Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 25

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Die Stimmen waren das erste, das Aigonn wahrnahm. Sie wollten sich nicht recht in seine Träume einfügen, deren Botschaft wohl kein Sterblicher verstand. Als er jedoch die Augen aufschlug, sah er dieselbe Schwärze vor sich, die ihm bereits einen Moment der Ruhe vergönnt hatte.

„Aigonn?“ Die flüsternde Stimme geleitete ihn in die Wirklichkeit zurück. „Aigonn, bist du wach?“

Auf einmal waren weitere geraunte Worte zu hören. Eine Gestalt war neben ihm in die Knie gegangen, beugte sich nun über ihn und blickte besorgt zu Aigonn hinab. „Aigonn?“ Nun erkannte er die Stimme. Der Schein einer Flamme beleuchtete die schwarze Silhouette seitlich und enttarnte für einen Atemzug das blutverschmierte Gesicht eines jungen Mannes.

„Bral?“ Aigonn erschrak selbst, als er den gebrochenen Klang seiner Stimme hörte. Der junge Krieger trat ein Stück weiter in den Schein des Feuers hinein, sodass eine unschöne Schürfwunde sichtbar wurde, die Brals Gesicht vom Kinn bis zum Wangenknochen überzog.

Endlich entsann Aigonn sich, was geschehen war. Die Erinnerungen stürzten auf ihn ein. Die Schlacht, die Reiter, Anation. Waren dies die Überlebenden? Waren sie überhaupt noch am Leben? Ruckartig versuchte er aufzustehen, wollte nachsehen, wer ihn umgab. Doch der Schmerz, der ihm mit einer Bewegung die Luft aus den Lungen presste, war der beste Beweis dafür, dass er noch nicht in die Andere Welt hinübergegangen war.

Als ein Stöhnen seinen Lippen entkommen war, fühlte er Brals Hände unter seine Achseln fassen. Mit der Hilfe des Kriegers gelang es ihm, sich auf die Beine zu ziehen. Gut und gern fünfzehn Gestalten umgaben Aigonn und Bral. Ersterer erblickte sie erst jetzt und musste seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, bevor er einzelne Gesichter in seiner Nähe erkennen konnte.

Zwei der Torwachen sahen ihn an. Daneben befanden sich vier Frauen, ein halbwüchsiger Knabe und einige Bauern, deren Gesichter in den Schatten nicht erkennbar waren. Sie alle hatte man in einen fast schwarzen Raum gepfercht, dessen modriger Geruch und die feuchte, kühle Luft ihn als Felshöhle verrieten. Eine halbrunde, gut mannshohe Öffnung war der einzige ersichtliche Zugang nach außen, die mit dünnen Baumstämmen und dicken Ästen so gut versperrt war, dass man bestenfalls eine Hand zwischen den Ritzen hindurchstecken konnte.

Die Lichtquelle war ein Feuer, einige Fuß weit entfernt, jedoch groß genug, dass es Strahlen wie eine rote Mittagssonne in die Höhle fallen ließ und die kläglichen Gestalten beleuchtete, die man dort zurückgelassen hatte. Nun hörte Aigonn auch die Stimmen, die von außen bis in die Dunkelheit drangen. Fröhliche Lieder, die Euphorie über einen Sieg, der so gewiss gewesen war wie kein zweiter, schallten über die Landschaft und fingen sich irgendwo an niedrigen Felshängen, welche die Stimmen vervielfachten.

Sich seiner Lage gewiss, wagte Aigonn endlich zu fragen: „Wer hat überlebt?“

„Ein Drittel der Menschen vielleicht.“ Es war Bral, der ihm antwortete. „Als die Palisaden gefallen sind, haben die Eichenleute sich davor gescheut, die Kinder und Halbwüchsigen zu töten, deshalb sind es noch so viele. Alle, die du hier siehst, und fünf andere sind die einzigen Krieger, die diese Schlacht überlebt haben. Soweit ich es erkennen konnte zumindest.“

Bestürzt blickte Aigonn in die Dunkelheit, dorthin, wo er die Silhouetten der anderen Bärenjäger erkannte. Ihr Schweigen bestätigte Brals Worte. Alle sinnlosen Hoffnungen, die er mit sich getragen hatte, brachen binnen einem Moment über ihm zusammen. Panik stieg auf. Seine Stimme hatte zu zittern begonnen, als er nachhakte: „Was ist mit Behlenos?“

„Er wollte sich in sein Schwert stürzen, doch diese Gelegenheit ist ihm versagt geblieben. Stattdessen haben sie ihn gefangen genommen und unter Jubelschreien in ihre Siedlung gebracht. Ich kann dir nicht sagen, was sie mit ihm vorhaben. Doch ich glaube kaum, dass der Eichenfürst Gnade walten lassen wird.“

„Wieso? Was haben wir ihnen getan?“

Bral lachte trocken. „Der Tote, der Selbstmörder, den wir am Waldrand gefunden haben. Sie behaupten bei ihrem Leben, dass wir an seinem Tod schuld sind, und wie es scheint, ist er nicht der einzige, der vermisst wird.“

„Es gibt noch andere?“ Aigonn wollte Bral kaum Glauben schenken.

„Sie behaupten das, ja. Ich persönlich kann nicht anders, als ihnen zu glauben. Alles andere würde diesen Krieg überhaupt nicht lohnend machen. Wenn es dem Eichenfürsten nur um das fruchtbare Land ginge, das sich in unserem Besitz … befand, bräuchte er nicht eine solche Geschichte um seinen Feldzug zu dichten.“

Aigonns Kopf schien zu zerplatzen. Deronas Erinnerungen, die sich wie seine eigenen in seinen Geist eingebrannt hatten, traten ihm wieder vor Augen. Seine Schwester, eine willenlose, von Geistern verfolgte Gestalt, die gezwungen war, nach einer verlorenen Seele zu suchen. Wenn dieser eine junge Mann ähnlich begabt gewesen wäre wie sie, hätte alles einen Sinn machen können – dass er denselben Wahnsinn in den Augen trug wie damals Derona. Aber noch mehr Tote? Noch mehr in den Tod Getriebene? Es ergab keinen Sinn. Nicht im Geringsten.

„Was haben sie mit Rowilan gemacht?“

Auf einmal blitzte ein Funken Hoffnung in Brals angestrengter Miene auf. „Nichts. Er ist fort. Entkommen mit ein paar wenigen anderen. Zwar haben sie alle Gefangenen in mehrere Gruppen aufgeteilt und an unterschiedlichen Orten zusammengepfercht, aber Rowilan scheint nicht der einzige zu sein, der davongekommen ist – zum Ärger der Eichenleute.“

„Sie suchen nach Rowilan“, klinkte sich schließlich einer der Torwächter in das Gespräch ein. „Die Eichenleute glauben, dass er für den Tod dieser jungen Leute verantwortlich ist. Auf ihn sind sie genauso verrückt wie auf Lhenia – nur, dass sie die nicht mehr suchen müssen.“

„Lhenia?“ Der Schreck war nicht gespielt. Insgeheim hatte Aigonn gehofft, Anation wäre vielleicht in der Lage gewesen, den Männern zu entkommen. Doch diese Annahme zerschlug sich. „Was haben sie mit ihr gemacht?“

„Das wissen nur die Götter allein. Als sie die Überlebenden getrennt haben, wurde sie zusammen mit Behlenos weggebracht. Wahrscheinlich ist sie schon tot oder wird es bald sein. Die Eichenleute fürchten sie wie eine Göttin des Chaos.“

Er konnte nicht sagen aus welchem Grund, doch unvermutet begann Aigonn, in sich hinein zu lachen. Für ihn war es schwer vorstellbar, Anation, jene sonderbare Frau, die über allen Dingen zu stehen schien, den Eichenleuten hilflos ausgeliefert zu wissen. So einfach konnte es doch gar nicht enden!

Auf einmal raschelte es hinter der kleinen Gruppe Menschen in der Dunkelheit. Eine Gestalt erhob sich aus dem Staub des Höhlenbodens und trat langsam in den Feuerschein hinaus. Aigonn wollte seinen Augen nicht trauen. Sein Gewissen flüsterte im Hinterkopf, erinnerte ihn daran, dass es noch mehr gab als seine verbissene Suche nach Antworten auf uralte Fragen.

„Interessiert es dich gar nicht, was mit uns geschehen ist?“

Efohs Gesicht schien zum Zerrbild der Vergangenheit geworden. Eine Brandwunde, groß wie eine Männerhand, hatte seine halbe Stirn versenkt und ein Loch in seinen langen Haarschopf gebrannt. Tiefe Schatten unterzeichneten seine Augen, sodass er trotz seiner sechzehn Jahre von einem Tag auf den anderen verlebt wie ein alter Mann wirkte. Aigonn konnte erkennen warum. Er hatte seinen Bruder ein einziges Mal weinen sehen, doch diese Trauer hatte noch Tage danach Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Er traute sich kaum zu fragen, um wen es sich zu weinen lohnte. Er spürte, was geschehen war. Und auf einmal kam er sich wie ein schäbiger Feigling vor, dass er nicht doch in die Siedlung gerannt war, um den letzten Rest seiner Familie zu verteidigen.

„Efoh …“ Mehr brachte er nicht heraus. Die Anklage in den Augen seines Bruders war unverkennbar. Vielleicht war er zu weit gegangen, vielleicht hätte Efoh in diesem Moment Verständnis für seine Lage aufbringen können, wenn er ihn eingeweiht hätte. Warum auch immer er es nicht getan hatte.

„Oh ja, … ich bin es.“ Der Zynismus schien Aigonn wie ein Messer in die Haut zu schneiden. Er hatte ihm den Mut aus der Stimme genommen, als er seinem Bruder zuraunte: „Ich … hatte, um ehrlich zu sein, … nicht geglaubt, dass du noch am Leben bist.“

Efoh lächelte kalt. „Glaub mir, ich bin so lebendig, dass ich mir mit jedem Herzschlag auf die Füße kotzen könnte. Aber was würde das bringen?“

Aigonn konnte nur im Stillen mitlächeln, bevor der Moment verflog und Efoh mit kräftigerer Stimme erzählte: „Mutter ist fort. Ich kann dir nicht sagen, ob diese Kerle sie umgebracht haben, aber ich habe sie nicht finden können, sonst säße ich jetzt nicht hier.“

„Du hast versucht zu fliehen?“

Nun musste Efoh wirklich lachen, doch es lag keine Freude darin. „Hast du mich wirklich für einen solchen Helden gehalten, der bis zum letzten Moment eine aussichtslose Sache verteidigt? Nein, das bin ich nicht. Ich fürchte nur, die Götter hätten es lieber anders gesehen und haben mich nun dazu gezwungen, den Standhaften zu spielen.“

Aigonn schmunzelte schwach, legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter – auch wenn er nicht wusste, was er ihm mit dieser Geste geben konnte. Er ließ den Augenblick verklingen, bevor er fragte: „Was glaubt ihr, haben sie mit uns vor?“

„Wenn wir das wüssten!“ Bral spuckte einen Flecken Speichel auf die Erde. „Der einzige, mit dem sie verhandeln, ist Behlenos. Wir sind alle nicht klüger als du.“

„Aber du vielleicht klüger als wir.“ Dieser Einwurf war von Efoh gekommen. Das gefährliche Funkeln in den Augen seines Bruders erschreckte Aigonn beinahe, so wenig wollte es zu dem Efoh passen, den er im Geiste vor Augen hatte. Dieser eine Tag hatte seinen Bruder verändert, ob es ihm passen wollte oder nicht. Jetzt musste er damit leben. Er wusste genau, worauf Efoh anspielte, und dem war sich dieser vollkommen bewusst.

„Du warst nicht in der Siedlung, als die Eichenleute uns überfallen haben“, stichelte er nun weiter, „und Lhenia ebenfalls nicht. Ich fürchte fast, Rowilan hatte Recht mit seinem Gedanken, dir eine Wache zur Aufsicht zuzuweisen. Möchtest du uns nicht allmählich verraten, was ihr beiden zu schaffen habt?“

„Willst du damit sagen, dass ich euch verraten habe?“ Die Unterstellung entrüstete Aigonn – noch viel mehr, dass plötzlich sein eigener Bruder zum Ankläger geworden war. Doch er hatte Efoh und seine Absichten verkannt. Ohne sich von der Anschuldigung seines Bruders beeindrucken zu lassen, erläuterte dieser – in einer seligen Ruhe, als würden sie einen Streit zwischen Kindern schlichten: „So viel nicht, nein. Das traue ich dir nicht zu. Aber es schließt nicht aus, dass du im Geheimen doch gegen uns arbeitest. Nicht gegen alle, nein. Nur gegen manche von uns, die du in deiner Verbissenheit für Wahnsinnige hältst!“

In Aigonns Augen war Efoh nicht wiederzuerkennen. Seine Miene sprach eine unverkennbare Sprache, ganz gleich, ob es Aigonn schlüssig wurde, was seinen Bruder dazu bewegte, ihn und seine Absichten nun vor anderen ihres Stammes so bloß zu legen.

Das Schicksal aber ersparte ihm die Antwort. Keiner der kaum zwanzig Bärenjäger hatte recht auf die Wachen vor dem Eingang der Höhle geachtet, die in einiger Entfernung ihre Gefangenen im Auge behalten hatten. Nun aber war ein fremder Mann hinzugekommen und ließ sich von vier weiteren Kriegern Eintritt zu der Höhle verschaffen.

Das Schaben eines der Baumstämme über den Erdboden unterbrach jäh die Auseinandersetzung unter den Bärenjägern. Ihnen blieb kaum genug Zeit, um die Lage abzuschätzen, bevor bereits der fremde Mann vor die anderen Krieger trat, auf Aigonn zeigte und ihm zurief: „Du! Komm her!“

Im ersten Moment war Aigonn zu überrumpelt, um zu reagieren. Als der Eichenmann dann aber seine Aufforderung in schärferem Ton wiederholte, trat er zögernd an die kleine Öffnung, die nun zwischen dem Gitter aus Ästen und Baumstämmen entstanden war.

Auf einmal, ohne weitere Ansagen zu geben, packte man ihn am Arm und zerrte ihn aus der Lücke heraus, so schnell er sich hindurch zwängen konnte. Der Moment überraschender Freiheit währte jedoch nur wenige Atemzüge, bevor man seine Hände packte und diese hinter dem Rücken so sorgfältig mit Stricken fesselte, dass es ihm fast das Blut abschnürte. Gleichzeitig legte man ihm lockere Fußfesseln an, breit genug, um zu laufen, jedoch nicht, um davonzurennen. Zu guter Letzt, was Aigonn vielmehr überraschte, malte der scheinbare Anführer der Männer ihm einen Strich mit Ocker auf die Stirn – so schnell, als trüge Aigonn Gift an sich – und schlug danach auf seiner Brust ein Schutzzeichen.

Irritiert blickte Aigonn die fremden Männer an. Doch ohne ihm große Erklärungen zu liefern, zerrte einer der Krieger an seinen Fesseln und trieb ihn damit zum Laufen. Die restlichen Männer kreisten ihn ein, als ob sie seine Leibwache bildeten. Nach einer gewissen Zeit aber fragte Aigonn sich, wer in diesem Moment eigentlich vor wem in Schutz genommen werden sollte.

Auf diese Weise durchquerten sie das Heerlager, wie Aigonn nun erkennen konnte, das unweit einer größeren Siedlung gelegen war. Eine niedrige, baumbewachsene Talseite bot dem Domizil von der einen Seite her Schutz, während auf der anderen die Rur wie ein rauschender Grenzwall keinen Feind in Treffweite von Wurfgeschossen heranließ. Wälle mit Palisaden und Pfostenschlitzmauern machten die Ansammlung von Häusern zu einer Festung, die Behlenos wohl niemals hätte einnehmen können.

Aigonn war noch nie zuvor im Machtzentrum des Eichenfürsten gewesen, und er konnte nicht leugnen, dass er beeindruckt war. Die Siedlung der Eichenleute, die er und Anation – kurz nachdem er sie am Grab der Götter gefunden hatte – auf ihrer Rückkehr versehentlicher Weise entdeckt hatten, kam ihm wieder in den Sinn und war begleitet von einem Schuldgefühl, das auf einmal so nicht gekannte Größe erlangte.

Von dort waren die Späher gekommen, sicherlich. Ansonsten hätten die Eichenleute niemals einen so perfekten Angriff landen können. Es war Aigonn schleierhaft, warum außer ihm niemand sonst die Siedlung entdeckt hatte. Doch in diesem Moment war es für solche Spekulationen ohnehin zu spät.

Mit dem Eindruck schwanden gleichzeitig alle letzten Hoffnungen. Anation hatte man hierher verschleppt. Wäre die Siedlung von den Ausmaßen seiner Heimat gewesen, hätte eine Flucht noch im Bereich des Möglichen gelegen. Doch diese Barrieren mit ihren Wachen zu überwinden, schien Aigonn beinahe undenkbar.

Man führte ihn durch das wohl bewachte Haupttor bis tief in die Siedlung hinein. Die einzelnen Ställe und Lehmhäuser unterschieden sich in nichts von denen der Bärenjäger, sondern schienen lediglich mit dem Symbol eines Eichenblattes gebrandmarkt, das auf einmal wie eine Barriere zwischen die beiden Stämme getreten war.

Aigonns Weg endete auf dem großen Marktplatz, dessen Zentrum eine uralte, gewaltige Eiche dominierte. Der gesamte Ort war von allen Seiten mit Fackeln und Feuern erhellt. Eine Menschenmenge, als gelte es ein Gericht zu versammeln, umringte den Ort und öffnete wie von allein eine Gasse für den Eichenmann, der mit seinem Gefangenen vortrat.

Als er endlich das Innere des Platzes einsehen konnte, wurde Aigonn erschreckend deutlich bewusst, wie richtig er mit seiner Vermutung gelegen hatte. Sie befanden sich auf einer Gerichtsversammlung – nicht an den heiligen Orten, wie es üblich war, wenn sich alle Siedlungsangehörigen eines Stammes versammelten, sondern stattdessen direkt auf dem Marktplatz im Zentrum allen Geschehens.

Unweit der Eiche hatte man den ersten Angeklagten postiert. Behlenos wirkte trotz der gut und gern sieben Krieger, die ihn umringten, seine Fesseln hielten und mit gezogenen Lanzen jeglichen Fluchtversuch zum Scheitern verurteilten, weniger mitgenommen, als Aigonn vermutet hatte. Dafür aber hatte der Zorn ihm die Röte ins Gesicht gemalt, dass es fast ungesund wirkte. Die Schnitt- und Platzwunden der Schlacht schienen nebensächlich geworden, während er finster zu Aigonn herübersah und wohl längst nicht aller Wut, die in ihm tobte, freien Lauf lassen konnte. Diplomatische Beschlüsse würde Behlenos an diesem Tag nicht mehr veranlassen können, dies stellte Aigonn in einem Anflug von Selbstironie fest. Der leise Funken Humor aber verflog ebenso schnell, während er eine Gestalt erkannte, die man direkt an den Stamm der Eiche gebunden hatte.

Anation hing an dem Baum, als würde sie schlafen. Ihre Arme hatte man nach oben ausgestreckt an metallene Ösen gebunden, die dort in den Baum getrieben waren, und ihre Füße auf dieselbe Weise fixiert. Sogar Nacken und Taille hatte man mit Stricken gegen den Baum gepresst und dort mit Nägeln befestigt, sodass sie hing wie ein Stück Vieh, das es nun auszuweiden galt.

Die Wut, die Aigonn plötzlich bei diesem Anblick überkam, war unbeschreiblich. Für einen Atemzug überkam ihn der Drang, wie ein Wahnsinniger um sich zu schlagen, sich mit allem zu wehren, das ihm zur Verfügung stand. Doch ebenso schnell fand er die Einsicht, dass er damit weder seine noch Anations Lage merklich aufbessern würde.

Stattdessen nahm er es hin und beäugte sie nur mit einem entsetzten Blick, wobei ihm bei näherem Hinsehen derselbe rote Ocker in ihrem Gesicht und an ihren Händen auffiel, mit dem man auch ihn bemalt hatte.

Fürchten sie uns und unsere Fähigkeiten? Dieser Gedanke beschwor ein grimmiges Lächeln auf seinen Lippen. Die Unwissenheit eines Feindes war auch eine gewisse Macht, die man nutzen konnte; eine Waffe, die in solchen Situationen zur Entfaltung ungeheurer Wirkung in der Lage war. Doch im Moment waren derartige Möglichkeiten für Aigonn zu fern, um sie zu nutzen. Er war nicht in der Lage, seine Fähigkeiten und das Wissen der Eichenleute abzuschätzen, um ein glaubhaftes Szenario zu inszenieren. Und insgeheim war er sich fast sicher, dass auch ein fremder Schamane sein Spiel schnell enttarnen würde.

Man führte Aigonn somit unbehelligt bis zur Wurzel der Eiche ins Zentrum des Geschehens, sodass er Anation auf einmal so nahe war, dass er mit einiger Konzentration ihren bebenden Atem hörte.

Noch immer hatte sie die Augen geschlossen. Ihre Lider zuckten, als hätte sie sich in einen rituellen Rausch versetzt. Aigonn deutete es als ihre eigene Art, die Umstände zu beherrschen und durchzustehen – auch wenn er insgeheim hoffte, dass sie zu Dingen fähig sein würde, die keiner der Anwesenden erahnen konnte.

Jedoch vereinnahmten bald ganz andere Menschen seine Aufmerksamkeit. Die Fesseln an seinen Handgelenken wurden gelöst, nur um sie danach durch zwei stärkere Hanfstricke zu ersetzen, mit welchen man ihn zwischen zwei in den Boden gerammten Pfählen fesselte. Danach nahmen die Eichenkrieger Abstand, beobachteten ihn aus einiger Entfernung, während sich ein Mann gelassen aus der Menge löste.

Schon von weitem war ersichtlich, dass es sich um eine Person von Einfluss handelte. Goldschmuck und ein schwerer Torques, ein Halsring, desselben Metalls waren gut sichtbare Würdezeichen, die von der besonderen Feinheit und reichen Verzierung seines langen Mantels noch einmal unterzeichnet wurden. Kaum eine Schramme verriet, dass dieser Mann an der Schlacht jenes Tages teilgenommen hatte. Jedoch war Aigonn überzeugt davon, dass er unmöglich diesen Triumphzug seines Volkes versäumt hatte.

Als wäre er zu einer Feierlichkeit geladen, schritt der Mann auf den freien Platz vor die Eiche und musterte Aigonn einen Moment lang abschätzig, fast belustigt. Das schwere, reichverzierte Schwert an seiner rechten Seite schätzte Aigonn als eine Waffe ein, die vor allen Dingen einem repräsentativen Zweck diente – und er war froh darüber. Sollte doch das Unmögliche Wirklichkeit werden und sich ihm eine Chance eröffnen, von diesem Gericht zu fliehen, würde sein Richter ihm im Kampf Schwert gegen Schwert benachteiligt sein. Doch ein Schwert musste Aigonn erst einmal erreichen können.

Ihm blieb keine Zeit mehr, sich über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen. Jener einflussreiche Mann hatte seine Musterung beendet und meldete sich lächelnd zu Wort: „So, so. Du bist der besagte Geisterbeschwörer, den selbst sein eigener Fürst genügend fürchtet, um ihn unter Bewachung zu stellen.“

Aigonn traute seinen Ohren nicht.

„Du bist überrascht?“ Der Mann lachte selbstgefällig. „Nun, ich weiß mehr, als du glaubst. Immerhin zähle ich mich zu den Menschen, die all ihre Kriege angemessen planen, bevor sie sich ins wilde Schlachtengetümmel stürzen.“

Dieser Stich ging an Behlenos und er traf. Der Fürst der Bärenjäger gab einen unverständlichen Grunzlaut von sich, der seine Missachtung preisgab. Dann spuckte er aus: „Du solltest dich nicht zu früh freuen!“ Weiter kam er jedoch nicht. Ein Schlag in seinen Rücken brachte den Fürsten jäh zum Verstummen.

Der Eichenmann für seinen Teil überging die Unterbrechung ohne ein Anzeichen des Wahrnehmens und erkundete stattdessen Aigonns Miene. „Weißt du, wer ich bin, Aigonn?“

„Nein.“ Es war die pure Wahrheit, und Aigonn schämte sich ihrer nicht im Geringsten. Zwar war ihm bewusst, dass der Mann, der in diesem Moment mit ihm sprach, zu den Menschen gehörte, die man besser beim Namen kannte. Doch er wusste es nicht. Und im Grunde war es ihm vollkommen egal.

„Du enttäuschst mich. Ich hatte erwartet, dass du dich mehr mit den Dingen auseinander setzt, die in deiner Umgebung geschehen.“

„Ach ja?“

„Ja. Man nennt mich Khomal. Ich bin der Herr von all dem, das du hier siehst.“

Der Eichenfürst, schoss es Aigonn durch den Kopf. Er hätte es ahnen können.

Als endlich Erkennen in seinen Augen aufblitzte, lächelte Khomal zufrieden und trat ein Stück näher an seinen Gefangenen heran. Dieser aber wurde die Spielchen allmählich leid: „Dürfte ich erfahren, was mir vorgeworfen wird?“

„Oh …“ Khomal lachte. „Noch ein Angeklagter, der sein eigenes Vergehen nicht kennt. Es scheint ein erheiternder Abend zu werden.“

Auf einmal verschwand jegliches Lächeln aus dem Gesicht des Eichenfürsten. Eisige Kälte trat in seine Augen, während er Aigonn immer näher kam – ganz so, als galt es kein Urteil mehr zu fällen, sondern nur noch vor aller Augen zu vollstrecken.

„Sechs junge Leute aus unseren Reihen, zwei Mädchen und vier Männer, die kaum das Alter der Erwachsenen erreicht hatten, sind eurem dämonischen Zauber zum Opfer gefallen. Ich weiß nicht, zu was du, dein Schamane und alle …“ Sein Blick glitt zu Anation. „… anderen Wesen, derer Macht ihr euch bedient, in der Lage seid. Aber ich unterschätze euch nicht, wenn ich sage, dass ich noch niemals mit einem solchen Wahnsinn konfrontiert gewesen bin wie der, mit dem ihr unsere Kinder in den Tod getrieben habt.“

„Warum glaubt ihr so verbissen, dass es ein Bärenjäger gewesen ist?“ Aigonn kämpfte mit seiner Gelassenheit. Er spürte, dass er sich in diesem Moment auf eine Auseinandersetzung einließ, die er nicht gewinnen konnte. Doch er wagte es trotzdem. „Genauso gut kann es einer eurer Leute gewesen sein. Ihr wisst es doch ebenso wenig wie wir!“

„Jetzt lügst du, junger Mann.“ Junger Mann. Von nahem schien Khomal noch jünger zu sein als Behlenos, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Doch alles an ihm, sein Auftreten, seine Wortwahl schienen von Jahrzehnten der Lebenserfahrung zu zeugen.

Drohend fügte der Eichenfürst seinen Worten hinzu: „Ich weiß von deiner Schwester. Geschichten verbreiten sich schnell, vor allem, wenn man ihnen so viel Zeit lässt, wie seit ihrem Tod zurückliegt. Es ist tragisch, ich weiß. Aber ebenso sehr weißt du, wer an all diesen sinnlosen Toten die Schuld trägt!“

Khomal war so nah an Aigonn herangetreten, dass Letzterer nach dem Fürsten hätte greifen können, wenn man ihm nicht die Hände gefesselt hätte. Deshalb flüsterte er nur, als er fragte: „Was wollt Ihr von mir?“

„Die Wahrheit!“

Plötzlich schoss der Fürst herum. Er hatte die Arme ausgebreitet, als wollte er den Zorn der Götter beschwören, und für einen Moment hätte Aigonn dem auch geglaubt. Voller Inbrunst schrie Khomal über den Platz: „DIE ZEIT IST VORBEI, IN DER IHR EUCH HINTER EUREN LÜGEN VERSTECKEN KONNTET! Euer Fürst behauptet noch immer so eisern, wie jeher, dass er nichts von all dem weiß, obwohl hinter euren Palisaden der letzte dieser sechs Toten selbst verbrannt wurde. Wer von euch nicht getötet wurde, befindet sich in und um diese Siedlung. Sie wird also hier sein, die Person, die ich will.“

Er war wieder an Aigonn herangetreten. Der Atem des Eichenfürsten streifte sein Gesicht wie ein Windhauch, als dieser ausstieß: „Und du bist der, der weiß, von wem ich spreche.“

„Ihr konntet Rowilan nicht gefangen nehmen.“

„Nein.“ Auf einmal begann Khomal zu lächeln. Dieses plötzliche Gefühl von Erfolg und Genugtuung wurde so eindringlich, dass Aigonn nicht anders konnte, als sich mitreißen zu lassen.

„Wir jagen denselben Feind, Aigonn. Du scheinst ein Mann zu sein, der viel mehr sein könnte, wenn man ihn lassen würde. Ich glaube, wir würden uns besser verstehen, als du jetzt noch denkst.“

Aigonn lachte trocken. Er wusste nicht warum, doch Khomal ließ sich davon nicht beeindrucken. „Wenn es dir gelingt, ihn hierher zu schaffen, schenke ich dir das Leben deiner Leute. Aller. Nur Behlenos vielleicht nicht; um ihn gedenke ich mich zu kümmern. Aber ich glaube, das Angebot ist auch ohne ihn ansprechend genug?“

Aigonn konnte die Gefühle nicht beschreiben, die in ihm zusammenprallten. Eine Stimme aus seinem Innersten schrie, schrie um seiner Ehre willen, der Sache, der er sich seit seiner Jugend immer hatte versprechen wollen, all der großen Ideale. Doch sie erstickte in einer schwarzen Euphorie, die keinen Namen hatte. Nie war es ihm leichter gemacht worden. Er würde die Gerechtigkeit bekommen, die Derona und seiner Familie schon so lange verwehrt worden war, die anderen retten können, sich endlich nicht mehr verstecken müssen.

Doch plötzlich bremste er sich. Er blickte zu Anation, als er sagte: „Sie! Ich will auch sie.“

Auf einmal gerieten die Menschen am Rande der Menge in Bewegung. Als würde man ihn in diesem Moment zu Tode schlagen, brüllte Behlenos aus all seiner unterdrückten Wut: „VERRÄTER! MISSGEBURT, DIE ICH ZEIT MEINES LEBENS BESCHÜTZT HABE! DIE GÖTTER MÖGEN DICH VERFLUCHEN, VERDAMMEN …“

Dann gelang es den Eichenkriegern, ihm einen solchen Schlag zu versetzen, dass sein Zornesausbruch ein jähes Ende fand. Khomal schenkte dem verfeindeten Fürsten ein mildes Lächeln, bevor er sich wieder Aigonn zuwandte und diesmal ernster anbot: „Darüber sollten wir sprechen, wenn du in die Reihen unserer Schamanen aufgenommen wurdest. Es sollte noch nicht deine Sorge sein.“

Aigonn nickte nur. Es war das erste Mal, seit Khomals Angebot gefallen war, dass er echte Zweifel an diesem Spiel hegte. Die Genugtuung in seinem Innersten aber schob sie beiseite.

Anation selbst war seit dem Beginn dieser Verhandlung noch kein einziges Mal aus ihrer Trance erwacht. Lediglich dann, als Khomal ihm den Rücken zuwandte und ein Stück weiter auf den Platz hinausging, flackerten ihre Lider und ihr Kopf drehte sich, als wüsste sie ganz genau, dass sich Aigonn in ihrer Nähe befand.

Kaum hörbar raunte sie: „Ich bin zurück.“ Eine Windböe verschluckte ihre nächsten Worte, doch dann verstand Aigonn wieder: „… hierher. Ich weiß es. Alles liegt hier verborgen.“

„Anation!“, flüsterte er. Doch ihm blieb keine Zeit mehr, um auf eine Antwort zu warten. Zwei Krieger lösten die Fesseln an seinen Handgelenken, um sie eine kurze Zeit später wieder hinter seinem Rücken zu verschnüren. Von derselben Eskorte geleitet, die ihn bereits auf den Marktplatz gebracht hatte, verließ Aigonn nun wieder diesen Ort. Als er noch einmal einen Blick auf Khomal erhaschte, sah er in eine hochzufriedene Miene, mit welcher der Fürst seinem Gefangenen zurief: „Ich freue mich.“ Und Aigonn konnte es verstehen. Sein Plan war aufgegangen. Im Augenwinkel noch schien es, als verwandelte sich im Feuerschein das befriedigte Antlitz in eine dämonische Fratze, die die Natur des soeben besiegelten Geschäftes widerzuspiegeln schien. Aber die Zweifel, die ihn diesmal mit noch größerer Stärke überkamen, blieben wieder ohne Erfolg. Er wollte nicht daran hadern, was sich ihm nun eröffnet hatte – nicht jetzt.

Der Rückweg schien schneller hinter sich gebracht, als Aigonn den Hinweg in Erinnerung hatte. Das Zwielicht außerhalb der Siedlung beschwor zuerst bunte Flecken vor seinen Augen, bis er sich an die stärker werdende Dunkelheit gewöhnte und die Gesichter der Eichenkrieger erkennen konnte, die wie ein Heer von Insekten mit ihren Zelten die gesamten Wiesen um die Siedlung belagerten – so weit, wie er bei dieser Dunkelheit sehen konnte.

Es musste auf Mitternacht zugehen, doch Aigonn konnte sich auch täuschen. Er vermochte nicht genau einzuordnen, wo in der Landschaft die Eichenleute ihr Domizil errichtet hatten, sodass er keinen markanten Punkt finden konnte, den er kannte und von dem er wusste, zu welcher Zeit der Mond sich zu ihm hin und von ihm wegbewegte.

Doch es spielte keine Rolle. In seinem Kopf tobten die Gedanken und Emotionen, dass ihm die Schläfen schmerzten. Es kostete ihn beinahe rohe Gewalt, sie wie unwichtige Erinnerungen beiseite zu schieben und sich darauf zu konzentrieren, was er wirklich wollte. Immerhin hatte er ein Ziel vor Augen, einen Erfolg, der in greifbare Nähe gerückt war. Wenn er Rowilan finden und überwältigen konnte, würde er alle retten, die noch am Leben waren. Insgeheim aber fragte er sich, was mit ihnen geschehen würde, wenn nicht.

Allmählich näherte er sich der Höhle, die – wie er nun erkennen konnte – von Sträuchern und Büschen gut abgeschirmt direkt aus der Felswand herausragte. Die ersten Stimmen seiner Leidensgenossen waren zu hören. Was sollte er ihnen erzählen, wenn er sich wieder unter ihnen befand? Der Schmerz darüber, dass Efoh sich auf einmal gegen ihn gewandt hatte, flammte erneut in ihm auf und schürte seine Wut, die der Zustimmung zu Khomals Angebot voll und ganz Recht gab.

Kurz bevor seine Eskorte den kleinen Anstieg zur Höhle erreicht hatte, fielen auf einmal Steine die Felswand hinab. Einer der Eichenkrieger blickte ruckartig auf, doch trotz der Fackel, die er mit sich genommen hatte, war nichts zu erkennen, das Gefahr bedeutete.

Zögerlich setzten sie ihren Weg fort. Als weiteres Rascheln und lose Steine in die Dunkelheit schallten, löste sich einer der Männer aus dem Zug, trat näher an die bewachsene Steilwand heran und nahm die Fackel, welche den Kriegern bisher Licht gespendet hatte, an sich, um ein Stück in die Schwärze zu leuchten.

Plötzlich kippte der Mann nach hinten wie ein gefällter Baum. Der kleine Fels, groß wie ein Kopf, hatte nur einmal seine Stirn treffen müssen, bevor er dumpf neben dem Krieger auf dem Boden aufschlug. Dessen Gefährten blieb zum Handeln kaum Zeit mehr.

Wie ein Geist, ein Dämon, sprang eine Gestalt aus einer Nische in der Felswand. Ohne größer auf Aigonn zu achten, rissen die Eichenkrieger ihre Schwerter aus den Scheiden, stürmten vor, der Fremde aber war schneller. Sein eigenes Schwert fällte den ersten Angreifer, den zweiten stieß er beiseite, dann sprintete er vor, direkt auf Aigonn zu.

Dieser wusste nicht, ob er versuchen sollte, die Flucht zu ergreifen oder der schwarzen Gestalt ein wenig Vertrauen zu schenken. Als die Klinge seine Fußfesseln durchtrennte, ersparte man ihm jegliche Entscheidung. Der Fremde, dessen Kleidung, Gesicht und Haut beinahe vollkommen mit Schlamm eingerieben waren, packte ihn an den noch immer gefesselten Armen und riss ihn mit sich, als würde der kommende Morgen auf dem Spiel stehen.

Aigonn hatte gerade den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, als eine Lanze eine Hand breit neben seinem Kopf vorbeiflog und sirrend im Boden stecken blieb. Der Luftzug blieb wie eine Erinnerung zurück und gab Aigonn zu verstehen, dass er sich auf einmal nicht mehr in der Position des kooperierenden Verhandelnden befand.

Dieser Gedanke hätte ihn beinahe veranlasst, sich gegen den Fremden zu wehren, aber ihm blieb keine Zeit für wirkungsvollen Widerstand. Mehr und mehr Lanzen schossen auf sie zu. Aigonn und der Mann rannten wie besessen in die Dunkelheit. Ersterer konnte nicht sagen wohin, musste ein Stück Vertrauen haben, auch wenn er nicht wusste, ob dies im Moment angebracht war.

Auf einmal streifte er niedrig hängende Äste, dann tat sich Dickicht vor ihnen auf. Ohne Rücksicht auf Verluste stürmten sie in den Wald hinein, während im Lager das halbe Heer zur Hilfe gerufen worden schien. Speere, Lanzen, selbst Jagdpfeile sirrten durch die Dunkelheit und wurden zu tödlichen Fallen, die Aigonn schmerzhaft zu spüren bekam.

Beinahe wäre er gestolpert, als sich ein Pfeil in seine Schulter bohrte – nicht tief. Doch der Schmerz explodierte in seinem Fleisch, die Kraft des Momentes verklang, und brachte auch die Schwäche und pochenden Qualen der vergangenen Tage zurück, die ihm schlagartig die Luft aus den Lungen sogen.

Doch ihm blieb keine Zeit, das wusste er. Der Fremde hatte innegehalten, zerschnitt nun auch Aigonns letzte Fesseln und versuchte, diesen auf die Beine zu ziehen. Aber eben diese versagten augenblicklich.

„Komm, Aigonn, bitte! Es ist nur noch ein kleines Stück, wir müssen hier weg!“

Eine Luftblase schien sich in seinen Ohren gebildet zu haben. Die Wirklichkeit sickerte nur dumpf und undeutlich hindurch, sodass Aigonn einen Moment brauchte, um zu begreifen, was sein Geist längst registriert hatte. Die Schmerzen waren vergessen. Aigonn schreckte hoch, spürte den Schwindel wie Nebelschleier vor seinen Augen, bevor er in der Schwärze ganz undeutlich die Silhouette des Mannes erkannte.

Er wollte nicht glauben, was er soeben vernommen hatte. Mit erschreckender Vertrautheit hallten die Worte, die Stimme des vermeintlichen Fremden in seinen Ohren wider – und im Grunde war es vollkommen logisch, auch wenn Aigonn selbst es nicht glauben wollte.

„Rowilan?“

„Ja“, antwortete dieser drängend. „Ich bin es. Aber wir müssen hier …“

Ein Schrei, erschreckend nah, machte Reden unnötig. Der Schamane packte Aigonn, ohne auf Proteste, Schmerzen und wackelige Beine zu achten, und riss ihn mit sich, so schnell dieser vorankam. Die Welt aber drehte sich vor Aigonns Augen. Unzählige Männer setzten ihnen nach, Stimmen wurden lauter, kamen immer näher. Die Lanzen schossen unheilbringend überall um die beiden Bärenjäger in den Boden, doch als ob der Herr Des Waldes selbst sie schützen würde, fand keine der Waffen ihr Ziel.

Endlich, wie aus dem Nichts, wehte Aigonn der Geruch eines Pferdes entgegen. Das kleine, aber kräftige Tier war nur mit einem lockeren Knoten an einen Baum gebunden, den Rowilan blind löste, darauf seinem Gefährten beim Aufsteigen nachhalf und bereits im Trab selber aufsaß.

Wie durch Magie hatte sich vor ihnen ein dünner Pfad aufgetan, den das Pferd im Galopp entlang sprengte, nur von Instinkten geleitet. Würde eine Wurzel oder ein großer Stein unglücklich liegen, wäre ihre Flucht in kürzester Zeit vereitelt. Doch Aigonn wollte nicht daran denken, auch nicht an die Frage, wie Rowilan diesen Ort in völliger Dunkelheit gefunden hatte.

Stattdessen lauschte er seinem bebenden Atem, dem Pochen seines Herzens und fühlte wie versteinert den erwachenden Sturm seiner Gefühle. Der Mann, derjenige, welcher der Schlüssel zur Freiheit seines Stammes und Aigonns Rache war, hatte ihn befreit und saß in diesem Moment direkt hinter ihm.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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