Efoh, dem scheinbar die Lust vergangen war, sich draußen die Zeit zu vertreiben. Denn heute hatten keine größeren Arbeiten angestanden. Ein anderer Schäfer überwachte Aigonns und Efohs Herde zusammen mit seiner eigenen.

„Verzeih die Störung, Aigonn, aber … Oh, da bist du ja, Lhenia! Du bist heute Morgen so aufgeregt gewesen, ich hatte schon Angst, du …“

„Nein, hier bin ich doch.“ Die junge Frau lächelte warm, erhob sich und lief zu Oran. Aigonn erschrak fast darüber, wie sich schlagartig der Ausdruck ihres Gesichtes änderte und damit ihr ganzes Antlitz. Sie wirkte viel jünger, mädchenhafter – fast so, wie Aigonn die echte Lhenia in Erinnerung behalten hatte.

„Aigonn und ich haben nur etwas geredet. Du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen!“

Oran erwiderte nichts mehr, sondern strich seiner vermeintlichen Tochter stattdessen nur durch das kurze Haar. Die junge Frau verabschiedete sich und verließ mit ihrem Vater das Haus. Im Gegenzug trat Efoh ein, tauschte einen kurzen Blick mit seinem Bruder und ließ sich dann auf die Felle sinken.

„Aehrel möchte morgen kurz bei uns vorbeisehen“, sagte er merkwürdig tonlos. „Haben wir noch Fleisch da, um ihn zu bewirten?“

Aigonn zögerte mit seiner Antwort. Er spürte, dass Efoh beleidigt war, und er wusste selbst zu gut aus welchem Grund. Daher ging er erst gar nicht auf die Frage ein, sondern sagte beschwichtigend: „Efoh, bitte! Ich wollte dich nicht kränken! Du brauchst nicht zu glauben, dass ich dir misstraue. Aber ich kann dir im Moment von diesen Dingen nichts erzählen. Es wäre auch … zu umständlich, dir alles zu erklären.“

Efoh sah zu ihm auf. Sein Blick hatte etwas Scharfes an sich. Er schien Aigonn zu stechen, als er dessen Augen fand. Der wunde Nerv war getroffen.

Anstatt jedoch auf Aigonns Entschuldigung einzugehen, beließ Efoh es dabei und wiederholte nur noch einmal: „Haben wir Fleisch da?“

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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